In der aktuellen Weltlage sind viele Anzeichen für die Entstehung einer multipolaren internationalen Ordnung zu erkennen. Es gibt mehrere Zentren, die um Einfluss werben, sowie eine entsprechend große Anzahl regionaler Abkommen. Uneingeschränkte Lagerzugehörigkeiten werden künftig die Ausnahme und Überschneidungen die Regel sein. Staaten, die bislang wenig außenpolitischen Einfluss außerhalb ihrer eigenen Region hatten, gewinnen an globaler Bedeutung. Insbesondere die außenpolitischen Optionen von Staaten wie Brasilien, Indien oder Südafrika nehmen zu.
Die Perspektive einer multipolaren Welt ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Im Westen fürchtet man einen Verlust an Einfluss und assoziiert Multipolarität mit Unordnung und Unvorhersehbarkeit. Vielen fällt es schwer, die post-westliche Weltordnung anzuerkennen. Wer jedoch nach einer neuen Bipolarität wie der zwischen den USA und China sucht, ohne Multipolarität anzuerkennen, übersieht die Brüche im vermeintlich geeinten Westen und die zunehmende Bedeutung von Süd-Süd-Beziehungen. Im Globalen Süden hingegen verspricht man sich von einer multipolaren Welt einen Gewinn an Autonomie: Man hofft, sich nicht länger zwischen dem Westen und internationaler Isolation entscheiden zu müssen.
Es ist davon auszugehen, dass sich die internationale Politik künftig immer neu an wechselnden Polen ausrichten wird. Zu erwarten ist darüber hinaus, dass der Aufstieg von Staaten wie China, Indien und anderen die ohnehin schon bestehende Asymmetrie zwischen großen und kleinen Staaten in der internationalen Politik vertieft. Im Bereich der globalen Wirtschaft ist diese Multipolarität bereits real. China ist das Land mit dem größten BIP, Indien der größte Verbrauchermarkt und Entwicklungsländer handeln mehr miteinander als mit den Industriestaaten.
Zu beachten ist in dieser Diskussion allerdings die Unschärfe des Begriffs „Multipolarität“. Meinte dieser früher die Großmachtpolitik zwischen mehr als zwei mit ähnlicher Macht ausgestatteten Polen, beschreibt der Begriff heute, dass Regierungen großer und kleiner Staaten und deren Gesellschaften miteinander verwoben sind. Getrennt voneinander existierende Pole gibt es nicht mehr; ebenso wenig sind die beteiligten Staaten gleich mächtig. Auch wirtschaftlich sind die Pole nicht gleich. So machen die Länder der Afrikanischen Union nur drei Prozent der globalen Wirtschaftskraft aus. Trotzdem hilft der Begriff zu verstehen, welchen Dysfunktionalitäten die internationale Politik gegenübersteht. Er grenzt die aktuelle Lage historisch sowohl von der unipolaren Welt mit den USA als alleinigem Hegemon als auch von der bipolaren Welt des Kalten Kriegs ab.
Zu den Schattenseiten der Multipolarität gehört, dass der wachsende Einfluss des Globalen Südens die Ungleichheit in der internationalen Politik nicht beseitigt hat. Die neuen Großmächte aus dem Globalen Süden werden allen voran für sich sprechen und bindende Übereinkünfte meiden, um den eigenen Handlungsspielraum maximal groß zu halten. Aufstrebende Staaten wie China und Indien verschärfen auf diese Weise die Exklusivität multipolarer Politik.
Während die deutsche außenpolitische Debatte noch immer von einem Gegensatz zwischen Interessen und Werten bestimmt ist, nehmen die Länder des Globalen Südens eine andere Perspektive ein: „Nicht die vielversprechenden Ansätze für eine feministische und moderne Außen- und Entwicklungspolitik bestimmen die Diskussionen des westlichen Engagements im Globalen Süden, sondern eher die Erinnerung an eine als wertegebundene Außenpolitik getarnte Interessenpolitik des Westens von der Kolonialzeit bis heute.“ Aufgrund dieser Schieflage hinkt der Westen hinterher, wenn es darum geht, den Ländern des Globalen Südens bessere Angebote zu machen und pragmatische Kooperationen zu offerieren. Formate wie das China-Afrika-Kooperationsforum für wirtschaftliche Zusammenarbeit gibt es vom Westen aus noch nicht.