Volker M. Heins und Frank Wolff: Hinter Mauern

Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp Verlag (2023)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Hans-Peter Schunk
Hans-Peter Schunk ist Doktorand am Seminar für Neueste Geschichte der Philipps-Universität Marburg


buch|essenz

Kernaussagen

Westliche Staaten scheitern an ihrer selbstgestellten Aufgabe, die Grenzen für alle „unerwünschten“ Migrant_innen dicht zu machen, Schleuser_innen das Handwerk zu legen oder Fluchtursachen selbst zu bekämpfen. Anstatt sich dieser Realität zu stellen, flüchten sie sich in die Illusion geschlossener Grenzen und korrumpieren bei dem Versuch, diese Fantasie Wirklichkeit werden zu lassen, die eigene Gesellschaft. Ein Lösungsvorschlag besteht in der „Demokratisierung der Grenzen“.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Soziale Demokratie setzt sich konsequent für die humane Aufnahme von Geflüchteten und eine gerechte Verteilung von Asylsuchenden innerhalb der Europäischen Union ein. Gleichzeitig befürwortet sie die Stärkung der EU-Grenzkontrollen und die europäische Zusammenarbeit zur Bewältigung der großen Anzahl von Geflüchteten. Angesichts des plötzlichen Anstiegs der Zuwanderung in der jüngsten Vergangenheit, beispielsweise im Jahr 2015, und angesichts der Pläne von Bundeskanzler Scholz im Herbst 2023, in der Migrationspolitik einen härteren Kurs zu verfolgen, bietet das vorliegende Buch wertvolle Perspektiven für eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlich polarisierenden Thema Migration.


buch|autoren

Volker M. Heins, geboren 1957, ist Permanent Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Als Gastwissenschaftler war er unter anderem in Harvard, Jerusalem und Yale tätig. 2021 erschien sein für den NDR-Sachbuchpreis nominiertes Buch „Offene Grenzen für alle. Eine notwendige Utopie.“


Frank Wolff, geboren 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar für Neueste Geschichte und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.


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buch|inhalt

1. Europa: Einwanderungskontinent mit Rassismusproblem

Europa befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach globaler Anziehungskraft und der Furcht vor weltweiten Einwanderungsbewegungen. Einerseits betrachtet sich der Kontinent als einwanderungsfreundlich, andererseits wird die Einwanderungskontrolle an seinen Außengrenzen oft als letzte Bastion der nationalen Souveränität gesehen, insbesondere da die europäischen Binnengrenzen durchlässiger geworden sind.

In diesem Kontext zeichnet sich ein besorgniserregender Trend ab, der weg vom Schutz von Geflüchteten führt. Ein Beispiel hierfür ist die umstrittene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2022, Pushbacks unter bestimmten Umständen als legal zu betrachten, obwohl sie im internationalen Flüchtlingsrecht verboten sind. Dieser Umgang mit Migration und Flucht wirft Fragen zur Gleichheit vor dem Gesetz auf. Anscheinend ist das Migrationssystem in rassistischen Strukturen verwurzelt. „Weißsein“ oder die Wahrnehmung, „weiß“ zu sein, verleiht privilegierte Positionen in den Machtstrukturen westlicher Gesellschaften, während „Nicht-Weißsein“ oft den Ausschluss von Ressourcen und Chancen bedeutet.

Die Europäische Einigung hat das Ziel, Grenzen für Waren und Menschen immer durchlässiger zu gestalten. Gleichzeitig treten jedoch biopolitische Grenzen zutage, bei denen Institutionen und Organisationen Personen aufgrund ihrer ethnischen, nationalen oder kulturellen Herkunft regelmäßig und überproportional benachteiligen, unabhängig von den Absichten der politischen Entscheidungsträger_innen. Diese Grenzen setzen die Tradition einer historisch rassistisch geprägten Sozial- und Wirtschaftspolitik fort, die von der EU weiterhin vertieft wird und die Kluft zwischen europäischen Metropolen und der postkolonialen Welt vergrößert.

Bereits unmittelbar nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1957 zeigte sich ein Bruch zwischen Europa und dem globalen Süden. Dies äußerte sich beispielsweise im Ausschluss und in der diskriminierenden Behandlung bestimmter Gruppen wie etwa der algerischen Muslime, obwohl diese formell französische Staatsbürger waren. Dieser Bruch symbolisiert eine Vereinigung Europas, die hauptsächlich im Einklang mit ihrem Selbstbild als weiße Gesellschaft erfolgte.

In den letzten Jahren ist die Südgrenze der EU im Mittelmeer zur gefährlichsten Grenze der Welt geworden, was dazu geführt hat, dass der Schengen-Raum inoffiziell als „neuer Eiserner Vorhang“ bezeichnet wird.

2. Europa: Versprechen und Verbrechen: Europäischer Frieden und „crimes of peace“

Europa ist nicht nur eine geografische Bezeichnung, sondern auch ein universelles Versprechen, dessen vorrangiges Ziel der Frieden ist. Die ursprüngliche Idee war, dass Freizügigkeit zur Erreichung dieses Friedens beitragen sollte. Diese Idee bildete eine grundlegende Triebkraft für die europäische Einigung. Erst auf dem Weg zur Schaffung des Schengen-Abkommens wurde die Idee einer europäischen Außengrenze konzipiert, die heute hauptsächlich der Abwehr von Migration dient. In der gegenwärtigen Zeit betrachtet der Westen die Abschottung und den Bau immer höherer symbolischer, rechtlicher und physischer Mauern als Schutzmechanismus gegen Bedrohungen, wobei die Migration ein zentrales Bedrohungsszenario darstellt. Dies hat zu einer Neuinterpretation des Friedensversprechens geführt, weg von Freizügigkeit und hin zur Sicherheit im Sinne von Recht und Ordnung, wobei „angemessene Maßnahmen“ zur Abwehr von Migrant_innen als legitim im Namen dieser Sicherheit betrachtet werden.

Die sichtbare Gewalt, die sich an den Grenzen Europas durch das in Kauf genommene Elend manifestiert, wird zunehmend offensichtlicher. Tausende Menschen verlieren ihr Leben bei verzweifelten Versuchen, nach Europa zu gelangen, sei es im Mittelmeer, der Sahara oder etwa an den Grenzzäunen zu Belarus. Diese Gewalt wird oft unter dem Vorwand der Sicherheit ausgeübt, zieht jedoch Spillover-Effekte nach sich, die die Grundfesten der Gesellschaft untergraben könnten. Das europäische Grenzregime stützt sich auf exzessive Gewalt gegenüber Zivilist_innen, um „illegale“ oder „irreguläre“ Migration zu verhindern. Dieses Framing hat sich so weit normalisiert, dass Politik und Medien oft von „illegalen“ Migrant_innen sprechen, wenn sie eigentlich Schutzsuchende meinen. „Irreguläre“ Migration wird dabei nicht nur als Problem, sondern auch als eine Bedrohung für Europa betrachtet, die oft in einem Atemzug mit Terrorismus und organisierter Kriminalität genannt wird. Dies schafft eine Rhetorik der Bedrohung und der Alternativlosigkeit im Handeln, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das gegenwärtige Grenzregime aufrechterhalten werden muss. Gewalttaten an den Grenzen sind keine zufälligen Ausnahmen, sondern vielmehr ein systematischer Bestandteil der Grenzverteidigung. Die politischen Entscheidungsträger_innen müssen sich daher mit der Vereinbarkeit dieses Grenzregimes mit den europäischen Werten und dem Versprechen Europas auseinandersetzen.

In den letzten Jahren hat sich im Diskurs vermehrt die Bezeichnung „Festung Europa“ etabliert, obwohl sie historisch irreführend ist. Die Metapher der Festung betont die Abschottung, während moderne Grenzen sowohl offen als auch geschlossen sein können. Sie schafft eine kollektive Vorstellung, die Realitäten beeinflusst. Dies trifft auch auf die Metapher von Europa als gepflegtem Garten und dem Rest der Welt als wildem Dschungel zu. Diese Metapher zieht oft die Metapher von der Ausrottung von Unkraut nach sich und hat ihre Wurzeln in kolonialen Konzepten, die auch im italienischen Faschismus verwendet wurden. Solche sprachlichen Wendungen verschärfen den Diskurs durch ihr gezieltes Framing, das bereits im Sprachgebrauch des Nationalsozialismus zu finden war.

3. Die Grenze greift nach innen aus: Gesellschaftliche Konsequenzen der Abschottung

Welche Gründe sollten potenzielle Migrant_innen haben, die Überschreitungsregeln der Grenzen von Staaten zu respektieren, die oft eine Mitverantwortung für ihre Not haben? Grenzen haben in der Realität eine geringere normative Bedeutung, als oft angenommen wird. Geschlossene Grenzen korrumpieren jedoch die Demokratie, indem sie die Abkehr der Regierungspraxis von den konstitutiven Prinzipien der Republik sowie die Erosion der zivilen Alltagsmoral begünstigen. Die Akzeptanz von Gewalt gegen Zivilist_innen in Friedenszeiten ist nicht selbstverständlich. Sie erfordert politische Konstruktionen von Bedrohungsszenarien, wobei die Abwehr angeblich unerwünschter Migrant_innen häufig als Vorwand dient, um den Willen des Volkes zu artikulieren. Solidarität mit Migrant_innen kann dabei diskreditiert oder sogar kriminalisiert werden.

Einige Regierungen versuchen, die öffentliche Wahrnehmung von Migration durch gezieltes Wahrnehmungsmanagement zu beeinflussen. Ihr Ziel ist es, den Eindruck zu erwecken, dass Grenzen notwendig sind, um den Sozialstaat, die eigene Identität, Arbeitsplätze, das „Abendland“, die innere Sicherheit oder „unsere Frauen“ vor „Fremden“ zu schützen. Oftmals führt die Angst vor vermeintlichen Bedrohungen zur Entstehung von Feindseligkeit gegenüber denjenigen, auf die sie gerichtet ist. Diese Ängste, die von einer vermeintlichen Überflutung westlicher Gesellschaften durch unkontrollierte Migrationsströme aus dem globalen Süden begleitet werden, vermischen sich gelegentlich mit verschwörungstheoretischen Vorstellungen wie der Idee eines groß angelegten Bevölkerungsaustauschs. Wenn das Gefühl der Bedrohung durch Migration das individuelle Bewusstsein durchdringt, kann dies dazu führen, dass das Leid derjenigen, die auf den Migrationsrouten ums Leben kommen, leichter verdrängt wird oder sogar Gleichgültigkeit erzeugt. Man könnte dies metaphorisch als einen „Faschismus des Herzens“ bezeichnen.

Der heutige autoritäre Populismus, der diese Form des Wahrnehmungsmanagements befeuert, unterscheidet sich vom historischen Faschismus insofern, als er tendenziell nach innen gerichtet ist. An die Stelle der alten Klage vom „Volk ohne Raum“ tritt die Angst vor einem Raum ohne „Volk“. Die neuen Rechtsradikalen zielen nicht darauf ab, die Welt zu erobern, sondern sich vor ihr abzuschotten. Dies führt zu Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber jenen, die nicht zum nationalen Kollektiv gehören. Dieser Hass und die Gewalt an den Grenzen verderben nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter_innen und deren Institutionen.

Die Zunahme der gesellschaftlichen Verrohung zeigt sich mit Blick auf die verstärkten europäischen Grenzkontrollen insbesondere in den Aktivitäten von Frontex. Ursprünglich 2004 mit einem Budget von 6 Millionen Euro gestartet, hat Frontex bis 2022 ein Budget von 765 Millionen Euro und agiert als europäische Quasipolizeieinheit. Kritiker_innen bemängeln unzureichende Kontrollmechanismen und behaupten, dass Schattenorganisationen innerhalb von Frontex Fehlverhalten von Grenzschützer_innen vertuschen. Aufgrund mangelnder Transparenz und fehlender öffentlicher Aufsicht ist Frontex zu einem Symbol für Demokratiedefizite in der EU geworden.

4. Schluss: Gegen die Fantasie der „sicheren Außengrenzen“

Innerhalb Europas herrscht keine einheitliche Grenzpolitik. Selbst ein Konsens über die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention fehlt. Vielfach wird sie verwässert, umgangen oder offen verletzt. Trotz der Ordnungsfunktion verlieren Grenzen im Zuge der Internationalisierung des Rechts an Bedeutung. Die Regulierung der globalen Mobilität erfordert daher neue, weitreichende Grenzinfrastrukturen, die die Machtverhältnisse zwischen Staaten und Migranten in Räumen innerhalb und außerhalb der Staatsgrenzen neu verhandeln. Die Schließung der Grenzen bewirkt in erster Linie, dass diejenigen, die bereits in Europa angekommen sind, nicht mehr zurückkehren möchten. Der Grund dafür ist die Angst vor erneuten verbotenen und oft lebensgefährlichen Reisen in Richtung Norden.

Die Idee von „sicheren Außengrenzen“ hat zunehmend die Vision eines weltoffenen Europas verdrängt. Die Rhetorik der „Sicherheit“ verschleiert dabei oft den eigentlichen Zweck der Grenzen, nämlich die Bewegung von Ausgeschlossenen zu erschweren. Der medienwirksame Diskurs über Mauern und Grenzanlagen lenkt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die spektakuläre Inszenierung der Abwehr von Migration und knüpft an die Kontrollverlustängste der Menschen an. Dies lenkt von den langfristigen Folgen und Kosten einer uninspirierten Grenzpolitik ab. Die Inszenierung des Scheiterns der Migrationskontrolle wird dazu genutzt, rassistische Ideologien zu mobilisieren, um letztendlich die weiße Vorherrschaft zu verteidigen. Die fortwährende Normalisierung dieser immer lauter werdenden Forderungen nach Grenzschließungen führt indirekt zu Kosten, die oft verschwiegen werden. Die laute Forderung nach schärferen Grenzkontrollen steht in einem merkwürdigen Kontrast zum Schweigen über die versteckten Folgen und Kosten einer uninspirierten Grenzpolitik. Sowohl Personen mit rassistischer Agenda, die geschlossene Grenzen fordern, um die Migrationspolitik als Hebel zur Umgestaltung von Staat und Gesellschaft zu nutzen, als auch Personen, die aus Sorge vor einer erstarkenden radikalen Rechten handeln, sind auf ihre Weise in dasselbe Projekt der Abschottung verstrickt. Am Ende dieses Projekts stehen die liberale Demokratie und die europäische Friedensidee als Verliererinnen da.

Ein Lösungsvorschlag besteht in der „Demokratisierung der Grenzen“, ohne ihre Abschaffung. Offenere Grenzen und eine demokratische Rechenschaftspflicht der Grenzpolizei könnten die Beziehungen zwischen Migrant_innen und Zielländern stärken. Migrant_innen und Personen, die migrieren möchten, sollten eine stärkere Stimme in den Gesellschaften erhalten, in die sie einwandern möchten. Dies erfordert die Einbeziehung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in die Gestaltung von Grenzen, darunter Gemeinden, Schulen, Arbeitgeber und Menschenrechtsorganisationen. Regelmäßige institutionalisierte Konsultationen und Foren zur Gestaltung der Grenzen könnten das Konfliktpotenzial reduzieren und die Anerkennung fördern, dass die Grenzgestaltung nicht ausschließlich eine staatliche Aufgabe ist. Es ist notwendig, alternative Grenzpolitiken zu diskutieren, einschließlich sogenannter „guter Zäune“, die gute nachbarschaftliche Beziehungen fördern sowie durchlässig, kontrolliert und sinnvoll sind.


buch|votum

Die Beschreibungen und Analysen von Heins und Wolff bieten eine anregende und überzeugende Lektüre. Sie verdeutlichen eindringlich, wie die Flucht in die Forderung nach verstärkter Abschottung und verschärften Grenzkontrollen durch Frontex zu einer Verrohung des gesellschaftlichen Diskurses führt und zugleich rechte Denkrichtungen befeuert. Einige Referenzen, wie etwa auf die biologistische Geopolitik Friedrich Ratzels, auf die im Buch länger eingegangen wird, wirken für den aktuellen Diskurs jedoch etwas weit hergeholt. Besonders wünschenswert wäre es, noch mehr über das vielversprechende Konzept der „Demokratisierung der Grenzen“ zu erfahren. So bleiben Fragen über die konkrete Umsetzung offen.

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Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 27.09.2023
Seiten: 197
ISBN:978-3-518-12807-7

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