... zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit
Das vor sechs Jahrzehnten erschienene Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit enthält eine sozialgeschichtliche und begriffshistorische Darstellung des Verständnisses von Öffentlichkeit. Der Band zog Kritik auf sich, gab aber auch Impulse für weitergehende historische Forschungen. Entscheidend für Habermas war: „Für die Sozialwissenschaften ist damit der politische Begriff der Öffentlichkeit in einen breiteren sozialstrukturellen Kontext eingebettet worden.“
Bis dahin war der Begriff Öffentlichkeit eher im Kontext von „öffentlicher Meinung“ weitgehend unspezifisch gebraucht worden, „während nun die soziologisch begriffene Öffentlichkeit im funktional differenzierten Gehäuse moderner Gesellschaften einen Ort zwischen Zivilgesellschaft und politischem System erhielt. So konnte sie auch im Hinblick auf ihren funktionalen Beitrag zur Integration der Gesellschaft und insbesondere im Hinblick auf die politische Integration der Staatsbürger untersucht werden“. Für die weitere Darstellung hier entscheidend ist die Funktion, die Öffentlichkeit für die Bestandssicherung des demokratischen Gemeinwesens erfüllt.
In einem demokratisch verfassten Gemeinwesen mit dem Status freier und gleicher Staatsbürger können die Bürger_innen gar nicht anders partizipieren als mit der intuitiven Unterstellung, dass die Bürgerrechte, die sie wahrnehmen, im Allgemeinen auch halten, was sie versprechen.
„Der normative Kern der demokratischen Verfassung muss, gerade im Hinblick auf die Stabilität des politischen Systems, im staatsbürgerlichen Bewusstsein, das heißt in den impliziten Überzeugungen der Bürger selbst, verankert sein. Nicht die Philosophen, die Bürgerinnen und Bürger müssen in der großen Mehrheit von den Prinzipien der Verfassung intuitiv überzeugt sein.“
Dies gilt auch für das Vertrauen darauf, dass Stimmen im demokratischen Verfahren gleich viel zählen, dass es in Rechtsprechung und im Regierungs- und Verwaltungshandeln grundsätzlich mit rechten Dingen zugeht.
Demokratietheorie ist vor diesem Hintergrund nicht rein normativ, sondern muss Prinzipien aus dem geltenden Recht und den entsprechenden intuitiven Erwartungen und Legitimitätsvorstellungen der Bürger rational rekonstruieren. Deliberative Politik ist daher kein Ideal, an dem eine davon abfallende Realität gemessen werden muss, „sondern in pluralistischen Gesellschaften eine Existenzvoraussetzung jeder Demokratie, die diesen Namen noch verdient. Denn je heterogener die sozialen Lebenslagen, die kulturellen Lebensformen und die individuellen Lebensstile einer Gesellschaft sind, desto mehr muss das Fehlen eines a fortiori bestehenden Hintergrundkonsenses durch die Gemeinsamkeit der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung wettgemacht werden.“
Meinungsbildung durch Massenmedien lässt im „zerstreuten Publikum der Staatsbürger einen Plural von öffentlichen Meinungen“ entstehen. Wie viel Gewicht der Wille der Staatsbürger auf die Entscheidungen des politischen Systems insgesamt gewinnen kann, hängt auch von der aufklärenden Qualität des Beitrags ab, den die Massenmedien zu dieser Meinungsbildung leisten.
Der demokratische Strom der Meinungs- und Willensbildung der Bürger verzweigt sich jenseits der Wahlentscheidung und wird durch die „von der Lobbyarbeit der Funktionssysteme belagerten“ Kanäle von Parteipolitik, Gesetzgebung, Justiz, Verwaltung und Regierung hindurchgeschleust. Die gefundenen Entscheidungen gehen im Rahmen der Gesetze aus Kompromissen zwischen funktionalen Notwendigkeiten, gesellschaftlichen Interessen und Wählerpräferenzen hervor.
Diese Vielstimmigkeit an gegensätzlichen Meinungen in der Öffentlichkeit setzt voraus, dass ein alle Auseinandersetzungen legitimierender Konsens über die Grundsätze der gemeinsamen Verfassung besteht. „Vor diesem konsentierten Hintergrund besteht der gesamte demokratische Prozess aus einer Flut von Dissensen, die von der wahrheitsorientierten Suche der Bürger nach rational akzeptablen Entscheidungen immer von neuem aufgewühlt wird.“ Letztlich geht es um die diskursive Qualität der Beiträge, nicht um das Ziel eines ohnehin nicht erreichbaren abschließenden Konsenses.
Ein organisierter Kapitalismus hat die demokratische Entwicklung im Westen in der Nachkriegszeit bis zur neoliberalen Wende geprägt. Während die Entwicklung des Sozialstaats in dieser Periode die Zustimmung der Bevölkerung zur Demokratie gestärkt hat, ließen sich im Zuge der Entfaltung einer Konsumgesellschaft auch schon „privatistische Tendenzen zu einer Entpolitisierung“ beobachten. „Seit dem neoliberalen Politikwechsel sind jedoch die westlichen Demokratien in eine Phase zunehmender innerer Destabilisierung eingetreten.“
Verstärkt wird dies durch die Herausforderungen der Klimakrise, den wachsenden Migrationsdruck sowie eine u.a. durch den Aufstieg Chinas und anderer „Schwellenländer“ sich verändernde weltwirtschaftliche und weltpolitische Lage. Im Inneren hat die soziale Ungleichheit in dem Maße zugenommen, in dem der Handlungsspielraum von Nationalstaaten durch die Imperative weltweit deregulierter Märkte eingeschränkt wurde.
Für eine den Maßstäben deliberativer Politik genügenden Rolle der politischen Öffentlichkeit, konkurrierende öffentliche Meinungen hervorzubringen, hat das Mediensystem eine ausschlaggebende Bedeutung. Die Relevanz digitaler Medien in Bezug auf einen erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit lässt sich etwa seit Beginn des neuen Jahrhunderts an Umfang und Art der Mediennutzung ablesen. Ob und inwieweit diese Veränderungen auch die deliberative Qualität der öffentlichen Debatte betreffen, ist offen. Allerdings sind die „Zeichen politischer Regression mit bloßem Auge zu erkennen“. Jedenfalls handelt es sich um eine mit der Einführung des Buchdrucks vergleichbare Zäsur in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung der Medien.
Entgrenzung und Beschleunigung der Kommunikationsmöglichkeiten und die Erweiterung der öffentlich thematisierten Ereignisse sind für den politischen Bürger von Vorteil. Digitale Plattformen, die Beiträge nicht produzieren oder redigieren, verändern den Charakter der öffentlichen Diskussion tiefgreifend. „Die grenzenlosen Kommunikationsnetze, die sich spontan um bestimmte Themen oder Personen bilden, können sich zentrifugal ausbreiten und gleichzeitig zu Kommunikationskreisläufen verdichten, die sich dogmatisch voneinander abschotten. Dann verstärken sich die Tendenzen der Entgrenzung und Fragmentierung gegenseitig zu einer Dynamik, die der Integrationskraft des von Presse, Radio und Fernsehen gestifteten Kommunikationszusammenhangs der nationalstaatlich zentrierten Öffentlichkeiten entgegenwirkt.“
Daten über Veränderungen in der Mediennutzung sind in der Regel quantitativ. Zur Qualität der öffentlichen Meinung liefern sie nur indirekte Anhaltspunkte. Es geht eher um informierte Vermutungen. So lässt sich einerseits ein dramatischer Bedeutungsverlust von Printmedien beobachten, zugleich bleiben nationale Zeitungen und Zeitschriften Leitmedien. „Der wachsende Zweifel an der Qualität der öffentlich-rechtlichen Medien geht vermutlich mit der zunehmend um sich greifenden Überzeugung vom wahlweise unzuverlässigen oder korrupten, jedenfalls zweifelhaften Charakter der politischen Klasse einher.“
Daher kann davon ausgegangen werden, dass die Vielfalt der Medien auf der Angebotsseite einerseits wichtige Voraussetzungen für auf längere Sicht kritische und vorurteilsimmune Meinungsbildung erfüllt, auf der anderen Seite aber „gerade die zunehmende Dissonanz vielfältiger Stimmen und die inhaltliche Komplexität der herausfordernden Themen und Stellungnahmen eine wachsende Minderheit der Medienkonsumenten dazu bewegt, digitale Plattformen für den Rückzug in abgeschirmte Echoräume von Gleichgesinnten zu nutzen.“
Während die alten Medien selbst die Werbeträger waren, geht es nun um kommerziell verwertbare Informationen, die bei anderen Dienstleistungen nebenbei hängen bleiben und ihrerseits individualisierte Werbestrategien ermöglichen. „Auf diesem durch Algorithmen gesteuerten Weg befördern die sozialen Medien auch einen weiteren Schub zur Kommodifizierung lebensweltlicher Zusammenhänge.“ Auch die Arbeit von Redaktionen mit Bezug auf Verwertbarkeit im Internet ändert sich.
Das verstärkt Tendenzen zu einem Verständnis journalistischer Arbeit als einer neutralen, entpolitisierten Dienstleistung: „Wenn Daten- und Aufmerksamkeitsmanagement an die Stelle gezielter Recherche und genauer Interpretation treten“, werden sich Redaktionen von Orten der politischen Debatte hin zu Koordinationszentren für Produktion und Distribution von Content entwickeln. „Wie vielfach beobachtet, entsteht in jenen spontan selbstgesteuerten und fragmentierten Öffentlichkeiten, die sich sowohl von der redaktionellen oder offiziellen Öffentlichkeit als auch voneinander abspalten, ein Sog zur selbstbezüglich reziproken Beschäftigung von Interpretationen und Stellungnahmen.“
Öffentlichkeit wird nicht länger als inklusiv wahrgenommen, die politische Öffentlichkeit wird nicht länger als ein „Kommunikationsraum für eine alle Bürger umfassende Interessenverallgemeinerung“ verstanden. Digitale Plattformen sollen sich nicht jeder publizistischen Sorgfaltspflicht entziehen. „Es ist deshalb keine politische Richtungsentscheidung, sondern ein verfassungsrechtliches Gebot, eine Medienstruktur aufrechtzuerhalten, die den inklusiven Charakter der Öffentlichkeit und einen deliberativen Charakter der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung ermöglicht.“