Die wahre Macht liege in Iran nicht beim Präsidenten, ist Saudi-Arabien überzeugt. Riads Politik der vorsichtigen Annäherung an Teheran ist daher unabhängig vom Ausgang der Wahlen – und dürfte weiter vorangetrieben werden.
Sebastian Sons
In Saudi-Arabien werden die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Iran mit einer Mischung aus Anspannung und Gleichgültigkeit erwartet. Die Islamische Republik hat sich seit der Revolution 1979 aus unterschiedlichen Gründen zum ärgsten Rivalen Saudi-Arabiens entwickelt. Allein deswegen werden die Wahlen aufmerksam beobachtet. Die saudische Wahrnehmung wird dabei jedoch weniger von den Wahlen selbst geprägt, als vielmehr von der Überzeugung, Iran sei keine Nation, kein Staat im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr Verfechter einer expansionistischen Ideologie, welche die saudische Monarchie bedrohe. So ist die saudische Führung überzeugt: Die eigentliche Macht liege nicht in den Händen des gewählten Präsidenten, sondern beim Revolutionsführer Ali Khamenei. Für die iranische Politik habe der Ausgang der Wahlen daher kaum Relevanz.
Das Ringen um Einfluss: Antipathie, Antagonismus und Apathie
In dieser Wahrnehmung spiegelt sich das widersprüchliche iranisch-saudische Verhältnis, das von einer Kombination aus Antipathie, Antagonismus und Apathie sowie auf saudischer Seite von einer regelrechten „Iranoia“ bestimmt wird: Während die schiitische Islamische Republik nach der iranischen Revolution 1979 danach strebte, seine Vorstellungen eines expansiven politischen Islams in der Region zu verbreiten, betrachtet sich das sunnitische Saudi-Arabien als Gegenpol, der die Ausbreitung Irans verhindern muss. Saudi-Arabien, im Selbstverständnis „Hüter der beiden Heiligen Stätten“ Mekka und Medina, strebt in der muslimischen Welt selbst eine Führungsrolle an und sieht Iran als Bedrohung dieses Exklusivitätsanspruchs.
Doch die Rivalität speist sich nicht nur aus diesem ideologischen Wettstreit, sondern vielmehr auch aus geostrategischen, politischen und wirtschaftlichen Erwägungen: Beide konkurrieren um Märkte und Rohstoffe, streben nach regionalen Partnerschaften und Einfluss. Saudi-Arabien sieht mit Sorge den gewachsenen Einfluss Irans in der direkten Nachbarschaft des Königreichs: Im Irak ist es Iran gelungen, sich seit dem Sturz von Saddam Hussein 2003 als wichtigste Kraft zu etablieren. Im Libanon fungieren die von Iran hofierte Hisbollah, in Palästina die Hamas und in Syrien Präsident Bashar al-Assad als wichtige Verbündete Irans. Auch im Jemen hat Iran in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen, was sich in militärischer und logistischer Unterstützung für die Huthis niederschlägt, die sich seit März 2015 in einem Konflikt mit Saudi-Arabien befinden. Das iranische Raketenprogramm sowie die Revolutionsgarden als eigentliche Drahtzieher der iranischen Regionalpolitik sorgen für weitere Unruhe auf saudischer Seite. So fühlt sich das Königreich mittlerweile von vermeintlich iranisch kontrollierten Feinden eingekreist – eine Bedrohungsperzeption, die in den letzten Jahren die Regionalpolitik des Königreichs dominierte.
Iranoia zur Machtsicherung
Insbesondere der junge Kronprinz Muhammad bin Salman, der das Königreich seit seiner Ernennung zum Verteidigungsminister 2015 sowie zum direkten Thronfolger 2017 als De-Facto-Herrscher regiert und aus dem Schatten seines greisen Vaters König Salman herausgetreten ist, hat das traditionelle Feindbild Iran für seine Zwecke instrumentalisiert: Mit einem nationalistischen Kurs schuf er eine Wagenburgmentalität und einen saudischen Patriotismus, der auf der Modernisierung der Wirtschaft, der Marginalisierung alter Eliten und vor allem der Dämonisierung Irans beruht. 2018 verglich er den iranischen Revolutionsführer Khamenei gar mit Hitler.
MbS, wie der Kronprinz oft genannt wird, gelang es auf diese Weise, sich als Schutzpatron der eigenen Bevölkerung zu positionieren und seine Macht zu festigen. Mittlerweile ist er das personifizierte Machtzentrum im Königreich – trotz der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi, der weitgehend erfolglosen Militärintervention im Jemen oder der im Juni 2017 gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain und Ägypten begonnenen Blockade gegen Katar. Alle diese Aktionen haben zwar seinem Ruf im westlichen Ausland geschadet, seine Position im Inneren aber nicht geschwächt. Im Gegenteil: Bei großen Teilen der jungen Bevölkerung gilt er nach wie vor als Hoffnungsträger, der das verstaubte Saudi-Arabien in die Moderne führen könne.
Gleichzeitig sah sich MbS durch den damaligen Präsidenten Donald Trump in seinem anti-iranischen Kurs unterstützt: Trumps Politik des „maximalen Drucks“ gegenüber Iran schlug sich im Austritt der USA aus dem 2015 geschlossenen Atomabkommen mit Iran und in einer verschärften Sanktionspolitik gegenüber Teheran nieder. Aus saudischer Perspektive war dies ein überfälliger Schritt, hatte man die erfolgreichen Nuklearverhandlungen unter Trumps Vorgänger Barack Obama als Verrat empfunden, da dieser die saudischen Sicherheitsinteressen ignoriert habe. Nachdem Trump seine erste Auslandsreise 2017 überraschenderweise nach Riad geführt hatte, sah sich MbS ermutigt, seine Politik der Provokation voranzutreiben, was sich in der Blockade gegen Katar oder in dem erzwungenen Rücktritt des libanesischen Premierministers Saad Hariri niederschlug, dem von saudischer Seite zu große Nachsicht gegenüber der pro-iranischen Hisbollah vorgeworfen wurde. Weiterhin forcierte MbS eine vorsichtige Annäherung an Israel, um nach dem Credo „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ die Reihen gegen Iran zu schließen. Vor diesem Hintergrund kam es im November 2020 zu einem Treffen zwischen MbS und dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu.
Annäherung als notwendiges Übel
Doch diese Phase der Provokation scheint nun beendet. Prominentestes Beispiel dafür sind die aktuell im irakischen Bagdad stattfindenden direkten Gespräche zwischen den iranischen und saudischen Sicherheitsdiensten, die im April 2021 begonnen. Saudi-Arabien sieht sich mittlerweile in einer Situation, in der die Annäherung an Iran als erfolgversprechender wahrgenommen wird als die Eskalation. Dieser Kurswechsel beruht in erster Linie auf zwei Ereignissen, die in unterschiedlicher Form die Politik von MbS beeinflusst haben:
Das saudische „9/11“: Am 14. September 2019 trafen von Iran gesteuerte Drohnen und Raketen die saudischen Ölraffinerien Abqaiq und Khurais. In Folge des Angriffs brach die saudische Ölproduktion um die Hälfte ein. Die saudische Führung zeigte sich aus zwei Gründen geschockt: Zum einen hatte sie leidvoll erfahren, wie schlagkräftig die iranische Feuerkraft das Herz der saudischen Wirtschaft treffen konnte. Zum anderen unterließ es Trump, massive Vergeltungsschläge anzuordnen. In Saudi-Arabien wird dieses Ereignis auch als „saudisches 9/11“ bezeichnet, was zu einem Umdenken in der saudischen Führung führte. Offenbar hatte sie Iran unterschätzt, während ein militärischer Konflikt aus saudischer Perspektive nur in enger Zusammenarbeit mit Israel und den USA gewonnen werden könnte. An einem Krieg mit Iran hat Saudi-Arabien allerdings absolut kein Interesse. „MbS ist jemand, der mit vollem Tempo auf eine Klippe zuläuft, letztlich jedoch ohne zu springen.“ So beschrieb ein saudischer Analyst die Strategie des Kronprinzen. MbS setzte auf Provokation, nicht aber auf Eskalation um jeden Preis.
Die Wahl Bidens: Seit im Januar 2021 Trump sein Amt an Joe Biden abgeben musste, der sich bereits im Wahlkampf kritisch gegenüber der saudischen Führung geäußert hatte und mit Iran in Verhandlungen über eine Wiederaufnahme des Atomprogramms eintrat, zeigt sich Saudi-Arabien deutlich konzilianter. Die Beilegung des Konflikts mit Katar im Januar 2021 kann als Willkommensgeschenk an Biden betrachtet werden. MbS präsentiert sich nunmehr als Versöhner und Vermittler, sucht den Austausch mit regionalen Rivalen wie Iran und der Türkei und betont die Bereitschaft zu einer diplomatischen Lösung im Jemen. Ziel dieses Schmusekurses ist es, einerseits die Beziehungen zu Biden zu verbessern und andererseits eine von den USA unabhängigere Außenpolitik zu etablieren. Dabei geht es dem Kronprinzen darum, sein Gesicht zu wahren und „guten Willen“ zu zeigen. Allerdings steht er auch unter enormen Druck, weswegen eine solche Annäherung nicht nur als rein kosmetische Imagekampagne, sondern als ernstzunehmender Versuch gewertet werden sollte, seine Macht zu konsolidieren: In Zeiten von Corona braucht der Kronprinz Ruhe in der Nachbarschaft, damit ausländische Investitionen ins Land fließen. Nur so kann es dem Königreich gelingen, die angestrebte Diversifizierung der Wirtschaft voranzutreiben. Krisen und Konflikte sind bei diesem Ziel kontraproduktiv. Dafür braucht MbS schließlich auch ein pragmatisches Verhältnis mit Iran und sucht daher vorsichtig einen Dialog – wenn auch zähneknirschend.
In der komplexen Geschichte zwischen Iran und Saudi-Arabien nach 1979 gab es immer wieder wellenartige Phasen des Austauschs und des Pragmatismus: So fand unter den damaligen iranischen Präsidenten Hashemi Rafsanjani und Mohammed Khatami eine Annäherung an Saudi-Arabien statt. Hieran möchten beide Länder aktuell anknüpfen. Immerhin leiden sie unter ähnlichen Problemen: Iran und Saudi-Arabien sind darauf angewiesen, ihre Wirtschaften vom Erdöl weg zu diversifizieren. Gelingt dies nicht, droht nicht nur soziale Frustration, sondern auch eine Destabilisierung der politischen Systeme. Denn aller Unterschiede zum Trotz eint beide Herrschereliten das übergeordnete Ziel, jeweils die eigene Macht zu bewahren – koste es, was es wolle.
Irans Wahlen und der „tiefe Staat“
In Saudi-Arabien ist die Führung überzeugt, dass die Präsidentschaftswahlen keine grundlegende Änderung der iranischen Regionalpolitik herbeiführen werden. Zwar fürchtet sie zum einen den Machtzuwachs der Hardliner, die den vorsichtigen Prozess der Annäherung torpedieren könnten. Zum anderen ist sie allerdings davon überzeugt, dass die wahre Macht der Entscheidungsfindung in Iran ohnehin ausschließlich beim Revolutionsführer und den Revolutionsgarden liege, nicht beim gewählten Präsidenten. Selbst vergangene Phasen des Dialogs resultierten nicht in einer langfristigen Beilegung des Konflikts. Dies sei vor allem an der mangelnden Bereitschaft des Revolutionsführers und der Revolutionsgarden gescheitert – so die Meinung in Riad. Der Ausgang der Wahl sei daher kein ausschlaggebendes Kriterium für einen Wandel der iranischen Politik gegenüber Saudi-Arabien.
Auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen finden die derzeitigen bilateralen Gespräche nicht zwischen den Außenministerien, sondern auf geheimdienstlicher Ebene statt. Allein der „tiefe Staat“ Irans sei in der Lage, die Regionalpolitik der Islamischen Republik zu beeinflussen und die Unterstützung iranischer Verbündeter im Jemen, im Irak und im Libanon zu reduzieren.
Die iranische Regierung kann einen Prozess der Annäherung zwar unterstützen. Doch aus Sicht Riads sind allein der Revolutionsführer und die Garden befähigt, finale Entscheidungen über Dialog oder Dämonisierung, über Annäherung oder Ablehnung zu treffen. An dieser Einschätzung dürfte sich auch in Zukunft nichts ändern. Daher dürfte Saudi-Arabien, unabhängig vom Ausgang der iranischen Präsidentschaftswahlen, die vorsichtige Politik einer taktischen Annäherung vorantreiben.
Dr. Sebastian Sons ist Wissenschaftler beim Bonner Forschungsinstitut Center for Applied Research with the Orient (CARPO) und Experte für die arabischen Golfstaaten. Er promovierte zur Arbeitsmigration von Pakistan nach Saudi-Arabien und ist Autor des politischen Sachbuchs „Auf Sand gebaut. Saudi-Arabien – Ein problematischer Verbündeter“.
Auf Twitter: @SebastianMSons