Ein Platz am Tisch für sozialen Wandel - Lobbyarbeit der Zivilgesellschaft

Interview mit Prof. Alberto Alemanno

Alberto Alemanno ist Professor für Rechtswissenschaften, Autor und Anwalt. Er ist bekannt für Arbeiten zur Demokratisierung der EU und eine bürgernahe und informierte Gestaltung von Politik. Er ist Jean-Monnet-Professor für EU-Recht an der École des hautes études commerciales de Paris und Gründer von The Good Lobby, eines Non-Profit-Startups. Sein aktuellstes Buch ist „Lobbying for Change: Find Your Voice to Create a Better Society” (2017).

MuP: Professor Alemanno, lassen Sie uns direkt einsteigen: Non-Profit-Organisationen und andere Akteur_innen der Zivilgesellschaft haben signifikant weniger Ressourcen, um die eigene Lobbyarbeit zu finanzieren. Wie viele NPOs in der EU nutzen überhaupt Lobbying, um ihre Interesse in der Politik wirksam zu vertreten?

Alemanno: Lobbying ist eine der wirksamsten Formen, um sozialen Wandel politisch zu implementieren. Indem zivilgesellschaftliche Akteur_innen neue Spielregeln einfordern, können sie die Ursachen für die großen Herausforderungen unserer Zeit bekämpfen, nicht nur ihre Symptome. Trotzdem betreiben nur wenige Organisationen Lobbyarbeit – und wenige wissen, wie Lobbying eigentlich funktioniert. Das hat Gründe: Lobbying hat ein negatives Image, mit dem viele zivilgesellschaftliche Organisationen nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Wie kann eine als korrupt und selbstbezogen wahrgenommene Tätigkeit die guten und noblen Ziele von NPOs voranbringen? Bezeichnend ist, dass zivilgesellschaftliche Organisationen, die Lobbyarbeit betreiben, das Wort selbst gar nicht verwenden, sondern lieber vom weniger belasteten Begriff Advocacy sprechen.

Während also zivilgesellschaftliche Organisationen still und höflich an der Seitenlinie sitzen und nicht für die von ihnen vertretenen benachteiligten und zu wenig repräsentierten Gruppen sprechen, verspielen sie ihre Chance und ihr Recht auf Interessenvertretung und stärken damit die Einflussnahme weniger anderer. Obwohl es paradox klingt, sind es damit 8 nicht die wenigen, die überrepräsentiert, sondern die vielen, die in der heutigen Politik und Gesetzgebung unterrepräsentiert sind. Dies verstärkt politische Ungleichheit und delegitimiert Lobbying in den Augen der Öffentlichkeit nur weiter.

Es stimmt, dass NPOs im Vergleich zu privaten Konzernen weniger Ressourcen für ihre Lobby- und Advocacyarbeit zur Verfügung haben. Mehr Ressourcen sind aber nicht gleichbedeutend mit mehr Einfluss. Was zivilgesellschaftliche Organisationen systematisch schwächt, ist der ungleiche Zugang zu Macht. Die COVID-Pandemie hat dieses Ungleichgewicht noch verstärkt: Studien haben gezeigt, dass NPOs und andere Akteur_innen der Zivilgesellschaft ihre Lobby- und Advocacyarbeit deutlich reduzieren mussten – mehr als private Unternehmen.

MuP: Sie sind der Gründer und Leiter Organisation The Good Lobby. Worum geht es in Ihnen und Ihrem Team?

Alemanno: The Good Lobby ist eine Non-Profit-Organisation, die sich für einen gleichberechtigten Zugang aller und für eine inklusivere, engagiertere Demokratie einsetzt. The Good Lobby stärkt die demokratische Teilhabe von Bürger_innen und Zivilgesellschaft nach dem Bottom-up-Prinzip, um sozialen Wandel zu ermöglichen. Um das zu erreichen, werben wir für Lobbying als legitimen Bestandteil einer beteiligungsorientierten Demokratie.

Es ist unser Ziel, den Zugang zu politischer Einflussnahme zu demokratisieren. Wir unterstützen zivilgesellschaftliche Projekte und Kampagnen und bringen sie mit unseren kompetenten Ehrenamtlichen aus Kanzleien, Beratungsunternehmen, progressiven Firmen oder aus dem Wohltätigkeitssektor zusammen. Wir bauen diese unkonventionellen Allianzen auf und stärken sie in ihrer Zusammenarbeit.

So können wir politische Entscheidungen und Gesetzgebung beeinflussen, unsere politischen Mandatsträger_innen in die Pflicht nehmen und letztlich neue Lösungen entwickeln, um das Gemeinwohl zu stärken. The Good Lobby ist eine Bewegung für verantwortungsvolles und ethisches Lobbying mit Büros in Brüssel, Mailand, Paris und Bilbao mit hunderten Partnerorganisationen – von wohltätigen Organisationen bis zu progressiven Unternehmen, von Akademiker_innen bis Bewegungen der Zivilgesellschaft.

MuP: Warum ist es wichtig, Bürger_innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu helfen, Lobbying für die gute Sache zu betreiben? Vor welchen Herausforderungen stehen NPOs?

Alemanno: Das Hauptproblem sind nicht die überrepräsentierten Konzerne: Sie sind legitime Akteur_ innen im politischen Handlungsraum. Problematisch ist, dass Bürger_innen und Zivilgesellschaft unterrepräsentiert sind. Wir wollen daher good lobbies schaffen und Bürger_innen und Zivilgesellschaft helfen, um der Übermacht der Konzerne etwas entgegenzusetzen. Das stärkt die Demokratie und macht sie beteiligungsorientiert.

Es gibt zwei große Herausforderungen, vor denen zivilgesellschaftliche Akteur_innen stehen, wenn es um das Thema Lobbying geht: Einen Platz am Tisch bekommen und die eigene Arbeit finanzieren. Es kann unter anderem helfen, wenn NPOs einen besseren Einblick – z.B. in das Lobbyumfeld auf EU-Ebene – bekommen und unkonventionelle Kooperationen mit anderen Akteur_innen eingehen. Wenn es um die Finanzierung von Lobby- und Advocacyarbeit geht, sollten Organisationen auf ein großes Netzwerk von Berater_innen zurückgreifen. Diese arbeiten für zivilgesellschaftliche Organisationen oft kostenlos. Es kann allerdings schwierig sein, finanzielle Unterstützung von Stiftungen zu bekommen, da diese vor der politischen Bedeutung von Lobbying und Advocacyarbeit oft zurückschrecken.

MuP: Wie können NPOs einen Platz am Tisch bekommen?

Alemanno: Übermäßiges Lobbying von Konzernen ist der Grund für fehlenden Fortschritt in wichtigen Bereichen – von der Klimakrise zu extrem hohen Manager_innengehälter, von Kosten für Arzneimittel bis zum Einsatz von Pestiziden oder der Werbung für Zigaretten. Die Phänomene existieren, weil wir weder individuell noch kollektiv einschreiten.

Die Mission von The Good Lobby ist es, die Gesellschaft vorzubereiten, damit sie einschreiten kann. Dafür müssen Bürger_innen und NPOs wissen, wie sie sich politisch einbringen können – ob auf EU-Ebene oder national. Es gibt auch jetzt schon Wege, Interessenvertretung in Politik und Regierungen umzusetzen, ob in der Legislative, Verwaltung oder juristisch. Bürger_innen können Anhörungen nutzen, eine Petition aufsetzen, eine Kampagne starten oder Zugang zu bestimmten Informationen beantragen. Diese Formen der Partizipation gibt es faktisch überall in der EU und in den OECD-Staaten. Trotzdem sind sie wenig bekannt und werden selten genutzt.

Um heute einen Platz am Tisch zu bekommen, braucht es Offenheit und Verständnis, dass man nicht alleine mit dem eigenen Anliegen ist. Bilden Sie unkonventionelle Allianzen zwischen ähnlich denkenden Stakeholdern. Wer arbeitet bereits an meinem Thema? Wer könnte Glaubhaftigkeit oder Reichweite für meine Kampagne schaffen?

Letztlich braucht es unbedingt auch eine gute Kommunikationsstrategie. Nutzen Sie die Medien und die sozialen Medien, um Ihre Anliegen bekannt zu machen – auch für die Politik.

MuP: Wie können Bürger_innen und NPOs effektiver Lobbying betreiben? Was sind die wichtigsten Werkzeuge und wo kann man Unterstützung finden?

Alemanno: In meinem Buch „Lobbying for Change: Find Your Voice to Create a Better Society” nenne ich zehn Schritte, die Bürger_innen nehmen können, um effektive Lobbyist_innen zu werden. In Kürze: Seien Sie gut vorbereitet und machen Sie Ihre Hausaufgaben. Stecken Sie ab, wer Ihre Stakeholder sind, lesen Sie relevante Gesetzgebung und entwerfen Sie einen realistischen Plan für Ihr Vorhaben. Als nächstes legen Sie los! Bilden Sie Netzwerke, veröffentlichen Sie Inhalte und treffen Sie politische Entscheidungsträger_innen. Stellen Sie sicher, dass Sie Ihre Fortschritte beobachten und Ihr Anliegen im Auge behalten. 

Wir bedanken uns für das Interview!       
Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder.

Dieses Interview wurde aus dem Englischen übersetzt und redaktionell überarbeitet. Bonn, 2020

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