Akademie für Soziale Demokratie

Şeyda Kurt (2023): Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls. New York: HarperCollins

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Kurzgefasst und eingeordnet von Laura Brandt
Laura Brandt ist Politikwissenschaftlerin und Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie forschte und lehrte in Wien und Berlin zu feministischen Fragestellungen.


buch|essenz

Kernaussagen

Şeyda Kurt wirft eine neue Perspektive auf den Hass. Sie politisiert ihn und schreibt ihm sogar eine emanzipatorische und ermächtigende Wirkung zu. Damit stellt sie sich gegen die verbreitete Auffassung, Hass sei eine destruktive und undemokratische Kraft. Durch ihre historische und diskursive Abhandlung gelingt es Kurt, den „strategischen Hass“ als legitimes, widerständiges Moment inmitten struktureller Diskriminierung darzustellen, der von der Politik als Ausdruck sozialer Missstände ernst genommen werden muss.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Soziale Demokratie sollte die im Buch vorgestellte politische Perspektive auf Hass ernst nehmen. Sie sollte den Menschen zuhören, um gesellschaftliche Missstände und die Bedürfnisse marginalisierter Gruppen besser identifizieren zu können. Die Werte der Sozialen Demokratie setzen dem Umgang mit Hass jedoch normative Grenzen.


buch|autorin

Şeyda Kurt wurde 1992 in Köln geboren und studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus. Sie ist als freie Journalistin für verschiedene Print- und Onlinemedien sowie Podcasts tätig, unter anderem als Redakteurin für den Spotify-Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“, der 2021 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Ihr Buch „Hass“ erschien als Reaktion auf den Diskurs zu ihrem ersten Buch „Radikale Zärtlichkeit“, das 2021 erschien.


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buch|inhalt

Hass und Herrschaft

Der Hass ist überall und allgegenwärtig – und doch darf er nicht existieren. Hass ist ungemütlich und trägt das Potenzial in sich, alles radikal ins Wanken zu bringen. Hass wird als Gefahr empfunden, meist von privilegierten Personen, die einen anerkannten Platz in der Gesellschaft haben – weiße, reiche, junge, heterosexuelle Menschen, vor allem Männer. Die gängige Reaktion auf Hass in unserer neoliberalen Gesellschaft ist Verachtung, ein Gefühl, das ein „Sich-Abwenden“ und Gleichgültigkeit ausdrückt. Diese selbstgerechte Entrüstung passt gut zu dem Überlegenheitsgefühl herrschender Menschen. Im Gegensatz hierzu kommt Hass eher aus einer unterlegenen Position und beinhaltet das Potenzial zur Transformation. Diese marginalisierte Perspektive sollte in den Mittelpunkt gerückt werden.

Mit diesem Perspektivwechsel deckt Kurt eine konzeptionelle Lücke in Philosophie und Politik auf. Seit Aristoteles wird der Hass als ein Gefühl beschrieben, das dem Menschen und der Gemeinschaft Schaden zufügt. Diese einseitige Wahrnehmung liegt darin begründet, dass westliche Gelehrte, Geistliche und Politiker_innen seit jeher aus einer privilegierten Position denken und sprechen. Emotionen wie Zorn und Hass stehen für leidenschaftliche Auflehnung. Sie stören die herrschende Ordnung und werden daher unterdrückt.

Wer darf hassen?

Im 18. Jahrhundert wurde der Hass externalisiert und explizit den Menschen in den Kolonien zugeschrieben. So ist das Hassen laut Thomas Hobbes ein natürlicher Wesenszug schwarzer Menschen. Von Emotionen dominiert und vom Hass überwältigt, seien sie zu keiner vernünftigen Gesellschaftsform fähig und müssten daher durch Weiße fremdbeherrscht werden. Während der Kolonialisierung schuf diese Ideologie vier weitere Modi des Hasses: Der erste Modus ist Hass als Wesenszug; der zweite ist die Ökonomie des Hasses. Auf den Plantagen wurde zielgerichtet Hass geschürt, um deren Produktivität zu steigern. Kolonisator_innen stachelten die Menschen mit Gewalt gegeneinander auf, zerbrachen hierdurch solidarische Strukturen und konnten die Versklavten damit effektiver ausbeuten. Dieser politisch hergestellte Hass schlägt sich bis heute in der Politik herrschender Klassen nieder und hat das Ziel, Ausgebeutete zu spalten. Der dritte Modus  des Hasses ist der politische Selbsthass, der bis heute hartnäckig in die Selbstwahrnehmung unterdrückter, versklavter und rassifizierter Menschen eingebrannt ist. Die Unterdrückung hat sich in die Gedanken der Unterdrückten eingeschrieben und wird von ihnen selbst fortgeführt. Hiermit eng verbunden ist der vierte Modus des Hasses: das Nicht-hassen-Dürfen. Von unterdrückten Subjekten wird trotz Diskriminierung und Gewalterfahrung Dankbarkeit und Sanftheit eingefordert; negative und widerständische Gefühle dürfen nicht gezeigt werden: „Wem zugeschrieben wird, von Natur aus zu hassen und somit bösartig und unmenschlich zu sein, muss verhindern, dieser Vorannahme zu entsprechen. Ihre angebliche Unmenschlichkeit […] zu bestätigen, könnte für Betroffene zur Folge haben, noch mehr, noch brutalere Gewalt zu erfahren.“ Dies wird am Fall des schwarzen US-Amerikaners Rodney King deutlich, der 1991 Opfer von Polizeigewalt wurde. In der Gerichtsverhandlung wurden seine Gesten des Selbstschutzes als Aggression gegen die Polizei ausgelegt. Der schwarze Mensch wird also bis in die Moderne als bösartig und hasserfüllt dargestellt. Auch in Deutschland wird immer wieder in Frage gestellt, ob Opfer von Polizeigewalt zu verteidigen seien, vor allem wenn es sich um rassifizierte Menschen handelt.

Widerständiger Hass

Der fünfte Modus des Hassens äußert sich im Widerstand gegen Unterdrückung. Er stellt die Hassenden in den Vordergrund: Wer hasst? Aus welchem Grund? Und in welchen Herrschaftsverhältnissen befinden sich die Hassenden? Damit werden vor allem pazifistische Stimmen herausgefordert, indem ihr unpräziser sowie oftmals privilegierter Zugang zu Hass freigelegt wird. Eine universelle Absage an Hass stellt eine Verkürzung der Lebensrealität vieler Menschen dar und führt zu Blindheit gegenüber legitimem Widerstand.

Angesichts von Wutbürger_innen und rechtsradikalen Kräften besinnen sich deutsche Intellektuelle verstärkt auf die vermeintlich neutralen und pazifistischen Posten der demokratischen und rechtsstaatlichen Mittel. Für rassifizierte Menschen symbolisiert der deutsche Rechtsstaat jedoch nicht Demokratie und Gerechtigkeit, sondern Diskriminierung, Gewalt und Ausschluss. Hass als Reaktion hierauf wird aber kategorisch als demokratiefeindlich betrachtet; rassifizierte Menschen werden somit zusätzlich bestraft. Hierin liegt das Grundproblem der Rezeption des Hasses heutzutage, was ein Umdenken unerlässlich macht. Hass muss nicht unbedingt negativ, blockierend oder diskursstörend sein, sondern kann Menschen auch dazu motivieren, sich gegen scheinbar unüberwindbare Strukturen wie Rassismus, Patriarchat und den globalen Kapitalismus zu stellen. Besonders in Momenten der Ohnmacht und der Hilflosigkeit kann Hass eine Perspektive auf Handlungsmacht öffnen und so zu politischer Teilhabe motivieren.

Strategischer Hass

Das Gefühl von Hass kommt meist in Situationen von Gewalt, Hilflosigkeit, fehlender Argumente und verzweifelter Stille auf. Marginalisierte Menschen machen diese Erfahrung häufig. Hier wird deutlich, dass Hass eine Form der Selbstverteidigung darstellen kann. In Momenten, in denen das eigene Leben, die Ideale oder die Liebsten verteidigt werden müssen, kann Hass, sonst Gegenpol der Liebe, aus ihr gespeist sein. Kollektiviert sich eine solche Erfahrung, kann sie als „strategischer Hass“ in Erscheinung treten. Hass verwandelt sich dann zu einer umsichtigen, taktischen und durchdachten Kraft einer politischen Bewegung.

Ein Beispiel hierfür bildet der Kampf der Kurd_innen gegen den türkischen Staat in den 1940er Jahren. Die Aufstände wurden mehrfach blutig niedergeschlagen, der Staat folterte und mordete. Viele junge Menschen wurden in dieser Zeit politisiert und organisierten sich auf Basis ihres Hasses. Dasselbe geschah im Widerstand gegen die faschistische Militärdiktatur in Chile 1985. Dort wurden die Söhne von Luisa Toledo Sepúlveda, der „Mutter der rebellischen Jugend“, ermordet. Sie antwortete mit einer Forderung nach Vergeltung: „Warum verlangen sie von uns, bis in den Tod friedlich zu bleiben? Warum wir? Warum können wir nicht Gewalt gegen sie anwenden?“

Strategischer Hass ermöglicht es den Menschen weiterzukämpfen – trotz des überwältigenden Unrechts und der scheinbaren Aussichtslosigkeit ihrer Situation. Bis heute gelten Rache, Vergeltungsdrang und Hass in unserer Gesellschaft allerdings weitgehend als unmoralische Emotionen – wobei es aber ganz darauf ankommt, wer hasst. Eindrücklich wird dies durch den Militäreinsatz der USA in Afghanistan belegt, der offen als Vergeltungsschlag gegen die islamistische al-Qaida betitelt wurde. Hass und Vergeltung werden also je nachdem, wer hasst bzw. Vergeltung übt, unterschiedlich beurteilt – als legitim oder illegitim, als rational und stark oder als explosiv und unkontrolliert. Während der Vergeltungsschlag der USA zwar international kritisiert, von vielen aber als legitim betrachtet wird, liest man in den deutschen Medien Artikel über „Clan-Rache“ und Ehrenmorde, die das Bild von hasserfüllten und unkontrollierbaren rassifizierten Menschen transportieren. Auch in Literatur und Film werden Rachsucht, Hass und Vergeltungsdrang marginalisierter Menschen oftmals beschönigt, individualisiert und unsichtbar gemacht. Damit werden diese widerständigen Gefühle entpolitisiert und das Schaffen einer Alternative aus marginalisierter Perspektive, z. B. in Form von politischer Organisierung, wird von vornherein als Möglichkeit ausgeschlossen.

Gegengewalt

Befreiungskämpfe und Revolutionen im Globalen Süden konnten in den meisten Fällen nicht ohne Gewalt durchgesetzt werden. Diese Gewalt entstand als Antwort auf die jahrhundertelange Kolonisierung und kann als eine Form der Selbstverteidigung verstanden werden, getragen von strategischem Hass. Dennoch gelten immer die folgenden Grundregeln: Erstens, Menschen zu hassen, muss immer die letzte Option bleiben. Zweitens, die Frage, welche Menschen man nicht hasst, könnte davon abhängen, von wem man noch etwas erwarten kann. Drittens, man sollte von so vielen Menschen wie möglich etwas erwarten. Viertens, man sollte jene hassen, die sich aktiv gegen den Kampf stellen, die den Widerständigen mit Verachtung begegnen und die von den Herrschaftsstrukturen profitieren, die zu Unterdrückung führen. Wenn man aber hasst, dann sollte man alles in den Hass legen – „ganz so, als würde das Morgen davon abhängen“.

Unter diesen Umständen kann ein kollektives Ausleben von strategischem Hass zu demokratischeren und partizipativeren Strukturen beitragen – und letztendlich den Hass selbst überwinden. Ein Beispiel hierfür ist Rojava, die selbstverwaltete Region der Kurd_innen, die sich ständigen Angriffen durch den IS und das türkische sowie syrische Militär ausgesetzt sieht. Der Hass gegen die Unterdrückung bot den Nährboden für die widerständische Bewegung der Kurd_innen und trug maßgeblich zur Schaffung von Gerechtigkeitsstrukturen bei. Diese können heute auf patriarchale und nationalistische Widerstände reagieren. Obwohl auch in Rojava politische Strukturen oftmals männlich dominiert werden, stellt eine Aktivistin aus dem Komitee der Frauenbewegung Kongra Star in Rojava fest, dass „Rojava auch ein Modell für die Suche nach einer demokratischen Gesellschaft ohne Hass darstellt.“ Hass kann also transformativen Charakter annehmen, emanzipatorische Bewegungen stärken und letztendlich durch die neu geschaffenen Strukturen abgebaut werden.


buch|votum

Şeyda Kurt legt den Finger in eine Wunde der deutschen Gesellschaft, die aktueller kaum sein könnte. Die Migrationskrise 2015 und die Pandemie gingen mit einem Erstarken der rechtsradikalen Szene einher und verlieh Gruppen wie AfD und PEGIDA Aufschwung. Dieses Phänomen stieß Debatten zu Ursprung und Wirkung von Hass und Wut in der Politik an. Die damit einhergehenden Spaltungstendenzen werden mit immer größerer Sorge beobachtet, und viele Menschen stimmen der Auffassung des Philosophen Leander Scholz zu, der in seinem Impulspapier „Zusammenhalt in Vielfalt“ für die Aufrechterhaltung eines gemeinsamen Bezugsrahmens plädiert. Voraussetzung hierfür sei die Entwicklung eines Verständnisses für die Weltanschauung und die Lebenswelt des Gegenübers – durch stetige Kommunikation und respektvollen Austausch. Scheitert dies, so trete an „die Stelle eines demokratischen Streits […] gesellschaftlicher Hass, der sich politisch leicht ausbeuten lässt und populistische Kräfte stärkt.“ Genau gegen diese Haltung wendet sich Şeyda Kurt in ihrem Buch. Ihrer Ansicht nach muss mehr Verständnis für die Ablehnung und den Hass marginalisierter Menschen aufgebracht werden. Hieraus schlussfolgernd müsste eine Politik des gesellschaftlichen Zusammenhalts viel früher ansetzen, nämlich auf materieller und struktureller Ebene. Im Sinne der Werte der sozialen Demokratie müsste die Realität marginalisierter Menschen verändert werden, indem Gewalt und Armut nachhaltig bekämpft werden. Der Abbau struktureller Diskriminierung ist eine Voraussetzung für die Erwartungshaltung, dass sich Menschen an Debatten beteiligen und Zusammenhalt anstreben. Solidarität kann von Menschen, die von Staat und Mehrheitsgesellschaft allein gelassen werden, nicht eingefordert werden.

Den Hass als politischen Akt wahrzunehmen, ist sinnvoll, um die strukturellen Hintergründe menschlichen Leids sichtbar zu machen und die Anliegen marginalisierter Menschen besser in gesamtgesellschaftliche Diskurse zu integrieren. Gleichzeitig birgt die hier vorgestellte, stark subjektzentrierte Perspektive die Gefahr, von Inhalten zu abstrahieren und die Legitimität politischer Forderungen am Sprechenden festzumachen. Doch nicht jeder Hass ist legitimer Ausdruck von Unterdrückung. Hinter Hass und Widerstand stehen auch Inhalte und Werte, die nicht automatisch durch die marginalisierte Position des Subjekts legitim oder emanzipatorisch sind. Die Kämpfe der sozialen Demokratie werden in Abgrenzung hierzu normativ geführt und bewegen sich entlang der Werte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Hier eine Brücke zu bauen, wäre für demokratische Diskurse hochrelevant. Dabei gilt es, den Hass und die Wut marginalisierter Menschen als Ausdruck ihrer Unterdrückung ernst zu nehmen, zugleich klar die Werte der Sozialen Demokratie zu vertreten und die erforderlichen materiellen sowie strukturellen Veränderungen herbeizuführen. So kann ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs auf Augenhöhe geschaffen und aufrechterhalten werden.

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Verlag: HarperCollins
Erschienen: 21.03.2023
Seiten: 208
ISBN: 9783365001585

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