Akademie für Soziale Demokratie

Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp Verlag

Von der Friedrich-Ebert-Stiftung 2024 ausgezeichnet mit dem Preis "Das Politische Buch.“ Hier geht es zur Preisbuchseite.

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Kurzgefasst und eingeordnet von Thilo Scholle
Thilo Scholle ist Jurist und Referatsleiter in einem Bundesministerium.


buch|essenz

Kernaussagen

Die breite gesellschaftliche Mitte ist entideologisiert und nur schwach parteipolitisch gebunden, was ihre Mobilisierungs- und Artikulationsfähigkeit schwächt. Die Konfliktformierung im öffentlichen Raum entfaltet sich vor allem über die Ränder. So entsteht der falsche Eindruck, die Gesellschaft zerfalle in zwei oder mehr klar abgrenzbare Lager. Zugleich ist der bestehende Konsens in der Mitte nicht zu verwechseln mit völliger Einigkeit über zentrale gesellschaftliche Themen. Eine sachorientierte Diskussion auf Basis grundsätzlich geteilter Gesellschaftsvorstellungen erscheint aber möglich.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Analyse der Einstellungen und Stimmungen in der Gesellschaft ist ein entscheidender Punkt für die Art der öffentlichen Diskussion und die Begründung von politischem Handeln. Insbesondere die Frage, wie polarisiert die Gesellschaft insgesamt bei einzelnen Themen ist, aber auch welche Spaltungen sich möglicherweise innerhalb einzelner politischer Elektorate finden, ist dabei von großer Bedeutung. Dies gilt umso mehr, als in den letzten Jahren  insbesondere der Aufstieg von Populisten „von rechts“ die Diskussion über die politische Kommunikation einer Politik der Sozialen Demokratie nachhaltig verunsichert.


buch|autoren

Steffen Mau wurde 1968 in Rostock geboren, und absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Elektronikfachkraft im Schiffsbau. Von 1991 bis 1997 studierte er Soziologie und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und promivierte im Jahr 2001 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Seit 2015 ist er Professor für Makro-Soziologie an der Humboldt-Universität in Berlin. Zuletzt hatte er u.a. mit einer soziologischen Analyse seiner Heimatsiedlung in Rostock große Resonanz in öffentlichen Debatten.

Der 1979 geborene Thomas Lux studierte Soziologie an der Freien Universität Berlin und promovierte 2017 in Bremen. Aktuell ist er Vertretungsprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin.

Linus Westheuser wurde 1989 geboren und arbeitet als Postdoktorand ebenfalls in Berlin. Seine Promotion erlangte er im Jahr 2021 an der Scuola Normale Superiore in Florenz.


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buch|inhalt

Gegliedert ist der Band in insgesamt elf Kapitel. Die Autoren greifen dabei auf eigene empirische Studien – insbesondere eine repräsentative Umfrage - zurück, und verarbeiten weitere Literatur. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht die Frage, wie und wo die Spaltungslinien aktueller gesellschaftlicher Diskurse verlaufen.

Ein Teil der bekannten Analysen sieht die gesellschaftliche Debatte vor allem als sehr polarisiert: Bildlich betrachtet sehen die Spaltungslinien wie die Höcker eines Kamels aus: Mit zwei großen Blöcken an den Rändern und einer großen Senke in der Mitte. Als Gegenbild bietet sich die „Dromedargesellschaft“ an: Gesellschaftliche Linien ähneln bildlich dann eher einem einzigen breiten Höcker, der sich sanft über den gesamten Rücken spannt.

Blick auf die heutige Gesellschaft

Bei dem Blick auf die heutige Gesellschaft ist neben der vor allem ökonomisch begründeten Links-Rechts-Spaltungslinie auch eine kulturelle Konfliktlinie wichtig. Gerade an der kulturellen Spaltungslinie lassen sich allerdings in den letzten Jahren kaum Bewegungen erkennen. An Sichtbarkeit gewonnen hat seit 2015 lediglich das Thema Migration. Allerdings finden sich mehr Verknüpfungen zwischen einzelnen Positionen zu unterschiedlichen Fragen als klare Spaltungslinien in zwei gesellschaftliche Lager über alle Themen hinweg: „Das Banner des reinen Kosmopolitismus oder Kommunitarismus tragen nur kleine Gruppen“. Im Band sollen daher nicht zwei vermeintliche Großgruppen definiert, sondern Einstellungslagerungen, soziale Verankerungen und zeitliche Bewegungstendenzen in verschiedenen Konfliktarenen erfasst werden und damit soll ein genaueres Verständnis beobachteter Dynamiken ermöglicht werden. „Konflikte werden gesellschaftlich hergestellt – sie werden entfacht, getriggert und angespitzt. Damit sind sie kein sozialer Fakt, der einfach nur gegeben ist. Politische und mediale Dynamiken spielen eine wichtige Rolle, denn nur wenn Auseinandersetzungen in den Medien vorkommen, werden sie in der Breite der Bevölkerung als bedeutsam wahrgenommen. Ob und wie wir die Gesellschaft als konfliktreich erleben, hat dann eben auch damit zu tun, wie Meinungsverschiedenheiten aufbereitet und kommuniziert werden.“

Zentral geht es um Ungleichheitskonflikte

Diese können ökonomischer Natur sein, aber auch das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt bestimmen: „Wie sieht eine gerechte Ressourcenverteilung aus? Welche Ansprüche sind verdient, welche überzogen? Wer gehört dazu, wer bleibt außen vor?“ Die Diskussion darum, was als legitime oder nicht-legitime Ungleichheit verstanden wird, ist die entscheidende Blickachse. Diese Blickachse wird im Folgenden anhand der Einordung von „Oben-Unten-Ungleichheiten“ – also dem klassischen ökonomischen Verteilungsthema, „Innen-Außen-Ungleichheiten“ – also Fragen der Zugehörigkeit und Integration, „Wir-Sie-Ungleichheiten“ – also Fragen der Gleichstellungs- und Anerkennungspolitik und „Heute-Morgen-Ungleichheiten“ – insbesondere mit Blick auf die Umwelt- und Klimapolitik differenziert und konkretisiert.

„Oben-Unten-Konflikte“

Die Frage, wie „Oben-Unten-Konflikte“ artikuliert werden, hängt nur teilweise mit der eigenen gesellschaftlichen Stellung zusammen. Dies liegt auch an der Wirkung ausgebauter sozialer Sicherungssysteme und auch an verbreiteten Vorstellungen zu meritokratischen Sozialordnungen. Dies führt zu paradoxen Einstellungen, etwa in der Form, dass Ungleichheitskritik und Meritokratieglaube bei unteren Statusgruppen oft Hand in Hand gehen. „Diese Akzeptanz der Leistungsgesellschaft ist zweifellos einer der wichtigsten Hemmschuhe politischer Meinungsbildung für mehr Gleichheit“. Zugleich ist ein anhaltender Rückhalt für den Sozialstaat festzustellen. Im Ergebnis lassen sich die „Oben-Unten-Einstellungen“ unter dem Begriff der „demobilisierten Klassengesellschaft“ fassen: „Der Verlust von Machtressourcen in Form abnehmender gewerkschaftlicher Organisation, aber auch die politische Demobilisierung und die Zerfaserung von Milieus sorgen dafür, dass entsprechende Spannungen zwar erlebt, aber nicht klassenförmig ausgetragen werden.“ In den im Rahmen der Studie durchgeführten Gruppendiskussionen werden Gewerkschaften von den Teilnehmenden denn auch kaum erwähnt.

„Innen-Außen-Ungleichheiten“

Im Bereich der „Innen-Außen-Ungleichheiten“ zeigt sich in der Migrationsfrage das gemischte Bild einer „bedingten Inklusionsbereitschaft“: Der größere Teil der Bevölkerung erkennt Zuwanderung als ökonomisch nützlich und notwendig an. Zugleich existieren große Vorbehalte mit Blick auf die Zahl und die Herkunft der Immigranten sowie mit Blick auf das Konkurrenzverhältnis zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Die Vorstellung eines Einwanderungslandes wird nur von Minderheiten komplett abgelehnt. Dass die deutsche Kultur durch Migration bereichert wird, bejaht eine klare Mehrheit der jüngsten Befragten.

„Wir-Sie-Ungleichheiten“

Im Rahmen der „Wir-Sie-Ungleichheiten“ lässt sich beispielsweise eine enorme Steigerung der Anerkennung im Bereich der Homosexualität feststellen. „Wir-Sie“ meint hier die Frage, was gesellschaftlich als „normal“ und was als „abweichend“ festgestellt wird. Unterschiedliche Perspektiven lassen sich unter den Rubriken der „Erlaubnistoleranz“ und der „Respekttoleranz“ finden. Bei der Erlaubnistoleranz geht es um die Tolerierung unter dem Vorzeichnen der legitimen Indifferenz: Jeder Mensch soll es halt so, machen wie er will. Darüber hinaus geht die „Respekttoleranz“, bei der die Sprechenden zum Beispiel mehr Empathie mit den Betroffenen anmahnen. Diese permissive Toleranz ist breit geteilter gesellschaftlicher Konsens über Altersgruppen und soziale Klassen hinweg. Unterschiede gibt es vor allem mit Blick auf die öffentliche Sichtbarkeit und mit Blick auf Forderungen nach mehr gesellschaftlicher Anerkennung. „Der Streit besteht nicht zwischen ‚Ja‘ und ‚Nein‘, sondern zwischen ‚Ja‘ und ‚Ja, aber‘, zwischen einer engeren Vorstellung von Toleranz, die eher einem Dulden gleichkommt, und einem erweiterten auf Respekt und Wertschätzung ausgerichteten Verständnis“.

„Heute-Morgen-Ungleichheiten“

„Heute-Morgen-Ungleichheiten“ kommen vor allem bei klimapolitischen Einstellungen zum Tragen. Hier lassen sich Klassenunterschiede bei den Einstellungen vor allem dort finden, wo es um befürchtete Wohlstandsgefährdung geht. Letztlich finden sich aber in allen Klassen klare Mehrheiten, die sorgenvoll auf den Klimawandel schauen. Allerdings lässt sich die ökologische Frage als „Klassenfrage im Werden“ beschrieben: „Erstens ist zwar der Klimawandel menschengemacht, bei seiner Verursachung gibt es aber bedeutende soziale Unterschiede. Die Erwärmung des Klimas wird von oben befeuert, sowohl im nationalen Rahmen als auch im globalen Maßstab klafft ein Spalt zwischen Arm und Reich. Zweitens ist auch die Betroffenheit in hohem Maße ungleich verteilt. (…) Drittens hat der ökologische Umbau starke Auswirkungen auf die Lebenschancen. Es kommt zu sozioökonomischen Transformationskosten und zu Eingriffen in die Lebensweise jedes und jeder Einzelnen. Alltägliche Dinge wie Mobilität, Wohnen, Konsum, Arbeit, Ernährung, Infrastruktur und Freizeit kommen auf den Prüfstand und werden möglicherweise teurer, weil ökologische Kosten eingepreist werden etc., Diese Kosten schlagen klassenspezifisch durch und können Verteilungskonflikte intensivieren. Viertens ergeben sich im Zusammenhang mit nachhaltigen Lebensstilen möglicherweise symbolische Kämpfe zwischen den Statusgruppen.“ Vor allem untere Statusgruppen pochen hier auf einen Vorrang des Sozialen vor dem Ökologischen, in dem die Erfüllung sozialer Bedürfnisse zur Voraussetzung klimapolitischen Engagements gemacht wird. Bei anderen gilt, dass sie glauben, schon genug für den Klimaschutz getan zu haben. Gerecht wird empfunden, wenn der, der mehr hat, auch mehr für die Umwelt tut. Während die Einen die Klimawandelfolgen als am bedrohlichsten ansehen, tun dies andere mit Blick auf Transformationsfolgen.

„Triggerpunkte“

Entscheidend für Entstehung und Ausmaß gesellschaftlicher Konflikte sind „Triggerpunkte“, „Orte innerhalb der Tiefenstruktur von moralischen Erwartungen und sozialen Dispositionen, auf deren Berührung Menschen besonders heftig und emotional reagieren.“ Das sind z.B. Ungleichbehandlungen, Normalitätsverstöße, Entgrenzungsbefürchtungen und Verhaltenszumutungen. Wo moralische Grunderwartungen verletzt werden, wird eine „starke affektive Ladung freigesetzt“. Dabei lässt sich nicht das Phänomen des „alten weißen Mannes“ als vermeintliches Musterbild einer permanent getriggerten Person bestätigen. Eher geht es darum, dass Aversion gegen zu schnelle Veränderungen zumindest auch ein Symptom ungleich verteilter Kontrollmacht ist: „Je besser die eigene Ressourcenausstattung einen in die Lage versetzt, sich gegen Eventualitäten abzusichern und dem eigenen Willen gesellschaftliche Wirkung zu verschaffen, desto gelassener sieht man anscheinend auch Veränderungen entgegen.“

In diesem Sinne lässt sich eher von einer „Klassenspezifik“ von Einstellungen sprechen, dies aber nicht im Sinne einer Polarisierung oder eines Antagonismus von Klassen als mobilisierte Lager. Auch der Migrationshintergrund ist insgesamt kein Differenzierungsgrund. Wahrnehmungen und gesellschaftliche Einstellungen prägen sich je nach sozialer Klasse unterschiedlich aus, ohne jeweils zu bestimmenden Parametern für die Abgrenzung zu anderen Klassen zu werden. Ein Zusammenhang bildet sich zunehmend zwischen Klima- und Migrationsskepsis heraus. Im Ergebnis lässt sich zusammenfassen, dass Produktions- und Dienstleistungsbeschäftigte etwas stärker Richtung staatlicher im Gegensatz zu marktlicher Regulierung tendieren und auf der Achse Partikularismus versus Universalismus etwas stärker in Richtung Partikularismus zu verorten sind. Technische bzw. kulturelle Experten sind demgegenüber auf der Achse Staat – Markt eher neutral, neigen dafür auf der kulturellen Achse Richtung Universalismus.

Als eine zentrale Erkenntnis lässt sich ein Zusammenhang zwischen Wut und Veränderungserschöpfung feststellen. Wichtig ist dabei auch, dass der Volkswille wird von der Politik nicht einfach gespiegelt, sondern gemäß der Eigenlogik des politischen Betriebs erzeugt wird. Die deutliche schwächer gewordene politische Lagerbildung öffnet die Tür „für eine stimmungsgetriebene Affektpolitik, die Polarisierungsunternehmer gewinnbringend zum Einsatz bringen, allen voran bei den Rechten.“ Es existiert eine breite konsensuale Basis, aber zugleich eine stärkere Aktivierung politischer Konflikte über die Ränder. „Die breite gesellschaftliche Mitte ist hingegen entideologisiert und nur schwach parteipolitisch gebunden, was ihre Mobilisierungs- und Artikulationsfähigkeit schwächt.“ Die Konfliktformierung im öffentlichen Raum entfaltet sich nun vor allem über die Ränder, was den falschen Eindruck vermittelt die Gesellschaft verfalle insgesamt in abgrenzbare Lager.


buch|votum

„Triggerpunkte“ ist ein enorm anregendes Buch, das wichtige Einsichten für die politisch-gesellschaftliche Analyse und daraus abgeleitete politische Handlungsvorschläge bietet. Die Kernthese einer „Dromedargesellschaft“ entfalten die Autoren prägnant und aus ihren Studien gut belegt. Deutlich wird im Ergebnis ein Doppeltes: Die politische Gestaltung einer Gesellschaft, die nicht permanent in polarisierende Debatten getrieben wird, ist genauso möglich wie die Provokation einer Gesellschaft, die sich allzu leicht durch Auslösen bestimmter Trigger in sich hart abgrenzende Debattenlager spalten lässt. Es erscheint zentral als Frage des politischen Fingerspitzengefühls, eigene politische Ziele und Interessen zu verfolgen, ohne – mehr oder weniger unabsichtlich – die Gesellschaft eher spaltende Triggerpunkte anzusprechen und damit letztlich den möglich erscheinenden politisch-gesellschaftlichen Konsens zu stören bzw. zu verhindern. Als eine politische Antwort erscheint für die Soziale Demokratie daher durchaus möglich, die Intensität der eigenen Kommunikation in bestimmten Bereich zu dämpfen. Dies könnte beispielsweise bedeuten, „Vielfalt“ zwar in der ganzen Breite rechtlich abzusichern und politisch zu fördern, dies aber nicht zu einem zentralen Aspekt der eigenen politischen Offensive und Kommunikation zu machen. Andererseits sollten die Folgen sozialer, ökonomischer und ökologischer Transformationsprozesse und darauf bezogene Lösungsansätze in den Fokus genommen werden.  Besorgniserregend ist vor allem die Perspektive derjenigen, die zum „veränderungserschöpften“ Lager gehören. Hier geht es sicherlich in besonderem Maße nicht nur um eine Frage der öffentlichen Kommunikation, sondern eben auch zentral um die reale Veränderung der Lebenssituation der betroffenen Menschen, eine Aufgabe, die zu den elementaren Anliegen der Sozialen Demokratie und ihrer politischen Kommunikation gehören muss.

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Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 09.10.2023
Seiten: 540
ISBN:978-3-518-02984-8

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