Akademie für Soziale Demokratie

Ronen Steinke (2022): Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz. Berlin: Berlin Verlag

Zur Verlagsseite

Kurzgefasst und eingeordnet von Paula Schweers
Paula Schweers ist Journalistin und Autorin. Sie studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und Europäische Kulturgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Derzeit wird sie beim ARTE Magazin und an der FreeTech Academy of Journalism und Technology zur Redakteurin ausgebildet.


buch|essenz

Kernaussagen

Ronen Steinke deckt in seinem Buch "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich" systematische Ungerechtigkeiten im Strafsystem auf. Für die Recherche besuchte er Haftanstalten, sprach mit Staatsanwält_innen, Richter_innen, Anwält_innen und Verurteilten. Seine These ist, dass es in Deutschland eine „Zweiklassenjustiz“ gibt, die durch bestehende Gesetze und ihre Interpretation gestützt wird. Laut seiner Analyse führen unterschiedliche ökonomische Verhältnisse dazu, dass die Justiz den Menschen entsprechend dieser Ungleichheit unterschiedlich begegnet. Zentral sind hierbei folgende Aussagen:

  • Der ökonomische Status eines Menschen hat Auswirkungen auf seine Behandlung vor Gericht. Die Justiz begünstigt jene, die finanziell besser gestellt sind. Dieser Missstand ist jedoch in der Öffentlichkeit kaum bekannt.
  • Menschen mit Migrationshintergrund sowie Geringverdiener, Alleinerziehende und Frauen sind überproportional häufig von der systematischen Ungerechtigkeit betroffen.
  • Eine faire Justiz müsste die Lebensumstände der Angeklagten in den Mittelpunkt stellen und hierfür tiefgreifende Reformen am Strafsystem vornehmen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Steinke greift mit seiner Analyse die historische Diskussion rund um den Begriff der Klassenjustiz wieder auf und beschreibt, dass sich dieses Problem in den vergangenen zwanzig Jahren weiter verschärft hat. Dabei beleuchtet er vor allem die strukturellen Gründe, die im deutschen Rechtsystem begründet liegen und liefert hiermit einen wichtigen Baustein zur gegenwärtigen Klassismus-Debatte, die viele gesellschaftliche Bereiche auf Diskriminierungen untersucht. Das Bildungs- oder Gesundheitssystem sowie die Medien werden darin bereits seit Längerem thematisiert, die Justiz wurde bislang eher ausgespart. Steinkes Überlegungen weiterzudenken und mit den sozialpolitischen Hintergründen zusammenzubringen, könnte für die Soziale Demokratie sehr lohnend sein.


buch|autor

Ronen Steinke ist Redakteur und Autor der Süddeutschen Zeitung.

Der promovierte Jurist recherchiert seit Jahren zu Justizthemen.
Seine Biografie über Fritz Bauer, den Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, wurde preisgekrönt verfilmt und in mehrere Sprachen übersetzt.


Ronen Steinke: buch|essenz anhören


buch|inhalt

Steinke erklärt in seinem Buch, wie sich der sozioökonomische Status von Beschuldigten auf ihre Behandlung vor Gericht auswirkt. Hierfür zeigt er auch auf, welche gesetzlichen Vorgaben eine Ungleichbehandlung von Angeklagten fördern. Im letzten Teil des Buches skizziert er in 13 justizpolitischen Vorschlägen, wie sich diese Missstände beheben ließen.

Teil 1: Systematische Ungleichheit

Die Ungleichbehandlung beginnt mit der Einrichtung der Pflichtverteidigung, die für Mittellose in Deutschland nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist. In 90 % der strafrechtlichen Fälle hat der beziehungsweise die Betroffene keinen Anspruch auf Pflichtverteidigung. Dieser besteht schließlich erst ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe. Die Folge: Wer Geld hat, kann sich vor Gericht vertreten lassen; wer kein Geld hat, muss sich in der Regel selbst vertreten. Hieraus entsteht ein klarer Nachteil für diejenigen, die ohne Verteidigung vor Gericht stehen.

Doch auch die Arbeit der Pflichtverteidiger_innen ermöglicht oftmals kein optimales Engagement für die Angeklagten. Neben der geringen Bezahlung werden sie meist vom Gericht ausgewählt und lernen ihre Mandanten nicht kennen, was die Bereitschaft zu zeitaufwendigen Anträgen verringern kann.

Zudem fließt die Bedeutung sogenannter Sozialprognosen in Strafurteile ein. So werden tendenziell höhere Strafen verhängt, wenn jemand in prekären, unsteten Verhältnissen lebt. Armen Menschen wird aus diesem Grund proportional häufiger ein strafverschärfendes gewerbliches Motiv für den Diebstahl unterstellt. „Wer arm ist, gilt eher als Berufsverbrecher“, schreibt Steinke. Dieses Problem setzt sich bei der Entscheidung über eine Bewährung fort: Je besser die Sozialprognose, um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird.

Auch Geldstrafen, die als mildere Strafe gelten, treffen nicht alle Verurteilten gleich. Rund zehn Prozent der Gefängnisinsassen können eine Geldstrafe nicht bezahlen und müssen deshalb die Haft antreten. Die Zahl dieser Ersatzfreiheitsstrafen hat in den vergangenen zwanzig Jahren stetig zugenommen. Mittlerweile übertrifft ihre Zahl sogar schon die der originären Freiheitsstrafen. Steinke folgert: „Eine Geldstrafe ist nur milder für den, der das Geld hat, um sie zu bezahlen.“ Die meisten Ersatzfreiheitsstrafen trifft aber Menschen, die verschuldet sind, zwei Drittel haben Alkohol- oder Drogenprobleme, 40 % sind obdachlos. Untersuchungshaft wird zwar nur in drei Prozent aller Strafverfahren angeordnet; wenn sie aber für nötig gehalten wird, ist in 94 % der Fälle eine vermutete Fluchtgefahr der Grund. Betroffen sind auch hier überproportional Arme, Arbeits- und Obdachlose.

Zu guter Letzt haben Reiche eine Möglichkeit, die Untersuchungshaft zu vermeiden, die Arme nicht haben: Sie können eine Kaution stellen. Auch Geld von Dritten darf als Kaution genutzt werden. Wer keine Rücklagen hat und in einem Umfeld ohne Rücklagen lebt, kann darauf nicht zurückgreifen und ist somit benachteiligt.

Teil 2: Wirtschafts- versus Elendskriminalität

Zur Wirtschaftskriminalität werden zwar nur knapp ein Prozent aller erfassten Delikte gerechnet, diese machen aber fast die Hälfte des durch Kriminalität verursachten Vermögensschadens aus. Kontrastiert man die Wirtschaftskriminalität mit der sogenannten Elendskriminalität, lässt sich auch hier eine Schieflage feststellen: Im Bereich der Elendskriminalität werden oftmals sogar Handlungen bestraft, die eigentlich bereits entkriminalisiert sind. So ist Bettelei seit 1973 nicht mehr strafbar. Wenn aber ein Bahnhofsbetreiber ein Hausverbot ausspricht, ist das Betteln im Bahnhof doch wieder ein Delikt. Ähnliches gilt für Elendsprostitution im Sperrgebiet. Die vom Gericht in solchen Fällen ausgesprochenen Strafen verschärfen die Lage der Angeklagten weiter.

In Fällen der Wirtschaftskriminalität wirken die Strafen hingegen verhältnismäßig mild. Wird eine Managerin oder ein Manager zu einer Geldstrafe verurteilt, darf das Unternehmen, in dem sie beschäftigt sind, die Strafe bezahlen. Es kann die übernommene Geldstrafe in der Regel auch als Betriebsausgabe steuermindernd geltend machen. Außerdem gibt es Versicherungen, die Unternehmen für ihre Manager abschließen können, die dann von den Anwaltskosten bis zu den Geldstrafen alles ersetzen. Gegen das Unternehmen selbst können bislang nur Bußgelder verhängt werden. Die Obergrenze beträgt hierbei fünf Millionen Euro.

Teil 3: Lösungsansätze

Das Buch schließt mit 13 justizpolitischen Vorschlägen. Besonders hervorgehoben wird hierbei, dass Beschuldigte künftig bei allen Delikten das Recht auf Pflichtverteidigung haben sollten. Entsprechende Regelungen bestehen bereits in Italien, Frankreich, Österreich und den Niederlanden.

Auch der Bereich der Geldstrafen sollte reformiert werden. Die 1975 eingeführte Berechnung der Geldstrafen nach Tagessätzen verfolgt zwar eine soziale Intention, diese kommt jedoch bisher wenig zum Tragen. Dies liegt vor allem daran, dass das Einkommen, das der Berechnung zugrunde gelegt wird, geschätzt und dabei oftmals zu hoch angesetzt wird. Eine Möglichkeit, dies zu verbessern wäre, dass bei Hartz-IV-Bezieher_innen der Tagessatz künftig auf sieben oder zehn Euro gedeckelt wird.

Ersatzfreiheitsstrafen sollten künftig von einer Richter_in erst nach einem Gespräch mit den Angeklagten angeordnet werden können. In Schweden ist dies bereits gängige Praxis. Hierbei könnte herausgefunden werden, ob jemand die Geldstrafe nicht zahlen will oder nicht zahlen kann. In letzterem Fall könnten dann Alternativen ausgelotet werden.


buch|votum

Ronen Steinke ist eine wichtige Analyse der Missstände im deutschen Strafsystem gelungen, die bisher zu wenig öffentlich diskutiert wurden. Erhellend sind hierbei insbesondere die Analyse von problematischen Gesetzesvorgaben und die darauf zugeschnittenen Lösungsvorschläge. Spannend wäre zusätzlich noch ein historisches Kapitel gewesen, das die Entwicklung der Justiz beleuchtet und aufzeigt, was die beschriebene „neue Klassenjustiz“ von dem tradierten Begriff der Klassenjustiz unterscheidet, der auch als politisches Schlagwort verwendet wurde. Zudem wäre eine Verbindung der justizpolitischen mit sozialpolitischen Fragestellungen sehr interessant, um eine vollständigere Gesellschaftsanalyse vornehmen zu können.

Zur Verlagsseite

Verlag: Berlin Verlag
Erschienen: 27.01.2022
Seiten: 272
EAN: 978-3-8270-1415-3

nach oben