Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus

Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden. Köln: Kiepenheuer & Witsch (2022)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Carsten Schwäbe
Carsten Schwäbe hat Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert und arbeitet als Wissenschaftler im Bereich der Innovationsforschung an der Freien Universität Berlin.


buch|essenz

Kernaussagen

Ob der Klimawandel allein durch technologische Innovationen erfolgreich bekämpft werden kann, ist weit weniger klar als viele denken. Wind- und Sonnenenergie, Wasserstoff oder Batterien lassen sich nicht ohne Weiteres in den notwendigen Größenordnungen produzieren. Was aber passiert, wenn die ökologischen Probleme unserer Zeit nicht durch Technologie gelöst werden können? In diesem Fall wird der Kapitalismus als Wirtschaftssystem selbst transformiert werden müssen: Anstelle von immerwährendem Wachstum müssen Produktion und Konsum schrumpfen. Um eine nachhaltige Ökonomie aufzubauen, muss die Knappheit von Ressourcen begriffen und ihre Verteilung so gesteuert werden, dass die zentralen Bedürfnisse der Menschen weiterhin gesichert sind. Wie ein solches Wirtschaftsschrumpfen im Einklang mit den Menschen und ihren Bedürfnissen gelingen kann, zeigt das Beispiel der britischen Kriegswirtschaft ab 1939.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Wenn Güter knapper werden, darf nicht allein der Preis darüber entscheiden, wer Zugang zu ihnen hat; stattdessen müssen sie pro Kopf rationiert werden. Je schwieriger es also ist, die Transformation über Technologien zu erreichen, desto mehr wird die ökologische zu einer sozialen Frage nach einer gerechten Verteilung.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Erschienen: 08.09.2022
Seiten: 352
ISBN: 978-3-462-00255-3


buch|autorin

Nach einer abgeschlossenen Ausbildung zur Bankkauffrau absolvierte Ulrike Herrmann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus. Anschließend studierte sie Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin.

Seit dem Jahr 2000 ist Frau Herrmann Redakteurin bei der tageszeitung (taz). Einem breiteren Publikum bekannt ist sie durch eine Reihe von Bestsellern zu verschiedenen Themen der Sozial- und Wirtschaftspolitik.


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buch|inhalt

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine brachte für Deutschland eine außenpolitische Zeitenwende. Mit dem Ausbleiben russischer Gaslieferungen wurde – plötzlich und unerwartet – aber auch der Transformationsplan der Energiewende in Deutschland hinfällig. Während die Politik gegen zu hohe Energiekosten kämpft und dabei verstärkt auf kurzfristig verfügbare fossile Energieträger setzt, bleibt ein grundsätzlicheres Problem bestehen: Viele Klimaschützer_innen glauben, „dass der Strompreis künftig niedriger sein [werde] als heute.“ Grüne Energie solle also „nicht nur die Menschheit retten – sondern auch noch ein gutes Geschäft sein“. Doch das ist „leider falsch.“ Stattdessen müssten wir den Tatsachen ins Gesicht sehen: Die Energiewende erlaubt keinen Überfluss. Grüner Strom wird knapp und teuer sein und damit das Ende des Kapitalismus einleiten. Warum das so ist, wird verständlich, wenn man sich anschaut, wie der Kapitalismus entstanden ist.

Aufstieg des Kapitalismus – eine Kombination aus billiger Energie und hohen Löhnen

Die zentralen Faktoren für die Entstehung und den Erfolg des Kapitalismus werden im England des 18. Jahrhunderts sichtbar: Die vielen Pestepidemien hatten die Bevölkerung stark dezimiert und dabei gerade in den unteren Schichten der Gesellschaft viele Opfer gefordert. Arbeitskräfte waren also knapp. Die Löhne hingegen waren dreimal höher als auf dem europäischen Festland. Um diese hohen Kosten zu reduzieren, musste der Produktionsprozess so weit wie möglich automatisiert werden. So entstanden die ersten auf Wasser- oder Dampfkraft basierenden Maschinen. Diese Ersetzung von menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen war jedoch nur deshalb möglich und wirtschaftlich profitabel, weil ein zweiter entscheidender Faktor gegeben war, nämlich billige Energie in Form von Kohle.

Entscheidend ist, dass nur dieseKombination aus teurer Arbeitskraft und billiger Energie erklärt, wie es zur Industrialisierung und zum Kapitalismus kam. Dies bestätigt sich beim Blick auf Entwicklungsländer: Die dauerhaft niedrigen Lohnkosten gelten zwar oft als Wettbewerbsvorteil. In Wahrheit führen die niedrigen Lohnkosten jedoch dazu, dass der Anreiz zu Automatisierung und Innovation im Produktionsprozess fehlt. Diese Einsicht hat laut Herrmann Implikationen für die Zukunft. Denn einer dieser beiden Faktoren, die billige Energie, wird in einem künftigen, emissionsfreien Zeitalter nicht mehr zur Verfügung stehen.

Mit dem Kampf gegen den Klimawandel endet das Zeitalter der billigen Energie

Die hohen Emissionen von Treibhausgasen sind eine unmittelbare Folge von billigen fossilen Energien, und einfach verschwinden werden sie nicht. Zum einen sind Filtertechnologien für die Extraktion von CO2 aus der Luft teuer, und zum anderen muss man das CO2 anschließend sicher lagern. Es ist allerdings nicht leicht, geeignete Lagerstätten zu finden. Norwegen zum Beispiel hat seit 1996 mehrere Millionen Tonnen CO2 in den Sleipner gepumpt – eine Struktur, die 1000 Meter unter dem Meeresboden liegt. Ob diese Struktur wirklich dicht ist, weiß allerdings niemand; und selbst wenn ausreichend viele solcher Strukturen gefunden würden, müsste noch die technische Infrastruktur zur Speicherung von CO2 in gasförmiger oder flüssiger Form geschaffen werden. Ohne hohe Subventionen ist das nicht zu machen, und selbst dann ist nicht klar, ob sich die kapitalistische Erfolgs-Story des technischen Fortschritts und der sinkenden Kosten ein weiteres Mal wiederholt, schon öfter hat sie das nicht.

Manche schlagen daher den Ausbau von Atomstrom als emissionsfreie Alternative vor. Als globale Lösung für den Klimawandel scheitert dieser Vorschlag schon daran, dass nicht genügend Material vorhanden ist – vom Problem der Endlagerung ganz zu schweigen. Somit erscheinen Photovoltaik sowie Windenergie an Land und auf See als die größte Chance für die Energiewende. Wenn es gelingt, hinreichend große Kapazitäten aufzubauen, kann nicht nur auf fossile Energieträger zur Stromerzeugung verzichtet werden, sondern es ist dann auch möglich, mittels der Umwandlung von Strom in Wasserstoff die Dekarbonisierung der Chemie-, Zement- und Stahlindustrie zu bewerkstelligen. Die Hoffnung besteht darin, dass Strom infolge des staatlich geförderten Ausbaus von regenerativen Energien bald so günstig sein könnte, dass damit mehr oder weniger alle Probleme gelöst werden können. Hierbei handle es sich jedoch um einen Irrtum, der übersieht, dass unser Bedarf an Strom durch die Digitalisierung immer weiter anwächst und noch weiter ansteigen wird, wenn auch im Wärmebereich und in anderen Industrien Gas durch grünen Wasserstoff ersetzt werden soll. Denn zur Erzeugung und Bereitstellung einer Energieeinheit Wasserstoff ist ein Vielfaches an Stromenergieeinheiten erforderlich.

Hinzu kommt eine ganze Reihe von Herausforderungen beim Aufbau der erforderlichen Energieinfrastruktur. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Für eine flächendeckende Umstellung von Verbrennern auf E-Fahrzeuge wird eine immens große Anzahl von Batterien erforderlich sein, die Ressourcen in Form von seltenen Erden verbrauchen. Darüber hinaus müssen für die Erzeugung erneuerbarer Energien riesige Flächen mobilisiert werden, was angesichts von langwierigen Genehmigungsverfahren nicht nur mit Blick auf die drängende Zeit problematisch ist, sondern auch einen erheblichen Eingriff in die Umwelt darstellt. Ähnliche Schwierigkeiten bestehen bezüglich der Idee, Wasserstoff zu importieren. Sowohl der Umwandlungsprozess von Strom in Wasserstoff und zurück als auch die Verschiffung von flüssigem Wasserstoff sind umwelt- und klimatechnisch bedenklich. Zuletzt ist zu beobachten, dass bisherige Effizienzgewinne durch Innovationsprozesse nur selten in eine ressourcensparende Richtung gelenkt wurden. Beispielsweise wurden Autos nicht spritsparender, sondern bei gleichem Ressourcenverbrauch schneller und größer. Da wenig dafür spricht, dass sich dies in Zukunft ändert, erscheint es unwahrscheinlich, das 1,5- oder das 2-Grad-Ziel durch technologische Innovationen zu erreichen.

Zusammenfassend kommt Herrmann zu dem Schluss, dass es gewagt wäre, „blind darauf zu vertrauen, dass technische Entwicklungen die Klimakatastrophe garantiert verhindern werden.“ Damit kommen wir zurück zum Kapitalismus: Was passiert, wenn die Energie aufgrund politischen Willens oder schlicht aufgrund schierer Notwendigkeit durch sich verschärfende Umweltprobleme knapper wird? Der Kapitalismus wird seines zentralen Erfolgsfaktors beraubt. Als Wirtschaftssystem, das nicht nur auf Wachstum ausgerichtet, sondern darauf angewiesen ist, wird er dysfunktional. Wenn die Wirtschaft jedoch nicht mehr wächst, wird das Geschäftsmodell von Banken, Lebensversicherern und anderen Branchen unprofitabel, was im worst case dazu führt, dass das gesamte Finanzsystem zusammenbricht. Um den notwendigen Wandel hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft nicht im Chaos enden zu lassen, bedarf es also neuer Ideen. Weder die Degrowth-Bewegung noch die Volkswirtschaftslehre bieten hier konkrete Vorschläge. In der Geschichte gibt es jedoch Beispiele dafür, wie ein kontrolliertes Schrumpfen der Wirtschaft gelingen kann.

Ein Vorbild für grünes Schrumpfen: Die britische Kriegswirtschaft ab 1939

Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wollte Großbritannien nicht den Fehler aus dem Ersten Weltkrieg wiederholen, erst nach und nach eine Kriegswirtschaft zu etablieren. Stattdessen organisierte man umgehend eine ‚private Planwirtschaft‘, die einen schnellen Aufbau der Kriegswirtschaft ermöglichte und zugleich die zentralen Bedürfnisse der Bevölkerung sicherte. Privat war diese Planwirtschaft insofern, als der Staat zwar vorgab, was zu produzieren war, aber nicht, wie produziert werden sollte. Im Gegensatz zur sozialistischen Planwirtschaft in der damaligen Sowjetunion wurden Unternehmen nicht verstaatlicht, sondern blieben in Privatbesitz. „Die britische Regierung […] lenkte die Betriebe indirekt – indem sie Rohstoffe, Kredite und Arbeitskräfte zuteilte. Vor allem Beschäftigte waren so knapp, dass Unternehmen nur produzieren konnten, wenn sie Angestellte zugewiesen bekamen.“ So avancierte das sogenannte ‚Manpower-Budget‘ schnell „zum zentralen Steuerungsinstrument der Regierung“.

Um die vorhandenen Ressourcen effizient zu verteilen, griff man auf die damals noch neue volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und das Konzept des Bruttoinlandsprodukts zurück. So wurde berechnet, dass ungefähr zwei Drittel der britischen Industrie für die Kriegswirtschaft gebraucht würden, was bedeutete, dass nicht nur beim Konsum, sondern auch bei der Lebensmittelversorgung gekürzt werden musste. Die britische Regierung erkannte aber, dass dieses Konzept nur dann tragfähig sein würde, wenn die Kürzungen nicht zu Beeinträchtigungen bei den Grundbedürfnissen führten. Dementsprechend wurden Produkte wie Fleisch und Käse rationiert, Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Mehl oder Brot hingegen nicht. Für Süßigkeiten und andere „Extras“ gab es ein Punktesystem, bei dem die Menschen individuell entscheiden konnten, was sie konsumieren wollten. Dabei veränderte die Regierung die zugeteilten Punktezahlen je nach Lage des Gesamtangebots. Die Rechnung ging auf: Der Konsum fiel in kürzester Zeit um ein Drittel, ohne dass die Briten hungern mussten. „[P]ro Kopf und Tag gab es 2.800 Kalorien. Das war ausreichend: Heute raten Krankenkassen, dass Männer maximal 2.400 Kalorien zu sich nehmen sollten. Bei Frauen sind es sogar nur 1.900.“ Um der Klimakatastrophe wirkungsvoll zu begegnen, müsste man den Konsum in Industrieländern wie Deutschland in ähnlich radikaler Weise reduzieren. Naheliegende Einwände vorwegnehmend rechnet Herrmann vor, dass wir dies auch könnten, und zwar ohne uns Sorgen machen zu müssen. Denn selbst wenn wir unseren Wohlstand halbieren würden, läge er noch immer auf dem Niveau von 1978. Das wäre für viele von uns ein Einschnitt, aber kein echtes Problem. Denn schlecht war die Konsumlage in dieser Zeit nicht.

In diesem Sinne lautet Herrmanns Fazit: „Das Ziel wäre eine Kreislaufwirtschaft, in der nur noch so viel produziert wird, wie sich recyclen lässt. Trotzdem wäre diese klimaneutrale Welt nicht statisch. Technische Innovation wäre weiterhin dringend erwünscht. […] Es käme auch wieder zu Wachstum, wenn auch auf niedrigem Niveau. So paradox es ist: Zunächst muss die Wirtschaft schrumpfen, bevor sie wieder expandieren darf.“


buch|votum

Ulrike Herrmann plädiert nicht für eine pauschale Ablehnung des Kapitalismus. Ihr geht es vielmehr darum zu erklären, was Transformation konkret bedeutet, wenn technologische Innovation allein nicht ausreicht, um den Klimawandel zu stoppen und eine nachhaltige Wirtschaft zu schaffen – und sie will die Gesellschaft auf die Folgen einer solchen Umstellung vorbereiten. Wenn die ökologische Frage immer mehr zu einer Verteilungsfrage wird, müssen Ressourcen wie Energie und Arbeitskraft ähnlich wie in einer Kriegswirtschaft dorthin gelenkt werden, wo sie zur Befriedigung zentraler Bedürfnisse der Menschen sowie zum Erhalt einer intakten Natur und zur Sicherung des Klimas benötigt werden. Dabei stellt sich die klassische Verteilungsfrage zwischen Arm und Reich nicht nur lokal, sondern global. Denn es sind die reichsten Länder der Welt und dort ganz besonders die obersten Schichten, welche die Mehrheit der Emissionen verursachen: „Das reichste Hundertstel der Deutschen stößt pro Kopf und Jahr enorme 117,8 Tonnen an Klimagasen aus. Die obersten zehn Prozent kommen im Durchschnitt auf 34,1 Tonnen. Die ‚Mitte‘ emittiert 12,2 Tonnen – und die unteren 50 Prozent nur ganze 5,9 Tonnen. Die Reichen produzieren also 20-mal so viel CO2 wie die Armen.“ Um daran etwas zu ändern, werden Ökosteuern und höhere Preise nicht ausreichen. Denn solange die Einkommen und Vermögen so ungleich verteilt sind wie heute, können die Reichen diese „Bußen“ leicht bezahlen, anstatt ihren Konsum anzupassen. Genau das aber ist, was wir eigentlich benötigen.

Ungleichheit stellt also eine zentrale Gefahr für das Erreichen der Klimaziele dar. Vom Beispiel der britischen Kriegswirtschaft können wir lernen, wie man dieses Problem löst: Wichtige Güter dürfen nicht durch die unsichtbare Hand des Marktes verteilt–, sondern müssen pro Kopf rationiert werden. In diesem Prozess des grünen Schrumpfens bedarf es einer breiten Diskussion über die Bedürfnisse der Menschen. Denn in der Stadt kann man leichter auf das Auto verzichten als auf dem Land. Was auf uns zukommt, ist also eine neue Gerechtigkeitsdebatte, die nicht individuell, sondern nur gesamtgesellschaftlich diskutiert und gelöst werden kann.

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