Mit Intersektionalität zu einer gerechteren Gesellschaft

Ein Interview mit Dr. Emilia Roig

Dr. Emilia Roig ist Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) und Autorin des Buches „WHY WE MATTER. Das Ende der Unterdrückung". Sie ist Dozentin im Social Justice Study Abroad Program der DePaul University of Chicago und lehrt zu Intersektionalitätstheorie, Postkoloniale Studien, kritische Rassismusforschung und internationalem und europäischem Recht. Sie arbeitete intensiv im Bereich der Menschenrechte bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Tansania und Uganda, bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Kambodscha und bei Amnesty International in Deutschland. 

Das Interview als Video

MuP: Frau Dr. Roig, stellen Sie Ihre Arbeit und Ihr neues Buch gerne vor.

Roig: Mein Name ist Emilia Roig und ich habe vor kurzem das Buch Why We Matter geschrieben. Im Buch geht um das Ende der Unterdrückung. Genauer geht es darum, wie Unterdrückung sich in allen Sphären des Lebens materialisiert, das heißt: zuhause, in den Medien, im Krankenhaus, auf der Straße, in der Schule etc. Bevor ich das Buch geschrieben habe, habe ich das Center for Intersectional Justice gegründet, eine Organisation, die sich durch Advocacy-Arbeit, Forschung und auch Trainings der Bekämpfung von ineinander greifenden Formen von Diskriminierung widmet. 

MuP: Sie leiten das Centre for Intersectional Justice (dt. Zenrum für intersektionale Gerechtigkeit). Was wird unter Intersektionalität verstanden?

Roig: Intersektionalität ist eine Brille oder eine Perspektive, die auf soziale Ungleichheiten geworfen wird, um dieses Problem in der ganzen Komplexität und Tiefe besser zu verstehen und bekämpfen zu können. Dabei konzentrieren wir uns nicht nur auf eine Achse, wie beispielsweise die Identität Frau auf der Achse Mann-Frau und das Ziel „Wir wollen Sexismus überwinden“. Intersektionalität heißt, nicht nur eine Achse der Diskriminierung zu betrachten, sondern die Komplexität innerhalb dieser Kategorien zu erfassen.

Eine Definition, die ich ganz passend finde, ist: Intersektionalität heißt Diskriminierung innerhalb von Diskriminierung zu bekämpfen, Ungleichheiten innerhalb von Ungleichheiten sichtbar zu machen und zu adressieren und Minderheiten innerhalb von Minderheiten zu schützen und zu empowern. Wenn wir uns noch einmal das Beispiel der Gleichstellung zwischen Männern und Frauen anschauen, dann blicken wir nicht nur auf die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, sondern auch auf die Ungleichheiten innerhalb der Kategorie Frau, anhand von Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Religion, Behinderung, sexueller Orientierung, sozioökonomischen Status etc.

MuP: Wer waren die Wegbereiter_innen der Intersektionalität als politische Idee?

Roig: Intersektionalität ist in den USA durch Schwarze Frauen entstanden. Es ist ganz wichtig, das zu betonen, weil Intersektionalität direkt und unmittelbar mit der Bekämpfung von Rassismus verbunden ist. Ursprünglich war es das Ziel von Schwarzen Frauen, Rassismus innerhalb der feministischen Bewegung und gleichzeitig auch das Patriarchat innerhalb der antirassistischen und abolitionistischen Bewegung zu bekämpfen.

Im 18. Jahrhundert hat Sojourner Truth – eine wichtige Figur der Abolitionismus-Bewegung in den USA – das erste Mal, zumindest ist es das erste Mal dokumentiert, über Intersektionalität gesprochen als sie sagte: „Ain’t I a women? (Bin ich etwa keine Frau?)“. Was sie sagen wollte war: „Nur weil ich Schwarz bin, heißt es nicht, dass ich nicht auch eine Frau bin – ich habe trotzdem die Identität Frau.“ Später haben viele Aktivist_innen, Schriftsteller_innen, Denker_innen in den USA – alles Schwarze Frauen – das Thema der Intersektionalität artikuliert, ohne es beim Namen zu nennen: Angela Davis, Bell Hooks, Audre Lorde, Patricia Hill Collins. Diejenige, die das Wort Intersektionalität erfunden hat, ist Jura-Professorin Kimberly Crenshaw, die dem Konzept einen Namen gegeben hat.

MuP: Kimberly Crenshaw ist Ehrenpräsidentin des Centers for Intersectional Justice (CIJ). Mit welchem Ziel haben Sie 2017 das CIJ geründet?

Roig: Die Motivation war, eine Lücke in der politischen Landschaft und auch in der Zivilgesellschaft zu schließen. Bislang hatte sich keine einzige Organisation der Überschneidung unterschiedlicher Diskriminierungsformen gewidmet. Ich habe eine Chance darin gesehen, Diskriminierung effektiver zu bekämpfen und den Diskurs zu verändern. Ich wollte einen Paradigmenwechsel anbieten, der uns erlaubt in einer Art und Weise über Diskriminierung zu sprechen, die sich nicht mehr nur auf die individuelle Seite von Diskriminierung fokussiert, sondern wirklich eine systemische Perspektive auf das Problem wirft.

MuP:  Wo stehen wir 2021 in Deutschland im Diskurs um Rassismus?

Roig: Wir brauchen noch viel Arbeit. 2020 begann eine Debatte im europäischen Raum über systemischen Rassismus. Zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg war klar, dass Europa ein Rassismusproblem hat. Rassismus können wir nicht mehr in die Vergangenheit oder in den USA und Nordamerika auslagern – es findet auch hier zu Lande statt. Das war ein erster wichtiger Schritt.

Es ist aber noch nicht abgeschlossen und ich glaube, dass es um einen Prozess geht. Es gibt immer noch sehr, sehr viel Widerstand, was dieses Thema angeht. Auch die Debatte um Identity Politics (dt. Identitätspolitik) ist ein Symptom davon. Viele Menschen fühlen sich bedroht von Befreiungsbewegungen - und Identitätspolitik ist nichts anderes als eine Bewegung für die Befreiung von Menschen, die bisher benachteiligt, unterdrückt und als unterlegen konstruiert wurden.             

MuP: Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft im Einsatz gegen Rassismus? Sie selber waren beruflich in der Entwicklungszusammenarbeit tätig.

Roig: Die Zivilgesellschaft spielt eine zentrale Rolle. Es ist allerdings problematisch, dass die Zivilgesellschaft und Vereine mit ihrer Rechtsform beispielsweise viel weniger politische Macht haben. Politische Macht ist in unserer Gesellschaft mit Geld verbunden. Die Tatsache, dass Nichtregierungsorganisationen und Organisationen der Zivilgesellschaft vom Staat und auch von privaten Unternehmen durch ihre Abhängigkeit von Geldern kontrolliert werden, schwächt ihre Reichweite und Macht. Deswegen ist es wichtig anzuerkennen, dass die Zivilgesellschaft nicht vollkommen unabhängig ist.       
              
Ich habe bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und den Vereinten Nationen, der UN gearbeitet und ich würde diese nicht als zivilgesellschaftliche Organisationen bezeichnen, sondern als staatliche Organisationen. Sie vertreten keine globalen Interessen von Gerechtigkeit und vom Ende der Armut etc. Jedes Mal, wenn ich über die sogenannte Entwicklungszusammenarbeit spreche, ist es mir wichtig zu sagen, dass das auch eine Industrie der Aufrechterhaltung von Ungleichheiten ist – auch wenn es eben nicht absichtlich gemacht wird. Ich würde sagen, dass 99 Prozent der Menschen, die in diesen Institutionen arbeiten, an den Auftrag glauben. Es fehlt ihnen vielleicht nur die kritische Brille, um ihre Arbeit von außen zu betrachten. Es ist eher ein systemisches Problem, was mit der Entstehungsgeschichte dieser Entwicklungszusammenarbeitsorganisationen zusammenhängt. Diese ist nicht neutral und in einer direkten Kontinuität mit dem Kolonialismus zu sehen.  

MuP: Was können Organisationen konkret tun?

Roig: Es gibt in diesen Institutionen viele Menschen, die extrem positive Ansichten haben und auch sehr positive Beiträge leisten können in Richtung Gerechtigkeit. Sie sind aber gefangen in Systemen, die auf Hierarchien basieren, die aufgebrochen werden sollten. Das sind koloniale Hierarchien und auch teilweise rassistische Hierarchien. Deswegen: Was diese Organisationen machen können, ist sehr limitiert. Man müsste auf jeden Fall das Fundament von solchen Organisationen kritisch in Frage stellen. Und auch manchmal verstehen, was ist das Raison d'Être, was der Auftragvon diesen Organisationen? Warum sind sie da?

MuP: Wie gelingt der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft? Was ist Ihr Appell am Ende ihres Buches Why We Matter?

Roig: Mein Appell ist ein spiritueller Appell. Das kommt in unseren Gesellschaften nicht gut an, die Spiritualität sehr stigmatisieren. Religion ist okay, aber Spiritualität nicht. Bei der Spiritualität geht es einfach nur darum, die universelle Verbindung zwischen Lebewesen zu stärken. Wir können versuchen, alle Gesetze zu ändern, sehr komplexe Rahmenbedingungen zu schaffen und alles zu regeln. Solange unsere Köpfe sich aber nicht ändern, solange wir die Wunden der Vergangenheit nicht heilen – kollektiv und gemeinsam – werden wir nicht vorankommen.

Ein Ansatz, der in den USA immer breiter diskutiert wird und sich sehr stark entwickelt, ist der Nexus zwischen Social Justice (dt. soziale Gerechtigkeit) und Spiritualität – das brauchen wir auch in Europa. Ich bin eine Verfechterin davon, Spiritualität zu de-stigmatisieren, die im Moment sehr negativ gesehen wird. Das hat mit der Aufklärungszeit und dem Kolonialismus zu tun, mit der Höherrangigkeit und Überlegenheit von rationalem Denken, von materiellen Sphären. Wir haben das jedoch so tief verinnerlicht, dass ich auch bei mir eine Art Selbstzensur wahrnehme und mir denke: „Nein, ich kann sowas nicht sagen. Es wird nicht gut ankommen. Es ist keine Perspektive, die in unserer Gesellschaft einen Platz hat.

Gesetze müssen verändert werden. Aber wir haben auch die Black Lives Matter-Bewegung letztes Jahr und diese enorme Kraft, die aus dem Nichts heraus entstanden ist, gesehen. Es gab vorher eine sehr wichtige und sehr sichtbare Black Lives Matter-Bewegung, aber das, was letztes Jahr passiert ist, hat die Anliegen auf ein nächstes Level gebracht. Ich würde sagen, dass ein kollektiver Bewusstseinswandel entstanden ist und die Menschheit auch kollektiv bereit war, manche Muster der Unterdrückung zu sehen, die bisher im Schatten geblieben waren.      

MuP: Wie können auch NPOs Veränderungen anstoßen?

Roig: Ich würde sagen, dass es ganz wichtig ist, überhaupt Muster der Unterdrückung sichtbar zu machen. Und das fängt mit der Anerkennung an, dass es Unterdrückung gibt. Das ist wirklich ein Anfang, der noch nicht selbstverständlich ist. Es gibt immer noch viele Menschen, die das Gespräch darauf fokussieren, ob Unterdrückung überhaupt existiert: „Aber gibt es wirklich Rassismus? Wir müssen das beweisen. Gibt es wirklich Sexismus? Da bin ich mir nicht sicher. Wir sind in Deutschland im Jahr 2021. Nein, nein, das gibt es nicht mehr.

Es gibt eine ständige Minimierung und einen ständigen Zweifel, die solche Bewegungen schwächen. Was alle Menschen machen können ist: Anfangen, das nicht mehr anzuzweifeln. Es ist ein Fakt, wir leben in einer ungleichen, ungerechten Gesellschaft. Es ist heute besser als vor fünfzig, vor sechzig Jahren oder vor hundert Jahren, klar, zum Glück! Aber das kann auch besser werden.

Dieser Diskurs, der uns sagt: „Früher war das viel schlimmer, heute sind wir gut.“ ist sehr problematisch. Wenn wir das immer gedacht hätten, dann wären wir nicht weitergekommen. Wir hätten uns zufriedengestellt mit der Situation, wie sie war. Um voranzukommen müssen wir den Menschen, die in unserer Gesellschaft am meisten benachteiligt werden, eine Stimme geben.         

Wir bedanken uns für das Interview!       
Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder.

Dieses Interview wurde verschriftlicht und redaktionell überarbeitet. Bonn, 2021

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