Die Beschäftigten aus Deutschland und der Schweiz, deren Biografien und Arbeitsbedingungen in 22 Berichten porträtiert werden, arbeiten unter anderem in Kindertagesstätten, in Krankenhauswäschereien, in der 24-Stunden-Pflege, in Restaurants, der Landwirtschaft oder für Onlineplattformen.
Alle diese Tätigkeiten sind unverzichtbar dafür, dass Grundbedürfnisse in unserer Gesellschaft befriedigt werden. Trotzdem werden die Menschen, die diese Tätigkeiten ausüben, oft schlecht entlohnt, prekär beschäftigt, körperlich, mental und emotional ausgebeutet und gesellschaftlich wenig bis gar nicht anerkannt. Deshalb sind sie „verkannte Leistungsträger:innen“. Sie befinden sich am unteren Ende einer Gesellschaft, die weiterhin in Klassen segmentiert ist. Daran hat auch die plötzliche – allerdings überwiegend nur verbale – Aufwertung der Systemrelevanz mit Beginn der Covid-19-Pandemie bislang nichts oder nicht viel geändert – und wenn, dann auch nicht unbedingt zum Besseren:
„Die neue Einsicht in die Systemrelevanz der Tätigkeiten […] diente hingegen vor allem als Argument dafür, den Zugriff auf die nun als unverzichtbar geltende Arbeitskraft auszuweiten.“
Es ist daher angebracht, kritisch darüber nachzudenken, was gegenwärtig unter gesellschaftlicher „Leistung“ verstanden wird und welche Folgen diese Klassifizierung für das Individuum und die Gesellschaft als ganze hat. Denn im Zuge der umfassenden Neoliberalisierung nahezu aller Lebensbereiche wurden einzelne Tätigkeiten massiv aufgewertet – das Managen, das Führen von Unternehmen, das Beraten –, andere hingegen kontinuierlich abgewertet. In einer Klassengesellschaft, die auf kapitalistischen Grundsätzen beruht, ist dieser Wandel von fundamentaler Bedeutung. Sowohl die „Verteilung von Lebenschancen, Reichtum und Macht“ als auch die „Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten“ hängen nämlich von der Klassenzugehörigkeit ab – mit gravierenden Folgen für die Betroffenen:
„Die Realität der Ungleichheit führt zu einer Vielzahl von Erschütterungen: in Bezug darauf, wie man sich selbst sieht, was man in seinem Leben erreichen und wie man tagtäglich die eigene Würde bewahren kann, wenn man beständig Leistung auf hohem Niveau erbringt, ohne die entsprechende Wertschätzung zu erfahren.“
Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich auch in der Einstellung der „verkannten Leistungsträger:innen“ zur eigenen Arbeit wieder, das zwischen den Polen selbstausbeuterischen Engagements und „innerem Exil“ angesiedelt ist. Aus vielen der Berichte geht hervor, dass sich die Beschäftigten auf Kosten der eigenen Gesundheit einbringen:
„Die gesundheitlichen Belastungen verschärfen den Personalmangel, wodurch sich wiederum die Arbeitsbedingungen verschlechtern – ein Teufelskreis.“
Aber nicht nur die Beschäftigten leiden unter dieser Entwicklung: So können Kinder in Kindertagesstätten manchmal nur noch verwahrt statt qualitativ hochwertig betreut werden. Auch bleibt Pflegenden kaum mehr Zeit und Raum, die emotionalen Bedürfnisse von älteren Menschen in ihrer (Akkord-)Arbeit zu berücksichtigen.
In anderen systemrelevanten Bereichen wie in der Warenlogistik hat die Digitalisierung zwar einige Tätigkeiten körperlich einfacher gemacht. Allerdings fühlen sich einige der Beschäftigten damit aber auch zunehmend intellektuell unterfordert.
Die Beschäftigten in all diesen Bereichen sind sich zumeist über die eigene prekäre Lage durchaus im Klaren. In einigen Fällen ist ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein erkennbar, das entweder in gewerkschaftliches Engagement mündet oder, so zeigt ein Interview mit einem Beschäftigten im Online-Handel, rechtspopulistischem Gedankengut Aufwind gibt. Hier sind gravierende Konflikte auch innerhalb von Belegschaften zu erwarten, denn viele der „verkannten Leistungsträger:innen“ haben Migrationserfahrung.
Viele der im Buch porträtierten „verkannten Leistungsträger:innen“ berichten davon, dass ihr arbeitsrechtlicher Status immer brüchiger wird, dass in einigen Fällen bestehende Rechte ausgehöhlt werden und Unternehmen alle möglichen Schlupflöcher nutzen, um Kosten zu sparen – Kosten, die schlussendlich diejenigen tragen müssen, die ohnehin über wenig Ressourcen verfügen.
Das ist keine neue Erkenntnis, aber eine, die im Sammelband nachdrücklich und vor allem nahbar vermittelt wird. Das gilt auch für die viel zu hohe Arbeitsbelastung, die andauernden Existenzängste und die tiefe Erschöpfung, von denen die allermeisten Beschäftigten berichten. Noch verdeckt das ausgeprägte Arbeitsethos und Engagement der „verkannten Leistungsträger:innen“ das wahre Ausmaß dieser Missstände, denn sie fangen (noch) viele der Probleme ab, die auch die Mittelschicht zunehmend plagen – zum Beispiel die gestiegenen Anforderungen, Erwerbs- und Sorgearbeit zu „vereinbaren“. Eher früher als später wird trotzdem ein Systemkollaps drohen.
Bis dahin werden allerdings noch viele Erwerbsbiografien in systemrelevanten Arbeitsbereichen von Erschöpfung, Ausbeutung und Ohnmacht geprägt sein – Erfahrungen, die im Band auf vielfache Weise geschildert werden. Sie verdichten sich zu der entscheidenden und letztlich klassenübergreifenden Frage: Können und dürfen wir uns diese desolaten Zustände überhaupt moralisch und systemisch leisten – und wenn ja, wie lange noch?
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