Akademie für Soziale Demokratie

Nancy Fraser (2023): Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Berlin: Suhrkamp Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Thilo Scholle
Thilo Scholleist Jurist und arbeitet als Referent in der Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft des Bundesministerium für Arbeit und Soziales.


buch|essenz

Kernaussagen

Der Kapitalismus ist ein System, das seine eigenen gesellschaftlichen Grundlagen zerstört: Der „Allesfresser“ Kapitalismus „kannibalisiert“ seine Umgebung und letztlich auch sich selbst. Dies trifft auf menschliche Zusammenhänge wie die Pflegearbeit zu, aber auch auf natürliche Grundlagen wie die Umwelt. In den Blick zu nehmen ist daher nicht nur die Spaltung zwischen Kapital und Arbeit. Auch ökologische Probleme wie Umweltzerstörung, gesellschaftliche Probleme wie Rassismus und Fragen der sozialen Reproduktion müssen adressiert werden. Lösungsansätze, die innerhalb des Kapitalismus verbleiben, werden keine nachhaltige Wirkung entfalten. Notwendig ist vielmehr die Entwicklung neuer Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion, Gesellschaft und Natur sowie dem Ökonomischen und dem Politischen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Analyse ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Politik der Sozialen Demokratie. Wie sich unser aktuelles Wirtschaftsmodell zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und zu Möglichkeiten der individuellen Entfaltung verhält und welchen ökologischen Fußabdruck es erzeugt, sind dabei zentrale Themen. Vor diesem Hintergrund formuliert das Buch von Nancy Fraser wichtige Fragen, auf die eine Politik der Sozialen Demokratie Antworten geben muss.


buch|autorin

Nancy Fraser, geboren 1947 in Baltimore, gehört zu den einflussreichsten feministischen Denkerinnen der Gegenwart. Nach der Promotion im Jahr 1980 an der City University of New York war sie im Rahmen verschiedener Forschungsaufenthalte und Professuren im In- und Ausland tätig.

Derzeit ist sie Professorin an der New School for Social Research in New York City. Im Kontext kapitalismuskritischer Debatten gab sie wichtige Denkanstöße, bspw. mit ihrem Begriff des „progressiven Neoliberalismus“, mit dem sie die gegenwärtige Verbindung von fortschrittlichen gesellschaftspolitischen Forderungen bei gleichzeitig unangetasteter Dominanz kapitalistischer Strukturen beschreibt.


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buch|inhalt

Mit dem Ausdruck „kannibalistischer Kapitalismus“ ist gemeint, dass „eine Einrichtung oder ein Unternehmen eines wesentlichen Elements ihrer bzw. seiner Funktionsweise [beraubt wird], um eine andere zu schaffen oder zu erhalten.“ In dieser Formulierung bezieht sich die Beschreibung primär auf den Aspekt der Ökonomie. Sie lässt sich aber auch auf das Verhältnis zwischen der kapitalistischen Wirtschaftsform und den „nicht-ökonomischen Bereichen des Systems [anwenden]“, also auf „Familien und Gemeinschaften, Lebensräume[] und Ökosysteme[] [sowie auf] staatliche[] Einrichtungen und öffentliche[] Gewalten, deren Substanz diese Wirtschaft verbraucht, um sich selbst vollzustopfen.“ Der Kapitalismus ist mithin nicht nur als eine bestimmte Wirtschaftsform zu verstehen, sondern als eine ganze Gesellschaftsordnung, „die eine profitorientierte Wirtschaft dazu befähigt, die außerökonomischen Stützen, die sie zum Funktionieren braucht, auszuplündern“. Hierzu zählen: „der Reichtum, der der Natur und unterworfenen Bevölkerungen entzogen wird; vielfältige Formen von Care-Arbeit, die chronisch unterbewertet, wenn nicht gar völlig verleugnet werden; öffentliche Güter und staatliche Befugnisse, die das Kapital sowohl benötigt als auch zu beschneiden versucht; [und] die Energie und Kreativität der arbeitenden Menschen.“

Nötig ist daher die Entwicklung eines emanzipatorischen gegen-hegemonialen Projekts einer ökologisch-gesellschaftlichen Transformation. Dieses muss umfassend genug sein, um die Kämpfe unterschiedlicher sozialer Bewegungen, politischer Parteien, Gewerkschaften und anderer kollektiver Akteure koordinieren zu können.

Allesfresser:

Warum wir unser Verständnis von Kapitalismus erweitern müssen

Die öffentliche Diskussion über den Kapitalismus ist zurück. Es scheint sich ein zunehmendes Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass finanzielle, wirtschaftliche, ökologische, politische und soziale Übel auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen sind – und dass Reformen, die nicht die tiefen strukturellen Grundlagen dieser Übel erfassen, zum Scheitern verurteilt sind. Allerdings bleibt diese Diskussion aktuell vor allem ein rhetorisches Unterfangen – „ganze Generationen jüngerer Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen“ haben sich zu „versierten Diskursanalytiker:innen entwickelt“, ohne sich der Tradition der Kapitalismuskritik bewusst zu sein. Daher erleben wir zwar eine kapitalistische Krise, verfügen aber weiterhin nicht über eine emanzipatorische Theorie, die geeignete Lösungen aufzeigen könnte. Notwendig ist eine Erweiterung der tradierten Krisenmodelle, die nicht allein ökonomische Aspekte in den Blick nimmt, sondern auch die Ausbeutung der Natur und Fragen der sozialen Reproduktion, der „Rasse“ und der Sexualität. Zu beachten ist ferner die dem Kapitalismus immanente Koexistenz von marktförmigen und nichtmarktförmigen Faktoren.

Die Trennung von Produktion und Reproduktion ist historisch gesehen im Kapitalismus entstanden – allerdings in unterschiedlichen Modellen. Die Warenförmigkeit ist dabei keineswegs universell, sondern hängt von Bereichen der Nichtwarenförmigkeit ab, die das Kapital systematisch kannibalisiert. Wichtig ist, dass nicht alle ausgefochtenen Kämpfe unmittelbar das Verhältnis von Kapital und Arbeit betreffen, sondern etwa auch Fragen von Polizeigewalt und Rassismus.

Es existieren aber auch nichtökonomische Ideale fort, die eine Kritik des Kapitalismus „aus seinem Inneren heraus“ ermöglichen. Ein völliges Außen gibt es im Kapitalismus nicht. Anders als im Anschluss an Marx denkbar, geht es also nicht allein um die inneren Widersprüche des Kapitalismus, sondern vielmehr um die Widersprüche zwischen dem kapitalistischen Wirtschaftssystem und seinen Rahmenbedingungen. Die Kämpfe betreffen dann neue Konfigurationen der Verhältnisse von Ökonomie und Gesellschaft sowie Natur und Politik. „Die Neugestaltung der strukturellen Trennungen, die die kapitalistischen Gesellschaften historisch konstituiert haben, wäre dann die Hauptaufgabe von sozialen Akteuren und kritischen Theoretikern, die sich im 21. Jahrhundert für Emanzipation einsetzen.“

Nimmersatter Bestrafer:

Warum der Kapitalismus strukturell rassistisch ist

Der Kapitalismus war schon immer mit rassistischer Unterdrückung verbunden – vom Plantagenkapitalismus des 17. Jahrhunderts bis zum heutigen, deindustrialisierten Kapitalismus der Subprime-Kredite. Zentral in diesem Zusammenhang sind die Begriffe Expropriation und Exploitation. Expropriation bezeichnet die Enteignung, also die Konfiszierung samt Einbeziehung in die kapitalistische Akkumulation, Exploitation ist die Ausbeutung im Kapitalismus selbst. Früher wurden vor allem die Menschen in den ehemaligen Kolonien enteignet und ausgebeutet. Später entstand als neue Figur in der Mitte der „enteignete und ausgebeutete Bürger-Arbeiter“.

Die Trennung entlang der „Color-Line“ ist zunehmend weniger nötig, doch zugleich lebt rassistisch motivierte Unterdrückung fort. „Da es keine ‚rassenübergreifende‘ Bewegung zur Abschaffung eines Gesellschaftssystems gibt, das eine nahezu universelle Expropriation erzwingt, finden […] Klagen in den wachsenden Reihen des autoritären Rechtspopulismus Ausdruck. […] Sie stellen die durchaus vorhersehbare Antwort auf den ‚progressiven Neoliberalismus‘ unserer Zeit dar. Die Eliten, die diese Haltung verkörpern, appellieren zynisch an ‚Fairness‘, während sie die Enteignung ausweiten – und diejenigen, die einst durch ihre Stellung als ‚Weiße‘ oder ‚Europäer‘ vor dem Schlimmsten geschützt waren, auffordern, diesen privilegierten Status aufzugeben, die zunehmende Prekarität zu akzeptieren und sich der Verletzlichkeit zu ergeben, während sie gleichzeitig das Vermögen dieser Menschen Investoren zuführen und ihnen im Gegenzug nichts weiter als moralische Anerkennung bieten.“

Die Idee eines nichtrassistischen Kapitalismus hilft nicht weiter: „Ein auf Parität innerhalb einer ungleicher werdenden Welt ausgerichteter nicht rassistischer Kapitalismus dieses Typs würde bestenfalls zu gleichen Kannibalisierungschancen inmitten wachsender rassistischer Animositäten führen.“ Da aber heute die Ausgebeuteten auch die Enteigneten sind, sind „rassenübergreifende“ Allianzen möglich.

Care-Verschlinger:

Warum die soziale Reproduktion einen zentralen Schauplatz der kapitalistischen Krise darstellt

Keine Gesellschaft kann lange überleben, wenn sie systemisch die soziale Reproduktion kannibalisiert. Doch das ist genau, was aktuell geschieht: Emotionale und materielle Ressourcen, die für die Care-Arbeit eingesetzt werden sollten, werden für andere, nicht essenzielle Aktivitäten verwendet, um die Kassen der Unternehmen zu füllen. Der gegenwärtige „Care-Notstand“ ist Ausdruck eines dem Kapitalismus innewohnenden sozial-reproduktiven Widerspruchs. Das Streben des Kapitalismus nach unbegrenzter Akkumulation führt dazu, dass genau die sozial-reproduktiven Tätigkeiten kannibalisiert werden, auf die er angewiesen ist. In diesem Sinne steht das Bild des „Allesfressers“ auch für eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz frisst.

Die sozialen Widersprüche des Kapitalismus wurden von der sozialen Demokratie der fordistischen Periode des Kapitalismus über mehrere Jahrzehnte hinweg abgemildert. Damals wurde die Emanzipation zugunsten von sozialem Schutz und Marktwirtschaft geopfert. Der heute vorherrschende progressive Neoliberalismus feiert zwar Diversität, Meritokratie und Emanzipation. Dabei werden diese Begriffe jedoch neu definiert, nämlich in marktwirtschaftlichen Kategorien, und so mit Vermarktlichung kombiniert. Im Resultat werden soziale Schutzmechanismen abgebaut und die soziale Reproduktion externalisiert.

Die Natur im Rachen:

Warum Umweltpolitik transökologisch und antikapitalistisch sein muss

Das Ziel muss sein, die gegenwärtige Vielstimmigkeit bzw. Uneinigkeit aufzulösen und eine Gegen-Hegemonie zu entwickeln: einen neuen Common Sense, der dem Transformationsprozess eine Richtung geben kann. Dies kann nur gelingen, wenn dieser neue Common Sense über das rein Ökologische hinausgeht. Einzubeziehen sind auch Aspekte wie die Unsicherheit des Lebensunterhalts, die Verweigerung von Arbeiter:innenrechten, der Rückzug der öffentlichen Hand aus der Finanzierung der sozialen Reproduktion, die Unterbewertung von Care-Arbeit, die Ausgrenzung von Migrant:innen usw. Diese Probleme sind eindeutig mit dem Klimawandel verwoben und werden durch ihn verschärft. Es muss zwar vermieden werden, den Klimawandel als Anliegen zu begreifen, das alle anderen Anliegen übertrumpft. Wichtig ist aber zu verstehen, dass der Kapitalismus nicht nur ein Verhältnis zur Arbeit, sondern auch zur Natur ist: nämlich ein „kannibalistisches, extraktives Verhältnis, das immer mehr biophysikalischen Reichtum verbraucht, um ‚Wert‘ anzuhäufen, während ökologische ‚Externalitäten‘ verleugnet werden.“ Die kapitalistische Wirtschaft ist systemisch darauf ausgerichtet, von der Natur zu profitieren. Die Auseinandersetzungen zwischen Wirtschaft und Natur sind daher politisch.

Wie eng dieser Zusammenhang ist, zeigt sich bspw. daran, dass raffiniertes Öl nicht nur einzelne Unternehmer reich gemacht hat, sondern „auch der Motor der sozialen Demokratie“ war. Die Gewinne der Autoindustrie und verwandter Branchen lieferten einen beträchtlichen Teil der Steuereinnahmen, die in der Nachkriegszeit zur Finanzierung von Sozialausgaben genutzt wurden. Doch was diese Sozialausgaben im globalen Norden letztlich ermöglichte, war eine verstärkte Ausplünderung der Natur im Süden.

Es geht wie gesagt aber nicht um die Entwicklung eines „grünen Kapitalismus“. Nötig ist vielmehr eine Perspektive, die alle gegenwärtigen Probleme miteinander verbindet. Der Antikapitalismus ist die Grenze für jeden historischen Block zwischen „uns“ und „denen“.

Ausweiden der Demokratie:

Warum die politische Krise ein gefundenes Fressen für das Kapital darstellt

Die Ursachen der aktuellen Krise der Demokratie liegen nicht nur im politischen Bereich. Sie lassen sich daher auch nicht durch eine Reform der politischen Sphäre lösen. „Die politischen Leiden des Neoliberalismus, mögen sie auch noch so akut sein, stellen das bislang letzte Kapitel einer längeren Geschichte dar, die die politischen Wechselfälle des Kapitalismus als solchen betrifft. Nicht nur der Neoliberalismus, sondern der Kapitalismus überhaupt ist anfällig für politische Krisen und schädlich für die Demokratie.“ Der Grund hierfür liegt im Kapitalismus selbst. Dies zeigt sich bspw. daran, dass das Vorhandensein einer legitimen öffentlichen Macht eine Bedingung für nachhaltige Kapitalakkumulation ist. Das unbegrenzte Streben des Kapitals nach Akkumulation tendiert aber dazu, genau jene öffentliche Macht zu destabilisieren, von der es abhängt. Das Problem hierbei ist die Trennung des „Politischen“ vom „Ökonomischen“. Das Kapital gewinnt allerdings nicht immer: Vor allem in Krisenzeiten ringen Akteur:innen auch um die Grenzen zwischen Wirtschaft und Gemeinwesen – und manchmal gelingt es ihnen, diese neu zu ziehen. Genau an dieser Stelle steht auch die gegenwärtige Hegemoniekrise – u.a. eben mit Bezug auf Antworten auf den Klimawandel. Politik muss die Möglichkeit bekommen, Wirtschaft zu lenken. Durch die Corona-Pandemie hat ein solches Vorhaben weiteren Auftrieb erhalten.

Gedankenfutter:

Was sollte Sozialismus im 21. Jahrhundert bedeuten?

Neben einem erweiterten Kapitalismusbegriff benötigen wir auch einen erweiterten Sozialismusbegriff. „Der Sozialismus erhebt den Anspruch, die Übel des Kapitalismus zu beseitigen“. Es muss dabei jedoch um mehr gehen als nur die Vergesellschaftung des Eigentums an Produktionsmitteln. Neben der Ausbeutung der Lohnarbeit muss auch die Ausbeutung von unbezahlter Sorgearbeit überwunden werden. Generell müssen die Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion, Gesellschaft und Natur sowie dem Ökonomischen und dem Politischen neu gedacht werden, ohne die Grenzen zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen komplett aufzuheben. Damit wird auch die Frage nach dem Wachstum zu einer politischen Frage, die ihrerseits auf der Basis von klimawissenschaftlichen Überlegungen zu entscheiden ist.


buch|votum

Frasers Buch ist keine faktengesättigte Analyse, sondern eine große Streitschrift. Die zentralen Punkte werden pointiert und nachvollziehbar vorgebracht, viele Zusammenhänge dabei aber nicht präzise herausgearbeitet, sondern vielmehr unterstellt. Die bereits von Marx und Engels gezogene Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus als System die Tendenz besitzt, seine eigenen gesellschaftlichen und ökologischen Grundlagen zu zerstören, hat nach wie vor große Überzeugungskraft. Bedauerlich ist, dass Fraser auf ihr inspirierendes Bild des „progressiven Neoliberalismus“ nur am Rande eingeht und nur recht grobschnittig zwischen nicht möglichen Lösungen innerhalb und noch zu entwickelnden Lösungen jenseits des Kapitalismus unterscheidet, ohne dies genauer auszuführen. Insgesamt handelt es sich nichtsdestoweniger um ein gut lesbares Buch, das einen beachtenswerten Beitrag zu zentralen Debatten unserer Zeit leistet.

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Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 12.03.2023
Seiten: 282
ISBN:978-3-518-02983-1

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