Hinter dem Meer

Ein Dokumentarfilm der FES zeigt die Situation von vier Algerier_innen, die in ihre Heimat zurückkehrten. Die Regisseurin Leïla Saadna im Interview.

FES: Wie sind Sie mit der FES Algerien in Berührung gekommen?

Saadna: Über deren feministische Aktivitäten in Algier. Außerdem hatte man mich 2016 eingeladen, im Rahmen des algerischen Netzwerks junger Engagierter „RAJE 2016“ eine Filmvorführung meiner Wahl mit anschließender Diskussion zu moderieren. Ich kannte die FES aus Berlin, wo ich schon ein Training zu systemischem Rassismus, Weißsein und struktureller Diskriminierung in Zusammenarbeit mit dem Verein ReachOut moderiert hatte.


Erzählen Sie uns von Ihrem Filmprojekt!

Der erste Entwurf, den ich im Juni 2016 an die FES geschickt hatte, entsprach nicht ganz der Projektausschreibung. Ich dachte, es gibt bereits genügend Filme über die Gründe, warum Algerier_innen nach Europa auswandern wollen. Oft ist es der Wunsch nach einer besseren Zukunft, zumal die algerische Gesellschaft von vielen als erdrückend empfunden wird. Da ich aber den Großteil meines Lebens in Frankreich und einige Jahre auch in Deutschland verbracht habe, wusste ich, dass Exil und Aus- oder Einwanderung oft mit Leid, Erniedrigung und Ausgrenzung verbunden sind. Da denke ich beispielsweise an meine Haraga-Freund_innen (illegal eingewanderte Personen), die ohne Papiere in Paris oder Berlin leben. Oder ich denke an die Generation meines Vaters, an die Gastarbeiter und deren Kinder, die in Gesellschaften, in denen  Rassismus und Hoggra (Ungerechtigkeit) seit Jahrzehnten vielerlei Formen annehmen, ständig auf der Suche nach Anerkennung sind. Diese praktischen Migrationserfahrungen wollte ich also aus Sicht derjenigen unter die Lupe nehmen, die schon in Europa gelebt haben und die – freiwillig oder unfreiwillig – nach Algerien zurückgekehrt sind. Ich wollte nicht nur herausfinden, warum sie weg, sondern auch, warum sie wieder zurückgegangen sind – sofern die Rückkehr freiwillig erfolgte. Welches Bild hatten sie von Europa vor und nach ihrem Leben dort, was haben sie erlebt, welche schwierigen Umstände in den Abschiebezentren mussten sie erdulden und wie und warum waren sie – manchmal nach langen Jahren – nach Algerien zurückgekehrt? So wollte ich etwas über Algerien und seine komplexe Gesellschaft erzählen, aber gleichzeitig auch über Europa, indem ich von meiner Position aus frage, was dort geschieht, wie sich das Asylrecht und die extrem mühsamen, repressiven Visaverfahren auf das Leben der Algerier_innen auswirken, die dort leben möchten.

Im Film geht es um vier Hauptpersonen, die an unterschiedlichen Orten in Algerien leben. Sie waren aus diversen Gründen in verschiedene Länder Europas gegangen, aber allen ist gemeinsam, dass sie nach mehr oder weniger langer Zeit über kurz oder lang nach Algerien zurückgekehrt sind. Anhand dieser Personen beleuchte ich mehrere Situationen: die der Haraga (illegal einwanderte Personen) von heute und von früher, die nach mehreren Jahren zurückgeschickt wurden. Die eines jungen Homosexuellen, der in Frankreich Asyl bekommen hatte, der das Leben dort aber nicht aushielt und lieber illegal nach Algerien zurückkehrte. Dann schien mir wichtig, auch jemanden zu porträtieren, der zum Studium nach Frankreich gegangen war, aber trotz eines Langzeitvisums mit der ganzen Härte der französischen Verwaltung konfrontiert war. Die Sängerin Nadia Ammour, als fünfte Person, untermalt die Porträts der vier anderen gesanglich mit kabylischer Exilpoesie. Diese Aufnahmen sind in den Bergen bei Yakouren entstanden, von wo aus man an klaren Tagen in der Ferne das Meer sehen kann.

Bei der Filmmontage mit Amir Bensaïfi zwang uns das Format Kurzfilm, die Interviews stückchenweise zu bearbeiten und so einzelne bedeutende Stationen der Protagonisten poetisch und fragmentarisch herauszuarbeiten.

 

Welche wichtige Botschaft möchten Sie dem europäischen und auch dem algerischen Publikum vermitteln?

Als ich mit den Arbeiten zu diesem Film begann, sorgte in Deutschland die Flüchtlingssituation für kontroverse Debatten, und die Regierung Merkel hatte Algerien, Marokko und Tunesien gerade zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Diese Unterscheidung zwischen den Flüchtlingen – auch z. B. mit der Kategorie „Wirtschaftsflüchtling“ – berücksichtigt in keiner Weise die neokoloniale Politik, die die Nord-Süd-Beziehungen bestimmt, und stellt sogar deren zynische Verlängerung dar. Das hat oft dramatische Auswirkungen auf das Leben der Asylbewerber_innen und der vielen Algerier_innen, die sich einfach nur ebenso frei bewegen möchten, wie man es mit einem europäischen Pass kann. Jenseits des humanistisch gefärbten internationalen Diskurses haben sich die Lebensbedingungen von Asylbewerber_innen in Deutschland seit den 90er-Jahren kaum verändert. Der letzte Protagonist in meinem Film beschreibt, wie sich dort eine Art Parallelgesellschaft entwickelt hat. Mit diesem Film wollte ich also komplexe Lebensrealitäten zeigen, die in keine Schublade passen, und Personen, die in diesen abgeschotteten, erniedrigenden Systemen nach Würde und Freiheit suchen. Hinter der Kamera sagte einer der Darsteller_innen: „Wir leben in einer Welt, in der Waren leichter reisen können als Menschen – vor allem, wenn sie aus Afrika stammen“. Was ich also vermitteln möchte, ist eine dekoloniale Botschaft: Die vom Westen vorgegebenen Kräfteverhältnisse müssen infrage gestellt werden, es sind Reparationen fällig, die mit einer bedingungslosen Öffnung der Grenzen beginnen, damit jeder in den Genuss der Freizügigkeit kommen und sich in die Gesellschaft einbringen kann, in der er oder sie leben möchte.

 

Wie ist Ihr persönlicher Bezug zur Thematik dieses Films?

Das Thema Migration und Rückkehr kenne ich gut aus meiner eigenen Familie, da mein Vater in den 70er-Jahren Algerien verlassen hat und ich in den 80ern im Großraum Paris aufgewachsen bin. Ich weiß auch, was es für ein Kind postkolonialer Einwanderinnen und Einwanderer heißt, in einem Land wie Frankreich aufzuwachsen, das die Brutalität des Kolonialismus und dessen heutige Ausprägungen immer noch nicht anerkennt. In der jüngsten Zeit habe ich einige Jahre in Berlin gelebt, wo ich mich als Aktivistin und Filmemacherin gegen Rassismus engagiert habe. So konnte ich Interviews mit Aktivist_innen drehen, die zum Teil der Illegalenbewegung angehören, und ihre Lebensbedingungen sowie ihren Kampf gegen räumliche Beschränkung und Isolation filmen, denen Asylbewerber_innen ausgesetzt sind.

 

Welche Projekte haben Sie für die Zukunft?

Dieses Jahr produziere ich einen künstlerischen Dokumentarfilm über das, was ich „Die Kehrseite von El Ghorba (Exil)“ nenne: Wie die Frauen aus meiner Familie und allgemein aus der Region Sétif Exil, Auswanderung und damit die Abwesenheit eines nahen Verwandten, Kindes oder Ehemannes erlebt haben, während sie selbst in Algerien geblieben sind. Wie in den meisten meiner Projekte betrachte ich auch hier das Thema Migration unter verschiedenen Gesichtspunkten, die mit meiner eigenen Geschichte zu tun haben.

 

Leïla Saadnaist Dokumentarfilmerin sowie Foto- und Videokünstlerin. Seit einem Jahr lebt und arbeitet sie in Algier. Nach ihrem Studium der Bildenden Künste in Paris verlegte sie den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf engagierte, ambitionierte, künstlerisch-poetische Dokumentarfilmprojekte. In ihrer Arbeit und ihren Recherchen geht es vorrangig um postkoloniale Migrationsgeschichten, um Leben und Kampf der Opfer von Mehrfachdiskriminierung, wie Rassismus und Sexismus, sowie insbesondere um die Lage der Frau im postkolonialen Algerien wie auch in der Diaspora.

Kontakt in der FES: Antonia Tilly, Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika

 

 

Kurzfilmreihe: "Menschen in Bewegung" - Warum verlassen Menschen ihre Heimat? Welche Wege gehen sie?

Antworten auf diese Fragen bietet eine Reihe von Kurzfilmen, die FES-Auslandsbüros in Zusammenarbeit mit lokalen Firmen produziert haben. Die Filme erscheinen auf unserem Themenportal "Flucht, Migration, Integration". Gerne können Sie diese für eigene Veranstaltungen nutzen.

Bisher erschienen:

Der Weg war nie das Ziel. "Wir sind zu Migranten geworden...aber eines Tages werden wir ankommen." Kurzfilm über eine Familie aus Kuba auf der Flucht.

Zurück. Lana Mayer flüchtete in den 90er Jahren aus Kroatien nach Deutschland. Sie kehrte zurück nach Vukovar. Dieser Film erzählt ihre Geschichte.

Das Regenbogen-Center in Gaziantep. „Im Exil besteht die Chance, die Schatten der Gewalt zu überwinden“. Kurzfilm über syrische Dissidenten, die sich um traumatisierte Kinder kümmern.

Zwischen den Stühlen. "Ich möchte nicht, dass meine Kinder in Angst leben, so wie ich es tat”. Ein Kurzfilm über äthiopische Geflüchtete im Sudan.

Zwischen den Stühlen, Teil 2. Elsas Mann Yosef ist in Schweden angekommen. Seine Familie konnte er bislang nicht aus dem Sudan nachholen. Teil 2 des Kurzfilms "Zwischen den Stühlen".

Cyber-Mama - Mama in den USA, Kinder in El Salvador. Ein Kurzfilm über Kinder, die bei ihrer Großmutter aufwachsen, weil die Eltern zum Arbeiten weggezogen sind.

Asfur – syrische Flüchtlinge in der Türkei. „Asfur“ gibt Einblick in die Lebenssituation von Syrer_innen, die Hals über Kopf aus dem Kriegsgebiet Syrien fliehen mussten und nun im türkischen Hatay leben.

Jaminton und Yannia gehen weg - Vertreibung im eigenen Land. Ein Kurzfilm über eine Familie in Kolumbien, die wegen Bürgerkrieg und Gewalt im eigenen Land zu Vertriebenen wird.

Move. Drei Menschen verlassen ihre Heimat. Alle leben in Namibia. Im Kurzfilm 'Move' reflektieren sie über Migration, europäische Doppelmoral und ungleiche Machtverhältnisse.

Die Zurückgelassenen – Wenn die Männer weggehen. Ein Kurzfilm über die Herausforderungen von Frauen und Familien in Indien, deren Männer auf der Suche nach Arbeit migriert sind.

Nowhere Man – Pakistanische Geflüchtete in Südkorea kämpfen um Anerkennung.Familie A. ist aus Pakistan ins 6.000 km entfernte Südkorea geflohen – eine Geschichte auch über die südkoreanische Asylpolitik.

 

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