Die zweite Grundannahme unter dem Titel „Politische Geographie der Entfremdung zwischen Stadt und Land“ lautet, dass Wähler_innen eine komplexe politische Welt nicht als Individuen navigieren, sondern sich an Gruppen orientieren, denen sie angehören und die sie als relevant wahrnehmen. Die Frage, ob man wählen geht, welche Partei man wählt und welche Themen bei der Wahlentscheidung im Vordergrund stehen, beantworteten die wenigsten Menschen völlig unabhängig von anderen für sich allein. Die meisten orientierten sich an ihrem Umfeld und den für sie wichtigen Gruppen. Deshalb sei Politik wesentlich ein Konflikt zwischen Gruppen, auf der Basis eines identitätsstiftenden Wir-Gefühls. Städtische und ländliche Identitäten seien also keine bloße Folklore, sondern politisch höchst relevant.
Zu betonen ist, dass der Autor im Zuge der Etablierung dieser Gegensätze und Spannungen zwischen Stadt und Land die ländliche Region keineswegs einseitig zum Problemfall erklärt. Vielmehr begreift er ländlich geprägte und urbane Milieus als zwei Seiten derselben Dynamik: Orte, die in diesem Prozess tonangebend sind, tragen ebenso zur Polarisierung bei wie Orte, die zurückbleiben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass man von einem neutralen Standpunkt aus betrachtet nicht nur die Landbewohner_innen als diejenigen darstellen kann, die sich in erklärungsbedürftiger Weise vom nationalen Konsens entfernen. Auf die Städter trifft genau dieselbe Beschreibung zu. Sichtbar wird hierbei auch, dass der Graben zunehmend nicht mehr zwischen rechts und links, sondern zwischen Gewinnern und Verlierern ökonomischer Modernisierungsprozesse verläuft. Wie der Autor schlussfolgert, ist es der Übergang von der Industrie- hin zur Wissensgesellschaft, der die Spaltung des Landes vorantreibt.
Dieser Prozess sorge für einen permanenten Zuzug gut ausgebildeter Arbeitskräfte in die urbanen Zentren, die dadurch ihren Status als Innovationsstätten weiter ausbauen: Wo smart gewirtschaftet wird, gesellt sich ein Start-up leicht zum anderen. Dieser Wandel hin zu einer Wissensökonomie sei aber nicht nur die Ursache für die wirtschaftliche Kluft zwischen Stadt und Land, sondern auch der Grund für eine kulturelle Entfremdung zwischen Städtern und Landbewohner_innen: Vor nicht allzu langer Zeit begegnete man sich noch mit einer Mischung aus Reserviertheit und Respekt. Seit urban den herrschenden Lifestyle definiere, gelte die Landbevölkerung aber auch in ästhetischer Hinsicht als abgehängt.
Anhand der Daten der Künstlersozialkasse, also der Sozialversicherung für Künstler_innen, Publizist_innen und Kreative, kann Haffert die Verteilung dieser Berufsgruppe mit den Wahlergebnissen von Grünen und AfD in Beziehung setzen. Es ist wenig überraschend, dass die Konzentration der kreativen Berufe in den Städten (und dort in bestimmten Stadtteilen) am größten ist, und dass an diesen Orten die Grünen besonders stark sind. Überraschend ist hingegen die Spannbreite der Ergebnisse – oder genauer gesagt, dass es mit den Grünen eine Partei gibt, die in einigen Wahlkreisen über 30 Prozent der Stimmen erzielt, in anderen dagegen nur vier, sechs oder acht Prozent. Das ist eine Spreizung, die man so von anderen Parteien nicht kennt.
Natürlich darf man die Bedeutung dieser Kontexteffekte nicht überzeichnen. Wie Haffert sagt, wird ein „linker Berliner […] nicht über Nacht zum CDU-Wähler_innen, wenn er aus beruflichen Gründen ins katholische Vechta zieht. Einen wichtigen Teil ihrer Einstellungsunterschiede bringen Städterinnen und Dörfler bereits mit, wenn sie sich für ihren Wohnort entscheiden: Kosmopolit_innen zieht es in die Stadt, Kommunitaristen bleiben auf dem Land. Für die politische Intensität von Stadt-Land-Konflikten ist die Frage, warum Städter oder Dorfbewohner zu einem „Wir“ zusammenwachsen, aber nicht entscheidend. Wichtiger ist, dass dieses „Wir“ existiert und politisch mobilisiert werden kann.“