Geschichte

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PD Dr. Stefan Müller

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Abteilung

Archiv der sozialen Demokratie

 

„Baba, Servus und Pfiati“

Bücher der Arbeiterkammer Wien verlassen die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn zurück in Richtung Heimat.

Insgesamt 17 Bücher konnten im Rahmen der Provenienzforschung im ‚Gründungsbestand‘ der Bibliothek im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) mit Hinweisen auf die Arbeiterkammer in Wien (AK Wien) ausfindig gemacht werden. Die FES untersucht in einem Forschungsprojekt Bücher ihres sogenannten Gründungsbestandes auf ihre Provenienzen. Die Bibliothek der FES wurde erst 1969 gegründet, also mehr als 20 Jahre nach Ende der NS-Diktatur. Zu ihrer Gründung hat die Bibliothek der FES in Bonn die nach Kriegsende neuaufgebaute Bibliothek des SPD-Parteivorstandes übernommen; erweitert und ergänzt wurde dieser Bestand durch nicht dokumentierte antiquarische Ankäufe und weitere Übernahmen vorrangig privater Bücherspenden. Im Zuge dieses Bestandsaufbaus wurden unter anderem die Bücher mit Provenienz der AK Wien ins Magazin der FES integriert. Die Möglichkeit dabei unwissentlich NS-Raubgut in ihren Bestand übernommen zu haben, zeigt sich anhand des Fundes der 17 Bände der AK Wien. Bei den Büchern handelt es sich um „Sozialistika“ und Literatur der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Die als NS-Raubgut identifizierten Exemplare gehören eindeutig zum speziellen Sammlungsgebiet der Bibliothek in Bonn.

Das Erbe der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

Sozialdemokrat_innen, Gewerkschafter_innen und ihnen zugehörige und nahestehende Institutionen wurden im Nationalsozialismus politisch verfolgt, verboten oder gleichgeschaltet – ebenso wie die 1925 gegründete Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie gehören zu den Opfern des NS-Regimes in Deutschland und allen besetzten Gebieten. Das Archiv der sozialen Demokratie und die Bibliothek wurden selbst erst 1969 gegründet; hätten sie schon 1933 existiert, wären sie ebenfalls verfolgt worden. Die Gründung des AdsD nahm die SPD-Parteiführung zum Anlass, der FES ihre Bibliothek zu übergeben; sie bildete den Grundstein für die neue Bibliothek in Bonn. Der SPD-Parteivorstand hatte seine Bibliotheksbestände unmittelbar nach Kriegsende mit Hilfe von Bücherspenden und antiquarischen Ankäufen wieder ansatzweise aufgebaut. Wahrscheinlich wurde bereits bei diesem Wiederaufbau unbewusst NS-Raubgut übernommen. Ebenso wurde beim Auf- und Ausbau des Grundbestandes durch weitere Einkäufe auf dem antiquarischen Buchmarkt unbemerkt NS-Raubgut in die FES eingegliedert. Die Provenienzen der Bücher aus den Übernahmen zum Aufbau der Bibliothek wurden jedoch, zunächst in den Wirren der Nachkriegszeit und auch noch lange darüber hinaus, nicht dokumentiert oder analysiert. Bei diesen Büchern handelt es sich im Schwerpunkt um Schriftgut aus den Bereichen Sozialdemokratie, Sozialismus und Arbeiterbewegung. Diese Literatur wurde im „Dritten Reich“ systematisch aus den Bibliotheken ausgesondert, zerstört oder zur „Feindforschung“ auf NS-Institutionen verteilt.

Mit der Übernahme der SPD-Parteibibliothek hat die FES auch die Verantwortung geerbt, diesen Bestand auf seine Provenienzen zu überprüfen und festzustellen, ob sich hier NS-Raubgut befindet. Im Fokus des Projektes steht ein ganz besonderer Teilbestand: Es handelt sich ausschließlich um Bücher, die zwischen der Gründung 1969 und in den unmittelbaren Folgejahren bis 1977 Eingang in die Bibliothek gefunden haben.

Aus dieser Verantwortung heraus begann im Juli 2020 das vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderte Forschungsprojekt im Bereich Provenienzforschung. Dabei werden rund 17.000 Bücher auf ihre Herkunft überprüft. Daneben wird aus den Ergebnissen dieser Bestandsüberprüfung die SPD-Parteibibliothek vor ihrer Zerstörung 1933 virtuell rekonstruiert. Diese Rekonstruktion soll dazu beitragen zu ermitteln, ob und wo sich in der Bibliothek der FES unerkannt Bücher der historischen SPD-Bibliothek befinden. Darüber hinaus soll anhand der Ergebnisse ermittelt werden, welche Bücher weiterhin als vermisst gelten.

Eine solche Vorgehensweise – die Rekonstruktion einer durch das NS-Regime zerschlagenen Bibliothek – ist in der Raubgutforschung eher unüblich. Die Bibliothek der FES hat hier eine Sonderrolle, denn sie selbst existierte in der NS-Zeit nicht. Zunächst wird der eigene Teilbestand überprüft und anschließend die Verluste der historischen SPD-Parteibibliothek dokumentiert. Bei dieser Bestandsüberprüfung wurden 15 Exemplare mit historischem SPD-Siegel festgestellt. Die Bücher wurden unerkannt beim Wiederaufbau der Parteibibliothek unmittelbar nach Kriegsende in den Bestand aufgenommen. Bei einem geschätzten Bestand von etwa 30.000 Bänden vor Zerschlagung des NS-Regime sind 15 Bücher dieser sozialdemokratischen Provenienz allerdings verhältnismäßig wenig.

Die Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek bei der Arbeiterkammer in Wien

Die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien wurde 1921 gegründet und umfasste bis 1938 einen Bestand von über 140.000 Bänden. Die Bücher der Studienbibliothek setzten sich unter anderem aus Schenkungen verschiedener Privatbibliotheken zusammen – hier ist der sozialistische Rechtswissenschaftler Anton Menger zu nennen, dessen Provenienz wir in drei der 17 Bücher der AK Wien wiederfinden konnten. Ein weiteres Buch konnte dank der Hinweise der AK Wien als NS-Raubgut identifiziert werden. Es handelt sich hierbei um ein Buch aus dem Nachlass Viktor Adlers. Mit Bleistift wurde auf das Titelblatt des Exemplars „Nachlaß Viktor Adler“ notiert. Am Einband befindet sich außerdem eine sogenannte „Signaturbandage“, welche beschriftet sein müsste – in dem Fund aus dem ‚Gründungsbestand‘ wurden hingegen alle Vermerke auf dieser Bandage ab- bzw. ausgekratzt.

 

Die Bücher der AK Wien sollten 1938 noch an das International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam verkauft werden. Hier findet sich eine erste Parallele zum Verkauf eines Teilbestandes der historischen SPD-Parteibibliothek. Denn der Exil-Parteivorstand der SPD verkaufte von Prag aus wertvolle Bestände und Akten an die befreundete Einrichtung in Amsterdam, um seine Aktivitäten im Widerstand gegen das NS-Regime fortführen zu können. Anders als bei der SPD ist es nie zum Verkauf der Studienbibliothek der Arbeiterkammer Wien an das IISH gekommen. Die Bücher wurden aus der geschlossenen und zerstörten AK Wien nach Berlin überführt und auf verschiedene Standorte verteilt. Es lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen, wo sich die beschlagnahmten Bücher der AK Wien befinden. Die Spuren der Bücher verlieren sich im weiteren Verlauf des Krieges. Restitutionen und Rückgaben erreichten die Bibliothek der AK Wien in der Nachkriegszeit aus dem Offenbach Archival Depot, der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, der Freien Universität Berlin sowie aus Polen und der Tschechoslowakei. Insgesamt fanden jedoch nur knapp 35.000 Bände ihren Weg zurück in die AK Wien.

Auf den ersten Blick scheinen 17 Bücher aus dem ‚Gründungsbestand‘ der FES nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein zu sein. Tatsächlich handelt es sich, angesichts der ca. 140.000 Bücher vor Zerschlagung des NS-Regimes, um eine geringe Anzahl zurückgegebener Exemplare. Es zeigt jedoch ganz deutlich das Ausmaß an Zerstörung von Bibliotheken unter der NS-Diktatur. Bibliotheken, Archive und andere Einrichtungen der Arbeiterbewegung wurden politisch verfolgt, gleichgeschaltet und zerstört. Die Bibliotheken der Arbeiterbildung, zur fachlichen und sozialen Aus- und Weiterbildung gedacht, waren dem NS-Regime von Anfang an zuwider. In der Raubgutforschung erhalten Bücher und Bibliotheken – in Konkurrenz zu Kunstwerken und Museen – verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit. Dabei ist jeder Fund von NS-Raubgut und jeder Faktor, der zur Aufklärung von nationalsozialistisch begangenem Unrecht beiträgt, ein Erfolg. Die erfolgreichen Restitutionen müssen im öffentlichen Diskurs Beachtung finden.

Restitution – und was passiert dann?

Es lässt sich abschließend zur Rückgabe der 17 Bücher an die AK Wien Folgendes festhalten: Die Bibliothek im AdsD in der FES freut sich diese Bände restituieren zu können. Sie folgt damit den Washingtoner Prinzipien von 1998 und der Gemeinsamen Erklärung von 2001. Die als NS-Raubgut identifizierten Bücher haben ihre „Heimat“-Bibliothek unrechtmäßig verlassen müssen. Sie sind beschlagnahmt und in der Folge dermaßen verstreut worden, dass sich nicht feststellen lässt, in welchen Bibliotheken sich weitere Bücher der AK Wien befinden. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Büchern der historischen SPD-Parteibibliothek, deren Verluste aktuell noch nicht beziffert werden können, voraussichtlich jedoch auch in die Tausende oder Zehntausende gehen werden. Es ist darüber hinaus möglich, dass sich weitere Bücher der AK Wien und anderes nicht erfasstes NS-Raubgut im Gesamtbestand der FES befindet. Bei knapp einer Millionen Medien ist das eine langjährige Aufgabe; ebenso wie die Recherche nach den Beständen der historischen SPD-Bibliothek. Provenienzforschung ist eine dauerhafte Aufgabe. Es werden auch in Zukunft NS-verfolgungsbedingt beschlagnahmte und enteignete Objekte gefunden werden, deren Aufklärung und Rückgabe in der Erinnerungskultur eine bedeutende Rolle spielen.

Hannah Schneider

Literatur:

Stubenvoll, Karl: 75 Jahre Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, 1997.

https://wien.arbeiterkammer.at/service/bibliothek/wir_ueber_uns/Geschichte_der_Bibliothek.html

https://www.fes.de/bibliothek/ueber-uns/wurzeln-und-tradition

Schneider, Hannah: Der 'Gründungsbestand' der Friedrich-Ebert-Stiftung im Fokus der Provenienzforschung. In: O-bib / hrsg. vom Verein Deutscher Bibliothekare (VDB). München, 2021. Band 8, Heft 1 (2021). https://www.o-bib.de/bib/article/view/5647/8306


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