Der Euro wurde auch als politisches Projekt begonnen und hat sein Gründungsdilemma ungleicher wirtschaftlicher Entwicklungsstandards nicht überwunden. Mehr noch ist die Frage ungeklärt, ob es sich um eine Ehe mit Gütertrennung handelt oder nicht.
Ein Mythos ist die Vorstellung, in der heutigen Welt könne ein europäischer Nationalstaat noch als souveräner Akteur auftreten. Ein Mythos ist aber auch die Idee einer europäischen Souveränität durch eine „Ever Closer Union“, weil sie eine Einheitlichkeit der Willensbildung voraussetzt, die der europäische Pluralismus nicht zulässt. Die Schönheit Europas besteht gerade in seiner großen, historisch gewachsenen kulturellen Vielfalt und den unterschiedlichen Traditionen. Fast nirgendwo auf der Welt findet man auf kleinem Raum so viele unterschiedliche Sprachen, Religionen und kulturelle Traditionen. Europa ist ein Paradies der kleinen Nationalstaaten.
Cuperus sieht die engagierten Euroföderalisten unter Hochqualifizierten mit internationalen Karriereperspektiven. Euroskepsis findet sich dagegen eher in der unteren Mittelschicht, die seit Jahren die Kehrseiten von Globalisierung und Flexibilisierung hat erleben müssen. Hier wird der Nationalstaat geschätzt als Raum sozialer Sicherheit und demokratischer Mitsprache. Vor diesem Hintergrund sollten Europapolitiker sich den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien auch als ernste Warnung zu Herzen nehmen. Es kann nicht gut gehen, wenn der Kurs der etablierten Politik strukturell, langfristig und grundlegend von dem abweicht, was fast die Hälfte der Bevölkerung will. Doch das ist in den zurückliegenden Jahrzehnten mehr oder weniger geschehen.
Zu viel Uniformität sorgt für Ungleichgewichte und erzeugt nationale Widerstandsreflexe. Die größte Gefahr für die gemeinsame Währung liegt wohl in der eines entfesselten kleinteiligen Nationalismus, der über die Wohlfahrtsgewinne der europäischen Integration siegt. Diese Entwicklung hat man in Großbritannien gesehen. Das Land hat durch den Brexit scheinbar Souveränität zurückgewonnen, aber es zahlt auch einen hohen Preis dafür –- kurz: mehr Souveränität, weniger Wohlstand. Die erhoffte Lehre für die restlichen 26: die Renationalisierung Europas. Eine Rückkehr zum vollkommen souveränen Nationalstaat ist nicht nur illusorisch, sondern auch ein riskanter Vorschlag. Ahistorische Naivität.
Gewappnet mit einer guten Portion Realismus setzt Cuperus sich in seinem Plädoyer für ein „vorsichtiges Europa“ ein – sanft nach innen, stark nach außen, weder europaskeptisch noch europaföderal.
Gerade die kleineren Mitgliedsländer könnten in einer weiter integrierten EU gegenüber den Schwergewichten Deutschland und Frankreich ins Hintertreffen geraten, warnt der Niederländer. Im Übrigen kreisen seine Überlegungen um die Frage, wie weit die europäische Einigung gehen dürfe, ohne dass der Wesenskern Europas, die Vielfalt und Eigenständigkeit der Gesellschaften sowie die Funktionsfähigkeit der Mitgliedstaaten, Schaden nehmen. Cuperus sieht durchaus Grenzen der Diversität. Sie verlaufen für ihn dort, wo – wie derzeit in Polen und Ungarn – die Grundprinzipien von Demokratie und Rechtsstaat auf dem Spiel stehen.
Mehr Kooperation sei auch im Interesse der globalen Selbstbehauptung Europas geboten. Cuperus spricht hier von „externer Souveränität“, die idealerweise gemeinsam ausgeübt werden sollte. Er kann sich sogar einen Europäischen Sicherheitsrat vorstellen, als Stützpfeiler der westlichen Allianz. Im Gegenzug muss die „interne Souveränität“ der Nationalstaaten in der Innen-, Rechts-, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik unangetastet bleiben. Dass stattdessen die EU unter Berufung auf Erfordernisse des Binnenmarkts und der Währungsunion in immer mehr Bereiche der nationalstaatlichen Politik hineinregiert, ist ein steter Anlass für Konflikte.
Demgegenüber hat der durchschnittliche, „realistische Europäer“ in der Regel kein Problem damit, „externe Souveränität“ – Verteidigung, Außenpolitik, Welthandel – abzugeben. Bedenken hingehen hat er, wenn es gilt, „interne Souveränität“ in den Bereichen zu delegieren, in denen die EU tief in die nationale Wirtschaft und die wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen eingreift. Der durchschnittliche Europäer zieht eine EU, die als intergouvernementale Organisation operiert, einer neuen, über ihm stehenden Staatsmacht vor.