Akademie für Soziale Demokratie

Sawsan Chebli & Miriam Stein (2023): Laut. Warum Hate Speech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können. München: Goldmann Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Anne-Kathrin Weber
Anne-Kathrin Weber ist promovierte Politikwissenschaftlerin, freie Journalistin und Rezensentin.


buch|essenz

Kernaussagen

Über soziale Medien können Einzelne sich und ihren Anliegen in bisher ungekanntem Maß Gehör verschaffen. Die damit einhergehenden Chancen zur Vernetzung sind ein Privileg und bergen große Gestaltungspotenziale für die Demokratie. Die Nutzung sozialer Medien ist aber auch mit Verantwortung verbunden, insbesondere dann, wenn andere im Netz digitale Gewalt erfahren. Sich aus den sozialen Medien zurückzuziehen und das Netz antidemokratischen Kräften zu überlassen, ist daher keine Option. Mehr denn je müssen wir die Grundwerte unserer Demokratie auch auf Twitter, Facebook & Co verteidigen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Soziale Medien können und sollten nach den Grundwerten der Sozialen Demokratie gestaltet werden – das geht aber nur, wenn wir uns aktiv und kollektiv dafür entscheiden, an dieser Form der Öffentlichkeit zu partizipieren. Sozialdemokratisches Engagement im Netz beinhaltet, dass wir unsere Stimme für andere erheben, wenn sie Opfer von Angriffen, Diffamierungen oder Hass werden. Doch nicht nur die Nutzer_innen der sozialen Medien, sondern auch Legislative, Exekutive und Judikative müssen stärker als zuvor darauf hinwirken, dass im Netz dieselben zentralen Grundrechte eingehalten und durchgesetzt werden wie im analogen Raum.


buch|autorinnen

Sawsan Chebli ist Politikwissenschaftlerin und SPD-Politikerin.
Von 2016 bis 2021 war sie Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales. Zuvor war sie zwei Jahre lang stellvertretende Sprecherin des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier und davor Grundsatzreferentin für Interkulturelle Angelegenheiten in der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport.

Miriam Yung Min Stein ist Kulturjournalistin und Co-Autorin des Buches.


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buch|inhalt

Anfeindungen, Diffamierungen, blanker Hass – in den sozialen Medien ist das sprichwörtliche dicke Fell oft unerlässlich. Insbesondere Politiker_innen, aber auch andere Personen des öffentlichen Lebens, die sich beispielsweise gegen Antisemitismus oder Misogynie aussprechen, werden immer häufiger unsachlich kritisiert und mit Häme und Shitstorms überzogen. Vor allem weibliche bzw. als weiblich gelesene Personen trifft der Hass im Netz mit aller Wucht.

Die Zahl der Opfer digitaler Gewalt steigt stetig – auch weil sie, im Gegensatz zu den Täter_innen, kaum vernetzt sind. Organisierte Angriffe von sogenannten „Trollen“ und „Hatern“ verfolgen dabei das Ziel, all jene Menschen zum Schweigen zu bringen, die sich gegen gesellschaftliche Missstände aussprechen oder für andere laut werden; insbesondere versuchen sie, entsprechend engagierte Politiker_innen zu diskreditieren. Das hat verheerende Folgen für die Demokratie: „Das permanente Aberkennen der Kompetenzen fördert das Misstrauen in unsere Fähigkeit als politische Entscheider_innen. Es geht darum, uns kleinzumachen, uns zu brechen.“

Verantwortung von Justiz und Politik: Digitale Gewalt ahnden

Die digitale Öffentlichkeit in den sozialen Medien wird zunehmend nicht nur zu einem Prüfstein für die eigenen Nerven, sondern auch zu einer Angelegenheit für die Justiz. Die ist dieser Herausforderung bisher allerdings kaum gewachsen. Zwar sind viele der Angriffe eindeutig rechtswidrig, da die sogenannte „Hate Speech“, also die Hassrede im Netz, in Deutschland nicht unter die Meinungsfreiheit fällt. Die Judikative geht aber erst langsam dazu über, digitale Gewalt in derselben Weise strafrechtlich zu ahnden wie Gewalt im analogen Leben. Genau diese Schranke ist für den politischen Diskurs im Netz aber unerlässlich: „Lautsein für Unterdrückte, Marginalisierte, aber auch für zentrale Themen wie soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Gleichstellung funktioniert in den sozialen Medien nur dann, wenn die Nutzer_innen sich an identische Regeln halten, die auch im echten Leben in einem rechtsstaatlichen, demokratischen Land wie unserem gelten.“

Auch durch die Legislative sollte der Schutz der Nutzer_innen sozialer Medien deutlich ausgeweitet werden. Notwendig ist unter anderem ein Gesetz, „das aus dem Aufhetzen der Followerschaft einen Tatbestand macht, damit Brandstifter_innen im Netz leichter zu ahnden sind“.

Verantwortung der Plattformen: Konsequenter gegen Hassrede vorgehen

Darüber hinaus müssen auch die Betreiber der Plattformen stärker in die Pflicht genommen werden. Es reicht nicht aus, wenn jene Unternehmen zwar gemeldete Falschinformationen prüfen, diese anschließend aber nur mit Warnhinweisen versehen und es somit den User_innen überlassen bleibt, verantwortungsbewusst mit diesen Informationen umzugehen. Entsprechende Posts sollten viel früher und in viel größerem Umfang gelöscht werden. Als demokratisch sinnvollere Alternative zu den bestehenden Plattformen empfiehlt sich daher ein eigenes europäisches Projekt, das nicht auf Profitmaximierung, sondern auf wirklichen demokratischen Austausch abzielt.

Ob mit einer solchen neuen Plattform oder den bestehenden – klar ist, dass sich etwas ändern muss. Sonst droht den sozialen Medien ein ganz und gar undemokratisches Monopol an Stimmen und Haltungen. Denn das Fehlen von Kontrolle und Ahndung digitaler Gewalt hat zur Konsequenz, dass sich viele Nutzer_innen, vor allem weibliche, aus Angst vor Angriffen aus der digitalen Öffentlichkeit zurückziehen. Genau das darf aber nicht passieren, wenn wir das Netz nicht denjenigen überlassen wollen, die ausgrenzen, diffamieren und drohen.

„Mehr als Morddrohungen fürchte ich jene, die wissen und schweigen, jene, die sich zurückziehen. Sie befeuern das Zerrbild unserer Gesellschaft. Wir brauchen demokratische Stimmen, die sich einmischen, die Stellung beziehen und sich im Angesicht von digitaler Gewalt mit Opfern solidarisieren.“

Verantwortung aller Bürger_innen: Laut sein!

Engagement in den sozialen Medien ist für eine aktive Gestaltung des demokratischen Lebens von zentraler Bedeutung. Denn Netz und Politik sind mittlerweile untrennbar miteinander verbunden. So finden Themen und Erfahrungsberichte, die in den sozialen Medien trenden, Einzug in politische Debatten und Entscheidungen, die früher nicht publik geworden wären. Soziale Medien bieten Bürger_innen zudem die Möglichkeit, direkter als je zuvor mit ihren gewählten Vertreter_innen in Kontakt zu treten: „Vielen ist womöglich gar nicht klar, dass ihre Nachrichten die Menschen aus Politik und dem öffentlichen Leben wirklich erreichen. Das tun sie. Und sie hinterlassen etwas bei den Empfänger_innen, Gutes wie Zerstörerisches. Sie können beflügeln, unterdrücken, verletzen, inspirieren, zerstören oder aufrichten.“

Auch wenn die sozialen Medien für das einzelne Individuum wie für die Gesellschaft als Ganze Herausforderungen und ernstzunehmende Gefahren beinhalten, sollten wir uns auf die Potenziale konzentrieren. Wir dürfen das Netz nicht denjenigen überlassen, die der Demokratie schaden wollen, sondern müssen die digitale Öffentlichkeit so gestalten, dass sie für unsere Gesellschaft weiter und vermehrt nutzbar bleibt: „Es ist Zeit, vom lieb gewonnenen Zuschauermodus Abschied zu nehmen und selbst eine aktive Rolle im Kampf um unsere Demokratie einzunehmen.“


buch|votum

Mit einigem Pathos und viel Verve setzt sich Sawsan Chebli dafür ein, dass wir demokratische Grundwerte im Netz verteidigen und soziale Medien für unsere Anliegen nutzen. Sie attackiert dabei nicht nur diejenigen, die ausgrenzen, diffamieren und drohen, sondern auch diejenigen, die sich aus der digitalen Öffentlichkeit zurückziehen und damit Hilfe gegenüber denjenigen unterlassen, die Opfer digitaler Gewalt werden. Dafür zeigt Chebli kein Verständnis, Selbstschutz hin oder her. Für sie ist die Frage nicht, ob wir uns engagieren sollen oder wollen, sondern, wann wir dieses Engagement endlich als unsere demokratische Pflicht begreifen. Dieser Rigorismus ist eng mit Cheblis Biografie verbunden, aus der sie im Buch immer wieder erzählt: Als zwölftes von dreizehn Kindern einer nach Deutschland geflüchteten palästinensischen Familie musste sich die Autorin das Privileg der eigenen Stimme, die gehört wird, hart erkämpfen.

Cheblis Manifest für das Engagement und das Lautsein in den sozialen Medien ist kurzweilig geschrieben. Erwartungsgemäß bietet sie dabei keine ausgefeilte Theorie über die Chancen und Gefahren digitaler Öffentlichkeiten, sondern einen subjektiven Erfahrungsbericht. So erzählt die Sozialdemokratin unter anderem von Shitstorms, die über sie hereingebrochen seien, wie beispielsweise 2018, als ein älteres Pressefoto von ihr viral gegangen sei, auf dem sie eine Rolex-Uhr getragen habe. Mit Beispielen wie diesen veranschaulicht sie die Angriffe auf ihre Person sehr deutlich, rechtfertigt sich aber auch für vermeintliche oder reale Fehlentscheidungen.

Die SPD-Politikerin macht in diesem Zuge auf den wichtigen Fakt aufmerksam, dass es für Frauen bzw. als weiblich gelesene Personen um einiges schwieriger ist, in der digitalen Öffentlichkeit zu bestehen, als für Männer bzw. männlich gelesene Personen. Frauen sind sexualisierter Hassrede ausgesetzt und werden viel häufiger angefeindet; bei der Beurteilung ihrer Arbeit, genauso wie bei der Wahl ihrer Accessoires, wird mit zweierlei Maß gemessen. Folgen wir Sawsan Chebli, müssen wir diese und andere Missstände digital immer und immer wieder anprangern – solidarisch und vor allem laut.

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Verlag: Goldmann
Erschienen: 29.03.2023
Seiten: 240
EAN: 978-3-641-30230-6

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