Die Bücher der AK Wien sollten 1938 noch an das International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam verkauft werden. Hier findet sich eine erste Parallele zum Verkauf eines Teilbestandes der historischen SPD-Parteibibliothek. Denn der Exil-Parteivorstand der SPD verkaufte von Prag aus wertvolle Bestände und Akten an die befreundete Einrichtung in Amsterdam, um seine Aktivitäten im Widerstand gegen das NS-Regime fortführen zu können. Anders als bei der SPD ist es nie zum Verkauf der Studienbibliothek der Arbeiterkammer Wien an das IISH gekommen. Die Bücher wurden aus der geschlossenen und zerstörten AK Wien nach Berlin überführt und auf verschiedene Standorte verteilt. Es lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen, wo sich die beschlagnahmten Bücher der AK Wien befinden. Die Spuren der Bücher verlieren sich im weiteren Verlauf des Krieges. Restitutionen und Rückgaben erreichten die Bibliothek der AK Wien in der Nachkriegszeit aus dem Offenbach Archival Depot, der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, der Freien Universität Berlin sowie aus Polen und der Tschechoslowakei. Insgesamt fanden jedoch nur knapp 35.000 Bände ihren Weg zurück in die AK Wien.
Auf den ersten Blick scheinen 17 Bücher aus dem ‚Gründungsbestand‘ der FES nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein zu sein. Tatsächlich handelt es sich, angesichts der ca. 140.000 Bücher vor Zerschlagung des NS-Regimes, um eine geringe Anzahl zurückgegebener Exemplare. Es zeigt jedoch ganz deutlich das Ausmaß an Zerstörung von Bibliotheken unter der NS-Diktatur. Bibliotheken, Archive und andere Einrichtungen der Arbeiterbewegung wurden politisch verfolgt, gleichgeschaltet und zerstört. Die Bibliotheken der Arbeiterbildung, zur fachlichen und sozialen Aus- und Weiterbildung gedacht, waren dem NS-Regime von Anfang an zuwider. In der Raubgutforschung erhalten Bücher und Bibliotheken – in Konkurrenz zu Kunstwerken und Museen – verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit. Dabei ist jeder Fund von NS-Raubgut und jeder Faktor, der zur Aufklärung von nationalsozialistisch begangenem Unrecht beiträgt, ein Erfolg. Die erfolgreichen Restitutionen müssen im öffentlichen Diskurs Beachtung finden.
Restitution – und was passiert dann?
Es lässt sich abschließend zur Rückgabe der 17 Bücher an die AK Wien Folgendes festhalten: Die Bibliothek im AdsD in der FES freut sich diese Bände restituieren zu können. Sie folgt damit den Washingtoner Prinzipien von 1998 und der Gemeinsamen Erklärung von 2001. Die als NS-Raubgut identifizierten Bücher haben ihre „Heimat“-Bibliothek unrechtmäßig verlassen müssen. Sie sind beschlagnahmt und in der Folge dermaßen verstreut worden, dass sich nicht feststellen lässt, in welchen Bibliotheken sich weitere Bücher der AK Wien befinden. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Büchern der historischen SPD-Parteibibliothek, deren Verluste aktuell noch nicht beziffert werden können, voraussichtlich jedoch auch in die Tausende oder Zehntausende gehen werden. Es ist darüber hinaus möglich, dass sich weitere Bücher der AK Wien und anderes nicht erfasstes NS-Raubgut im Gesamtbestand der FES befindet. Bei knapp einer Millionen Medien ist das eine langjährige Aufgabe; ebenso wie die Recherche nach den Beständen der historischen SPD-Bibliothek. Provenienzforschung ist eine dauerhafte Aufgabe. Es werden auch in Zukunft NS-verfolgungsbedingt beschlagnahmte und enteignete Objekte gefunden werden, deren Aufklärung und Rückgabe in der Erinnerungskultur eine bedeutende Rolle spielen.
Hannah Schneider
Literatur:
Stubenvoll, Karl: 75 Jahre Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, 1997.
https://wien.arbeiterkammer.at/service/bibliothek/wir_ueber_uns/Geschichte_der_Bibliothek.html
https://www.fes.de/bibliothek/ueber-uns/wurzeln-und-tradition
Schneider, Hannah: Der 'Gründungsbestand' der Friedrich-Ebert-Stiftung im Fokus der Provenienzforschung. In: O-bib / hrsg. vom Verein Deutscher Bibliothekare (VDB). München, 2021. Band 8, Heft 1 (2021). https://www.o-bib.de/bib/article/view/5647/8306