In ungefähr der Hälfte aller Bundesländer gibt es einen Ort, an dem sich Bürger_innen mit Zuwanderungsgeschichte kommunal engagieren: Die Integrations- oder Ausländerräte oder –beiräte. In Nordrhein-Westfalen ist Tayfun Keltek seit mehreren Jahrzehnten das Gesicht der Integrationsräte. Der Gründer der Dachorganisation für Migrantinnen und Migranten in NRW sitzt seit 1996 dem Landesintegrationsrat, dem Verband aller kommunalen Integrationsräte vor und wurde für sein Engagement unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Die FES KommunalAkademie befragt Tayfun Keltek zum Engagement von Migrant_innen in der Kommunalpolitik.
FES: Herr Keltek, im September 2020 finden in NRW Kommunalwahlen statt. Parallel, aber mit deutlich weniger öffentlichkeitswirksam wird die Wahl der Integrationsräte durchgeführt. Warum ist das mediale Interesse hier so gering, wo doch gerade in NRW viele Migrantinnen und Migrantinnen leben und heimisch geworden sind?
Keltek: Die Kommunalwahlen und die Wahl der Bürgermeister_innen bekommen deshalb größere Aufmerksamkeit, weil es bei diesen Wahlen um richtungsweisende Entscheidungen für die Kommune geht. Sie stehen zugleich im Mittelpunkt der Berichterstattung in den lokalen aber auch überregionalen Medien, während die Wahl des Integrationsrates bescheidene Aufmerksamkeit erhält. Die Kandidatinnen und Kandidaten für den Integrationsrat haben es nicht leicht, sich selbst und ihre Wahlprogramme gebührend bekannt zu machen, außerdem müssen sie die Wahlwerbung aus eigener Tasche bezahlen. Die Parteilisten haben die Möglichkeit, bei Bedarf auf die Ressourcen und Strukturen der Parteien zurückgreifen.
Darüber hinaus fehlt dem Integrationsrat eine starke Lobby. Er erfährt zu wenig politischen Rückhalt. Wir haben gerade einen Existenzkampf gegen die Pläne der NRW-Landesregierung führen müssen, die gemäß ihrem Koalititonsvertrag die Integrationsräte erheblich schwächen wollte. Sie hatte vor, den Kommunen freie Hand zu geben, ob sie einen Integrationsrat beibehalten bzw. einrichten oder nicht. Hätte die Landesregierung ihren Plan verwirklichen können, hätten wir wahrscheinlich in fünf Jahren keine landeseinheitlichen Wahlen mehr durchführen können.
FES: Für die Wahl der Integrationsräte gelten bestimmte Voraussetzungen. Wer kann am 13. September 2020 überhaupt wählen und welche Voraussetzungen müssen Kandidat_innen erfüllen?
Keltek: Wahlberechtigte Personen sind alle Ausländer_innen und Staatenlose sowie EU-Bürger_innen. Außerdem sind alle Menschen wahlberechtigt, die neben der deutschen auch eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen, wie z. B. Spätaussiedler_innen.
FES: Vorausgesetzt, ich erfülle die formalen Voraussetzungen und will mich einbringen: Können Sie kompakt beschreiben, welche persönliche Voraussetzungen hierfür erforderlich sind?
Keltek: Ich halte die persönliche Kompetenz und das Engagement für grundlegend wichtig, um sich im Integrationsrat wirkungsvoll einbringen zu können. Darüber hinaus muss den Kandidat_innen klar sein, dass sie für ihr politisches Amt und die damit einhergehende Arbeit viel Zeit investieren und sich inhaltlich mit den Themen Integration und Migration auseinandersetzen müssen.
FES: In der Vergangenheit haben viele Bewerber_innen parteiunabhängig kandidiert, inzwischen stellen auch Parteien eigene Listen für die Integrationsratswahl auf. Was empfehlen Sie?
Keltek: Beides ist möglich und jede_r muss für sich entscheiden, welchen Weg sie oder er gehen möchte. Ich halte die politische Integration von Menschen in unserem demokratischen System für elementar, sie muss am Anfang des Integrationsprozesses stehen. Die Parteien fokussieren häufig auf die vermeintlichen Defizite der Menschen mit internationaler Familiengeschichte statt ihre Potenziale ins Visier zu nehmen. In der Zusammenarbeit von Parteien und Parteilisten liegt für die Parteien die Chance, die Potenziale der Menschen mit internationaler Familiengeschichte– als ihren Mitstreiter_innen – zu erkennen und in ihre eigene politische Arbeit einzubeziehen. Es ist wichtig, engagierte und kompetente Menschen mit internationaler Familiengeschichte für die Arbeit im Integrationsrat zu gewinnen. Sie transportieren die positiven Aspekte unserer von Einwanderung geprägten Gesellschaft in die Stadtpolitik und bewirken, dass die Parteien ihre Integrationspolitik potenzialorientiert gestalten. Gleichzeitig finden viele Menschen mit internationaler Familiengeschichte Zugang zur Kommunalpolitik und den Parteien. Durch die Möglichkeit der politischen Teilhabe am eigenen Wohnort erfolgt eine Hinwendung und Identifikation mit der Stadt oder Gemeinde. Die Gefahr eines Rückzugs und einer Fixierung auf die Herkunftskultur ist dann geringer. Außerdem entsteht eine Win-win-Situation für unsere Demokratie: Wenn Menschen mit internationaler Familiengeschichte an der Kommunalwahl teilnehmen, wählen sie auch den Integrationsrat – und umgekehrt. Damit kann die Wahlbeteiligung wechselseitig erhöht und die politische Partizipation gefördert werden.
FES: Können Sie ein konkretes Beispiel für die praktische Arbeit der Integrationsräte beschreiben?
Keltek: Ein Beispiel dafür ist die Arbeit des Integrationsrates der Stadt Köln. Es ist dem Bemühen des Integrationsrates zu verdanken, dass in Köln das Amt für Vielfalt und Integration existiert. In 16 Schulen der Stadt gibt es koordinierte Alphabetisierung für Schüler_innen mit internationaler Familiengeschichte. Die Errichtung des Einwanderungsmuseum und das NSU-Denkmal in Köln gehen ebenfalls auf Initiative bzw. Unterstützung des Gremiums zurück. Die Anfrage und die Resolution des Integrationsrates der Stadt Köln nach den rassistischen Anschlägen in Hanau ist ein weiteres Beispiel. Nach dem rassistischen Terroranschlag hat der Integrationsrat eine Resolution in den Stadtrat eingebracht, in der zahlreiche Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus vorgeschlagen werden. Mit dieser Resolution konnten wir alle demokratisch gesinnten Parteien gegen den Rechtsextremismus zusammenbringen und gleichzeitig zur weiteren Isolierung der rechtspopulistischen Partei AfD beitragen.
FES: Herr Keltek, Sie sind nun seit vielen Jahren in diesem Bereich tätig. Was hat Sie damals persönlich motiviert, sich für die Gründung einer solchen Institution einzusetzen?
Ich habe viele Jahre als Lehrer an einer Realschule Sport und Mathe unterrichtet und bekam ständig die strukturelle Benachteiligung der Schüler_innen mit Migrationshintergrund mit. Beispielsweise gab es in meiner Schule Schüler_innen, die neben Deutsch eine weitere Sprache wie z. B. Italienisch oder Türkisch beherrschten. Diese Muttersprachen wurden in der Schule als Fremdsprache nicht anerkannt. Obwohl diese Schüler_innen über Kenntnisse in einer weiteren Sprache verfügten, durften sie dieses Potenzial nicht einbringen. Um einen höheren Abschluss zu erlangen, waren sie gezwungen, Französisch zu lernen. Ein anders Beispiel ist der Religionsunterricht. Während Schüler_innen christlichen Glaubens ihre Note in diesem Fach als „Ausgleichsnote“ nutzen konnten, war dies für Kinder muslimischen Glaubens nicht möglich. Mir wurde klar, dass unser Schulsystem keinen angemessenen Umgang mit der vorhandenen Vielfalt ermöglicht und die Schüler_innen mit Migrationshintergrund benachteiligt. Das hat mich dazu veranlasst, mich im damaligen Ausländerbeirat zu engagieren. Sehr schnell merkte ich jedoch, dass ich diesen Benachteiligungen auf kommunaler Ebene effektiv nichts entgegensetzen konnte. Denn es hieß, dass das Land für das Schulwesen zuständig sei. So kam es, dass ich mich gleichzeitig um die Gründung einer Organisation auf Landesebene bemühte. Mein politisches Engagement ist auch darauf zurückzuführen, dass ich mich verpflichtet fühlte, mich für die Belange der damaligen Arbeitsmigranten_innen der ersten Generation einzusetzen, da sie häufig nicht imstande waren, ihre berechtigten Interessen zu artikulieren.
FES: Was würden Sie Migrantinnen und Migranten mit auf den Weg geben, die sich noch unsicher sind, ob sie 2020 antreten wollen?
Keltek: Es heißt: „Wer nicht kämpft hat schon verloren“. Mein Credo ist, sich für die Verbesserung hiesiger Verhältnisse einzusetzen statt sich zurückzuziehen und auf das eigene Herkunftsland zu fixieren. Ich empfehle daher allen Menschen mit internationaler Geschichte, sich im Integrationsrat zu engagieren und sich für die Verbesserung hiesiger Verhältnisse einzusetzen und ihren Lebensmittelpunkt gemeinsam mit anderen politisch zu gestalten. Das ist nicht nur sinnvoll für unsere Gesellschaft, sondern auch für jede_n Einzelne_n besser als den Rückzug in die Komfortzone der sogenannten Herkunftsgesellschaften. Der Integrationsrat ist ein interessantes Gremium, um sich politisch zu engagieren. Es gibt einige Abgeordnete im Landtag oder im Bundestag, die ihre politische Karriere im Integrationsrat begonnen haben. Sie fanden die politische Arbeit so spannend, dass sie dann für das Landesparlament bzw. für den Bundestag kandidierten und nun als Volksvertreter_innen in diesen Parlamenten sitzen.
FES: Wie können Parteien die Aufmerksamkeit von Migrant_innen für kommunale Integrationspolitik gewinnen?
Die Aufmerksamkeit der Menschen mit Migrationshintergrund zu erreichen ist nicht so schwierig wie womöglich angenommen wird. Die Voraussetzung dafür ist, deutlich für eine progressive Integrationspolitik zu stehen. Dazu gehört ein klares Bekenntnis zu der ethnischen Vielfalt unseres Landes und damit zu den Sprachen und Kulturen der Eingewanderten. Das sind aus meiner Sicht wichtige Signale an die Migrant_innen. Dabei ist von großer Bedeutung, dass ihre Lebensrealität innerhalb der Partei wertgeschätzt und ernst genommen wird. Ihre bikulturelle Identität ist willkommen und eine Bereicherung. Die Parteien haben die Pflicht, die Migranten_innen aufzusuchen anstatt darauf zu warten, bis sie zu ihnen kommen. Zum Beispiel können die Parteien die Migranten_innen darum bitten, ihre Perspektiven, einzubringen und sie in ihrer parteipolitischen Arbeit zu unterstützen. Das kann beispielsweise das Thema Förderung der Herkunftssprache im Kindergarten sein, was der Lebensrealität vieler Migrant_innen entspricht.
FES: Politische Partizipation läuft in Deutschland nach wie vor über politische Parteien. Integration ist gerade in einem Zuwanderungsland wie Deutschland von großer Bedeutung. Wäre eine institutionalisierte Einbindung der Integrationsräte in Parteien sinnvoll, um letzteren noch mehr politisches Gewicht zu verleihen?
Keltek: Ich halte die Aufwertung der Arbeit des Integrationsrates für unvermeidbar und dringend notwendig. Dabei erwarte ich von den Parteien, das Gremium im Rat dadurch zu unterstützen, indem sie ihn Beschlusskompetenz einräumen. Dadurch wird der Integrationsrat zu einem wichtigeren politischen Akteur im kommunalpolitischen Gefüge.
FES: In der Integrationspolitik gab es viele Jahre enorme Versäumnisse. Wenn Sie die politische Partizipation ganz neu gestalten könnten, was würden Sie dann heute als erstes angehen?
Keltek: Die rechtlichen Ungleichbehandlungen haben negative Wirkung; sie signalisieren den Menschen mit internationaler Familiengeschichte nicht willkommen zu sein und sind ein Beleg für eine Zwei-Klassengesellschaft, in der wir nicht leben wollen.
Ich sehe dringenden Handlungsbedarf in folgenden Bereichen:
Die Einführung des kommunalen Wahlrechts für alle Menschen mit internationaler Familiengeschichte, die dauerhaft in Deutschland leben; die generelle Zulassung von Mehrstaatigkeit bei der Einbürgerung; die Gleichbehandlung aller Menschen mit internationaler Familiengeschichte bei der Familienzusammenführung; die Anerkennung der ethnischen Identität als unverzichtbarer Bestandteil der Persönlichkeit und die lückenlose Aufklärung der NSU-Morde.
Deutschland bekennt sich zwar seit einigen Jahren dazu, dass es ein Einwanderungsland ist, in der Praxis fehlen allerdings die notwendigen Schritte, um dieses Bekenntnis Realität werden zu lassen. Hierbei übernehmen die Massenmedien eine besonders wichtige Funktion, um den positiven Einfluss der Migration für die Gesamtgesellschaft darzustellen.
Das Gespräch führte Ann Bauschmann, Trainee der FES
Tayfun Keltek
Tafun Keltek ist Vorsitzender des Landesintegrationsrates Nordrhein-Westfalen. In der Türkei geboren, lebt er seit 1970 in Köln und war Diplom-Sportlehrer an einer Realschule. Seit 1984 ist Keltek Mitglied des Integrationsrates und seit 1989 Vorsitzender des Integrationsrates der Stadt Köln. Seit 1985 ist er Mitglied der SPD, er kandidierte zwei Mal für den Landtag NRW. Für sein Engagement erhielt Tayfun Keltek im Jahr 2001 das Bundesverdienstkreuz von Johannes Rau verliehen.
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