Kernaussagen
Unsere Gesellschaft verändert sich rasant, weil wir immer älter und mit immer neuen Technologien konfrontiert werden. Die bisherigen Gesellschaftsverträge vieler Nationen können diesem Wandel kaum mehr gerecht werden – eine Tendenz, die die Pandemie beschleunigt hat. Insbesondere für die jüngeren und künftigen Generationen bedeutet dies, dass ihr Leben immer stärker von Unsicherheit und Ungerechtigkeit geprägt sein wird.
Neue gesamtgesellschaftliche Übereinkünfte sind daher vonnöten, um den Herausforderungen der Zukunft angemessen zu begegnen. Alle Menschen sollten in den Lebensbereichen Bildung, Gesundheit, Arbeit und Alter grundsätzlich über die Gemeinschaft abgesichert sein. Um diese Maßnahmen finanzieren zu können, sind Gesellschaften darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder wirtschaftlich so produktiv wie möglich sind.
Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie
Die bedeutenden Transformationsprozesse haben in den meisten Industriestaaten zur Folge, dass Individuen Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Altersabsicherung zunehmend selbst tragen müssen und immer weniger über die Gemeinschaft abgesichert sind. Gerade aus Sicht der Sozialen Demokratie ist dieser Befund gravierend.
Minouche Shafik macht deutlich, dass diese Entwicklung weder ökonomisch sinnvoll noch sozial gerechtfertigt ist. Sie liefert überzeugende ökonomische Argumente dafür, dass angesichts dieser enormen Herausforderungen neue gesellschaftliche Rahmenverträge vonnöten sind – insbesondere auch deshalb, um die jüngeren und zukünftigen Generationen besser abzusichern.
Was ist der Gesellschaftsvertrag?
Ein Gesellschaftsvertrag besteht aus Normen und Regeln, die die Werte und Funktionsweisen einer Gesellschaft widerspiegeln und auf die sich deren Mitglieder im Idealfall kollektiv und zum Nutzen aller geeinigt haben. Dabei handelt es sich um generationenübergreifende, partnerschaftliche und tiefgehende Entscheidungen, die dem Individuum Solidarität und weitreichende Zugeständnisse an die Gesellschaft abverlangen. Die Grundfrage, auf der ein Gesellschaftsvertrag basiert, lautet daher:
„Wie viel schuldet die Gesellschaft den Einzelnen und was schulden die Einzelnen der Gesellschaft?“
Der Gesellschaftsvertrag hat enorme Auswirkungen auf alle Lebensbereiche – auf die materiellen Bedingungen, unter denen Menschen leben, auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden. Im Rahmen dieses Vertrages werden zentrale Verteilungsfragen gestellt – nämlich wie Sicherheit garantiert und Leistungen erbracht werden sollen und wer genau dafür jeweils zuständig ist: das Individuum in Eigenleistung, die Familie, der Staat oder die Wirtschaft?
Mittlerweile müssen Individuen in vielen Industriestaaten Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit zunehmend selbst tragen – das ist weder gerecht noch effizient. Grund dafür sind die gewaltigen Transformationsprozesse unserer Zeit, vor allem die Digitalisierung und Technologisierung, aber auch die Tatsache, dass Bevölkerungen immer älter werden. Die Pandemie hat die Erosion der bisherigen Vertragsmodelle zusätzlich beschleunigt.
In den Industriestaaten vollzieht sich also ein Wandel der Deregulierung – die Gesellschaften vieler Entwicklungsländer hingegen streben nach zunehmender Regulierung des öffentlichen Lebens. Auch hier ist folglich ein neuer Gesellschaftsvertrag vonnöten, um diese Transformation so effektiv und effizient wie möglich zu gestalten.
„Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag, der eine bessere Architektur sowohl der Sicherheit als auch der Chancen für alle bietet, einen Vertrag, bei dem es weniger um ‚mich‘ und mehr um ‚uns‘ geht, der unsere gegenseitige Abhängigkeit anerkennt und sie zum gegenseitigen Vorteil nutzt; einen Vertrag, bei dem es darum geht, mehr Risiken zu bündeln und miteinander zu teilen, um die Sorgen zu verringern, denen wir alle ausgesetzt sind, und zugleich die Nutzung der Talente unserer Gesellschaft zu optimieren und den Einzelnen zu befähigen, so viel wie möglich zum Ganzen beizutragen.“
Die Erwartung, dass jede_r maximal zum Gemeinwohl beitragen sollte, ist deshalb wichtig, weil alle Kapazitäten einer Gesellschaft ausgeschöpft werden müssen, um die wirtschaftliche Produktivität zu steigern – das betrifft vor allem die Möglichkeiten für Frauen, erwerbstätig zu sein. Nur so kann der Staat letztlich eine Grundversorgung in den Bereichen Kinderbetreuung, Bildung, Arbeit, Gesundheit und Rentenalter bereitstellen.
Minouche Shafik liefert mit ihrem Buch eine wichtige Diskussionsgrundlage darüber, wie gerecht politische Entscheidungen für diejenigen sind, die das Wahlalter noch nicht erreicht haben. Nüchtern listet sie die größten Lasten auf, die ältere Generationen den jüngeren und zukünftigen auferlegt haben und schlussfolgert: Die politischen Machtverhältnisse müssen sich von den sogenannten Babyboomern hin zu denjenigen verschieben, die erst am Anfang ihres langen Lebens stehen – ein starkes, allerdings auch stark polarisierendes Plädoyer.
Ihre Argumentation basiert fast ausschließlich auf ökonomischen Überlegungen – Shafiks stark utilitaristischer Blick auf Menschen und Umwelt kann durchaus irritieren. Nach dieser Lesart sollen Kinder beispielsweise deshalb bestmöglich unterstützt werden, weil sie so zu einer unabdingbaren ökonomischen Ressource für die Zukunft der Gesellschaft heranreiften. Dass die Autorin an den grundlegenden Prämissen sozialer Ungleichheit festhält, erstaunt daher nicht.
Shafiks Thesen werden vor allem diejenigen ansprechen, die rein moralische Argumente letztlich nicht überzeugen. Aber auch für alle anderen lohnt die Lektüre, denn das Buch regt eindrücklich dazu an, für mehr Generationengerechtigkeit einzustehen und die Prämissen unseres Zusammenlebens neu zu besprechen und zu ordnen.
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