Mit Community Organizing Engagement vor Ort fördern

Ein Interview mit Susanne Sander

Susanne Sander ist stellvertretende Leiterin des Deutschen Instituts für Community Organizing (DICO) an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Die Politologin ist erfahrene Quartiersmanagerin und Community Organizerin, aktuell bei der jüngsten Bürgerplattform in Berlin Spandau. Sie widmet sich u.a. der Aus- und Weiterbildung hauptamtlicher Organizer_innen und ehrenamtlicher Schlüsselpersonen und ist Expertin für Konzepte von Bürgerbeteiligung sowie Reformprozessen in Organisationen.

MuP: Frau Sander, was steckt hinter Organizing im Allgemeinen und Community Organizing im Besonderen?

Sander: Organizing ist ein unscharfer Begriff, der oft mit Mobilisierung gleichgesetzt wird. Community Organizing versteht sich als demokratischer Ansatz zum Aufbau unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen – Bürgerplattformen – mit dem Ziel der Mitgestaltung in einem lokalen Raum.

MuP: Was ist das Besondere am Konzept (Community) Organizing im Vergleich zu anderen Mobilisierungskonzepten? Welche Rolle spielt Beteiligung?

Sander: Im Community Organizing stehen die Beziehungen – nicht Themen – an erster Stelle. Deshalb wird zunächst in den Aufbau von Beziehungen zu Schlüsselpersonen in sehr unterschiedlichen Gruppen investiert. Im zweiten Schritt werden diese dann untereinander zusammengebracht, um sich kennenzulernen. Das ist notwendig, denn es geht um ein Kennenlernen über soziale, kulturelle, religiöse und ethnische Grenzen hinweg. Erst wenn genug Vertrauen untereinander und der Wunsch zusammenzuarbeiten bestehen, kommt es zur Gründung einer Bürgerplattform und zur gemeinsamen Auswahl erster Themen, die bewegt werden sollen. Dabei handelt es sich nicht um eine Beteiligung von Menschen an etwas, sondern um einen Selbstermächtigungsansatz, der Menschen stärkt und unterstützt ihre Anliegen erfolgreich voranzubringen, ohne, dass sie sich ideologisch binden müssen. So kann man Menschen für das politische Engagement gewinnen, die sich sonst eher als „unpolitisch“ bezeichnen würden oder deren Vertrauen in Entscheidungsträger verloren gegangen ist. Statt zu mobilisieren, geht es um das systematische Organisieren von Menschen aus den Mitgliedsgruppen für das gemeinsame Ziel als starke, unabhängige Bürgerplattform etwas bewegen zu können.

MuP: Welche Voraussetzungen müssen für die Durchführung von (Community) Organizing erfüllt sein? Was braucht es für einen erfolgreichen Prozess?

Sander: Bürgerplattformen nach dem Ansatz des Community Organizing sind Organisationen, die langfristig agieren und nicht von heute auf morgen gegründet werden. Ein Aufbauprozess benötigt ca. 2 Jahre, um eine relevante Anzahl und Diversität von Gruppen zusammenzubringen. Dafür wiederum braucht es „Seed Money“, d.h. unabhängiges Geld von Unternehmen, Stiftungen etc., von dem eine hauptamtliche Organizerkraft, deren professionelle Begleitung durch das Deutsche Institut für Community Organizing, sowie Trainings für Schlüsselpersonen etc. bezahlt werden können. Auf staatliches Geld sowie Geld, das an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, wird zugunsten der Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit verzichtet. Das gilt auch für die Arbeit nach der Gründung einer Bürgerplattform. Allerdings bezahlen die Gruppen dann auch Mitgliedsbeiträge, um einen Teil der Kosten selbst zu tragen.

MuP: Beim Community Organizing geht es darum, allen vertretenen Gruppierungen im Gemeinwesen Beteiligung zu ermöglichen. Wie schaffen es Organizer_innen gerade Menschen, die sich sonst nicht beteiligen, in den Prozess einzubeziehen? Worauf gilt es dabei zu achten?

Sander: Community Organizing geht davon aus, dass alle Menschen unabhängig von ihren Unterschieden ein Interesse daran haben in ihren Stadtteilen/Städten ein gutes Leben für sich und Ihre Familien zu führen. Dieses Interesse eint und es ist immer wieder erstaunlich wie ähnlich die Beschreibungen der Missstände sind. Das voneinander zu hören, schafft Solidarität und Verständnis füreinander.
Darüber hinaus sind zwei weitere Dinge wichtig: Die Arbeitsstrukturen müssen einfach und zeitlich überschaubar gehalten werden. Deshalb beruht die Zusammenarbeit auf Vertrauen und Gleichberechtigung (Jede Gruppe hat eine Stimme) und nicht auf der Gründung von Vereinsstrukturen mit Vorsitzenden, Protokollen etc. Das zweite ist das gemeinsame Aneignen von Wissen und der Ausgleich von Wissens- und Informationsunterschieden durch die Organizer_innen. Wichtig sind die persönlichen Erfahrungen. Die haben alle.

MuP: Wie wird in Organizing-Prozessen mit widersprüchlichen Interessen und Konflikten umgegangen?

Sander: Bürgerplattformen nach dem Ansatz des Community Organizing sind auf die Inklusion von Vielfalt ausgerichtet. Im Vordergrund der Zusammenarbeit steht die Identifizierung gemeinsamer Interessen bezogen auf die Veränderung lokaler Missstände. Es werden in der Regel immer 2-3 Themenkampagnen gleichzeitig bearbeitet. Das ermöglicht jeder Gruppe ein Thema zu finden, das ihren Interessen entspricht. Alle Themen werden jedoch gemeinsam beschlossen und dann auch solidarisch getragen. In den Kampagnen wird pragmatisch und kompromissorientiert vorgegangen und nicht ideologisch. D.h. zum Beispiel, dass man auf die Entscheidungsträger zugeht, die in einer Kampagne maßgeblich sind, unabhängig davon, ob einem die Partei gefällt, der diese Person angehört.

MuP: Wie kommt man vom einmaligen Engagement für eine Sache mit Hilfe von Organizing zu nachhaltigen, längerfristigen Engagementstrukturen?

Sander: Bürgerplattformen sind auf Dauer angelegt. Als Organisationsform schaffen sie die Voraussetzungen für die Mitgliedsgruppen Themen erfolgreich bearbeiten zu können, die sie einzeln nicht bewegen können. Diese Themen sind nicht starr: Themenkampagnen enden und neue folgen. Da Bürgerplattformen mit Gruppen und nicht mit Einzelnen arbeiten, bleibt die Mitgliedschaft erhalten auch wenn einzelne Akteure in den Gruppen wegfallen oder sich ändern. Trotzdem treten auch mal Gruppen aus und neue Gruppen ein. In der Regel bleibt die Mehrzahl der Gruppen jedoch dabei. Das liegt auch daran, dass die Einzelnen sich über die Mitarbeit und die Trainings in ihrem öffentlich politischen Auftreten und Handeln professionalisieren können, wovon auch die Gruppen sehr profitieren.

MuP: Wer steuert den Prozess?

Sander: Das Deutsche Institut für Community Organizing DICO, das Kompetenzzentrum für den Aufbau von Bürgerplattformen in Deutschland, stellt und begleitet die hauptamtlichen Organizer_innen, bietet Trainings für ehrenamtliche Schlüsselpersonen und unterstützt bei der Akquise und treuhänderischen Verwaltung der Finanzen. Mehr und mehr Gruppen nutzen das DICO auch für die gruppeninterne Weiterentwicklung, wie z.B. die Identifizierung und Einbindung neuer Schlüsselpersonen aus den eigenen Reihen. Das Institut bringt sein internationales Netzwerk in die Kooperationen ein und ermöglicht den Austausch mit Bürgerplattformen z. B. in den USA und Großbritannien. Es begleitet und berät beim strategischen Vorgehen während eines Aufbauprozesses sowie in den Themenkampagnen. Jährlich werden die Kooperation mit dem DICO und die Zusammenarbeit mit den lokalen Organizer_innen von den Bürgerplattformen auf Klausurtagen neu beschlossen. Die Themen und Beschlüsse werden ausschließlich von den Mitgliedsgruppen entschieden/gefasst.

MuP: Was muss man tun, damit ein Organizing-Prozess garantiert schief läuft? Welche Stolpersteine gibt es?

Sander: Zu den Stolpersteinen gehören zu wenig unabhängiges Geld im Gründungsprozess, nicht ausgebildete Organizer_innen sowie zu wenig Vielfalt an heterogenen Gruppen im lokalen Raum. Eine Bürgerplattform in einem Dorf oder einer kleinen Gemeinde erfüllt weder das Kriterium der Diversität noch kann damit die Kraft aufgebaut werden, die benötigt wird, um in möglichen Auseinandersetzungen mit Politik und Wirtschaft realistisch etwas bewegen zu können.

MuP: Was können Ihrer Meinung nach zivilgesellschaftliche Organisationen vom Community Organizing lernen? Was empfehlen sie Ihnen, wenn sie für Engagement vor Ort mobilisieren wollen?

Sander: Andere zivilgesellschaftliche Organisationen können von CO das nachhaltige Organisieren und das Einbinden von Vielfalt lernen.
Was mich auch an Community Organizing begeistert und von dem andere ebenfalls lernen können, ist das pragmatische Vorgehen. Zunächst wird immer erst recherchiert, ob ein Thema gewinnbar ist und die eigene Stärke ausreicht dieses zu bewegen.


Wir bedanken uns für das Interview!
Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder.

Bonn, 2018

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