Akademie für Soziale Demokratie

Herfried Münkler (2022): Die Zukunft der Demokratie. Wien: Christian Brandstätter Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Thilo Scholle
Thilo Scholle ist Jurist und arbeitet als Referent in der Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft des Bundesministerium für Arbeit und Soziales.


buch|essenz

Kernaussagen

Die westliche Form der parlamentarischen Demokratie steht aktuell unter Druck, und dies sowohl von innen als auch von außen. Im globalen Kontext betrachtet steht die westliche Demokratie in einem Wettbewerb mit autoritär-technokratischen und autoritär-autokratischen Systemen. Im Innern sieht sie sich mit den Herausforderungen einer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber bürgerschaftlicher und vor allem politischer Teilnahme der Bürger_innen sowie mit den Problemen eines zunehmenden Bedeutungsverlusts von explizit politischem Engagement und insbesondere von Parteien konfrontiert, für die bislang keine funktionalen Äquivalente gefunden werden konnten. Die Demokratie ist aber auf das Vorhandensein möglichst vieler engagierter, sachlich kompetenter und urteilsfähiger Bürgerinnen und Bürger angewiesen – ohne sie hat sie keine Zukunft.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Funktionierende, gesellschaftlich legitimierte und handlungsmächtige politische Institutionen sind für eine Politik der Sozialen Demokratie essenziell. Das gilt insbesondere dort, wo demokratische Gestaltungsansprüche auf wirtschaftliche Macht treffen. Das Nachdenken über den aktuellen Stand und die Zukunft der Demokratie ist damit ein zentrales Thema für die Ausgestaltung einer Politik der sozialen Demokratie. Interessant an der im vorliegenden Buch eingeschlagenen Denkrichtung ist auch, dass der Autor die Relevanz des parteipolitischen Engagements für eine funktionierende Demokratie herausarbeitet.


buch|autor

Herfried Münkler studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Frankfurt am Main und wurde dort 1981 mit einer Arbeit über Niccolò Machiavelli promoviert. Nach der Habilitation im Jahr 1987 erfolgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2018 innehatte. Bis 2019 war Münkler zudem Vorsitzender der Internationalen Marx-Engels-Stiftung.

Mit seinen Büchern und öffentlichen Interventionen hat Münkler allgemeine Bekanntheit weit über politikwissenschaftliche Fachkreise hinaus erlangt


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buch|inhalt

Herfried Münkler beginnt seine Analyse mit der folgenden These: „Die Demokratie der Zukunft wird eine andere sein als die Demokratie der Gegenwart. Bliebe sie dieselbe, so hätte die Demokratie keine Zukunft. Sie muss vielmehr durch eine Reihe von Veränderungen zukunftsfähig gemacht werden, um Bedrohungen und Herausforderungen gewachsen zu sein, wie sie bereits jetzt erkennbar sind.“ Diese Bedrohungen können von außen kommen – etwa in Form von hybriden Destabilisierungsversuchen aus Russland –, aber auch von innen. Als Beispiele nennt Münkler eine wachsende Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber der bürgerschaftlichen Teilhabe an der Politik sowie eine Feindseligkeit gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat wie sie etwa unter denjenigen verbreitet sei, für die Demokratie nur dann besteht, wenn ihr eigener Wille durchgesetzt wird. „Gegen diesen doppelten Angriff muss sich die Demokratie verteidigen können, aber das hat Voraussetzungen, die zurzeit nicht oder nur teilweise gegeben sind.“ Als Leitlinie für Reformbemühungen ergibt sich daraus die folgende Zielstellung: Die Demokratie muss als politische Ordnung so attraktiv sein, „dass eine Mehrheit der Bevölkerung den Willen hat, nicht nur qua Personaldokument, sondern im politikpartizipativen Sinn Bürgerin und Bürger zu sein. Die Demokratie der Zukunft ist auf das Vorhandensein möglichst vieler engagierter, sachlich kompetenter und urteilsfähiger Menschen angewiesen – oder aber sie hat keine Zukunft.“

Wie es um die Demokratie bestellt ist

Die Zuversicht der 1990er Jahre, dass der Demokratie die Zukunft gehört, ist längst verflogen. Größere Teile der Bürgerschaft haben sich von der Demokratie abgewandt, entweder aus Desinteresse am Unterschied zwischen Demokratie und anderen Regierungsformen oder weil sie behaupten, die bestehenden Demokratien seien nur dem Namen nach demokratisch, in Wahrheit aber Herrschaftsformen, in denen das Volk belogen und betrogen werde. Hinzu kommen Bedrohungen von außen, etwa durch autoritär-autokratische Systeme wie Russland oder autoritär-technokratische Systeme wie China, das laut Münkler das für Demokratien westlichen Typus gefährlichere System darstellt. Denn anders als Russland setzt China „weniger auf militärische als auf wirtschaftliche Macht und [tritt] damit sehr viel smarter auf als Russland.“ Während Russland nur für wenige Militärdiktaturen zum Vorbild werden konnte, wird das chinesische Modell inzwischen in vielen sich auf dem Modernisierungsweg befindlichen Ländern als attraktivere Alternative zum westlichen Vorbild der parlamentarischen Demokratie mit politischer Gewaltenteilung und einer vitalen Zivilgesellschaft gesehen. Da die Dynamik des Marktes im chinesischen Modell nicht an die Institutionen der Demokratie und des Rechtsstaats gekoppelt ist, ist diese Art des politischen Systems für ambitionierte politische Eliten leichter zu handhaben. In dieser sich abzeichnenden globalen Konfrontation zwischen den demokratischen Ordnungen auf der einen und autoritären Regimen auf der anderen Seite ist der Sieg der demokratischen Ordnungen alles andere als sicher.

So viel zur Bedrohung von außen. Im Innern ist insbesondere der Topos eines vermeintlich vernachlässigten „Volkswillens“ von entscheidender Bedeutung. Die in Demokratien unvermeidliche Komplexität von Beratungs- und Entscheidungsprozessen führt zu Herausforderungen, bezüglich derer Münkler sagt:

„Man muss politisch erfahren und obendrein auch noch juristisch bewandert sein, um sich in diesem System aus Systemen zurechtzufinden und darin handlungsfähig zu sein.“ Gerade hier setzen populistische Bewegungen an: „Je größer die Anzahl der von der Komplexität überforderten Bürgerinnen und Bürger ist, desto schlechter ist es um die Demokratie bestellt.“ Demokratien sind also sehr viel stärker als andere Systeme auf kompetente Bürger_innen angewiesen, „bei denen die Vorstellung der Betroffenheit durch politische Entwicklungen und Entscheidungen zu Informiertheit und Engagement führt“, und sie sind Systeme, die sich ständig überdenken müssen, um „die Balance zwischen individueller Freiheit und der Fähigkeit zu kollektiver Willensbildung aufrechtzuerhalten.“

Warum und seit wann die Demokratie in die Defensive geraten ist

Mit den Entwicklungen des Internets verbundene Hoffnungen auf partizipativere politische Entscheidungsprozesse haben sich nicht erfüllt. Dies liegt auch daran, dass moderne Demokratien nicht nur nach Mehrheitsentscheidung funktionierten, sondern sich daneben eine „Kultur der Aushandlungsprozesse“ herausgebildet hat, in der unterschiedliche Positionen berücksichtigt und zum Bestandteil schließlich gefundener Lösungen gemacht werden. Dadurch verändern sich auch die Rollen der Exekutive und des Parlaments, das nicht länger nur die Regierungstätigkeit kontrolliert, sondern nun auch selbst an dieser teilnimmt. Dies hat eine Bearbeitung deutlich komplexerer Aufgaben ermöglicht, als dies in rein binären Strukturen von Zustimmung und Ablehnung im Rahmen von Mehrheitsentscheidungen der Fall ist. Strittige Fragen der Abwägung lassen sich letztlich nur in abgegrenzten Zirkeln treffen. Die ambivalente Wirkung des Internets setzt sich in der permanenten Aufregung über einzelne Posts fort, die zu einer „Prämie“ auf exzentrische oder extremistische Äußerungen führt. Gefördert werden damit eine Gereiztheit der allgemeinen Stimmung sowie die bequeme Verbreitung provokativer Äußerungen. „Damit wird eine Grundvoraussetzung der Demokratie in Frage gestellt, jedenfalls bei jenem Typ von Demokratie, der vor die Entscheidung einen längeren Prozess gemeinsamen Beratschlagens gestellt hat.“ Dazu kommt die Problematik der Falschinformationen: „Die Demokratie ist eine politische Ordnung, die eine Formierung besonderer Interessen sowie einen Pluralismus der Werte zulässt. Sie folgt darin der Überzeugung, dass die regelgebundene Austragung von Interessenkonflikten und die Konkurrenz der Werte den Zusammenhalt des politischen Verbandes stärkt und festigt – auf Dauer jedenfalls sehr viel mehr, als das bei deren Unterdrückung der Fall wäre. Verschwörungstheorien und Lügenkaskaden stellen dagegen eine Lizenz dar, die Regeln des Zusammenspiels von Parteiung und Gemeinwohl, Konfliktaustragung und Zusammenhalt außer Kraft zu setzen.“

Warum und seit wann die Demokratie in die Defensive geraten ist

In der Spätmoderne strebt das Subjekt nach Selbstverwirklichung, „gutem Leben“ und sozialem Erfolg. Arbeit soll dabei nicht nur dem Broterwerb dienen, sondern auch Sinn und Befriedigung verschaffen.

Das Streben nach Selbstverwirklichung ist eng mit dem Ideal der Authentizität des Singulären verbunden. Die digitale Kultur intensiviert den Konsumkapitalismus, und soziale Medien bieten neue Plattformen zur Selbstdarstellung. Das spätmoderne Subjekt präsentiert sein interessantes Leben in den sozialen Medien, um es so in Singularitätskapital, Anerkennung und Erfolg zu verwandeln. Es sucht nach intensiven positiven Erfahrungen und empfindet bereits neutrale oder fehlende Emotionen als unbefriedigend.

Das spätmoderne Modell der erfolgreichen Selbstentfaltung lässt sich dabei als eine besonders ambitionierte Version des „pursuit of happiness“ begreifen, weil das Subjekt nun selbst in seinem Leben den gleichen Fortschritt erfahren soll wie die Gesellschaft als Ganzes. Jedoch nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene stößt das Modell des Wachstums mittlerweile an ökologische Grenzen, auch für das einzelne Subjekt gelten durch emotionale Belastungen »Grenzen des Wachstums«. Denn durch den ständigen Vergleich mit anderen und die damit verbundenen Erwartungen können Enttäuschungen, Trauer, Angst und Wut entstehen. Die spätmoderne Kultur des Subjekts ist emotionalisiert, doch es mangelt ihr an legitimen Orten und anerkannten Methoden, um mit negativen Emotionen umzugehen. So erklärt sich, weshalb die charakteristischen Krankheitsbilder unserer Zeit Depression, Burn-out und psychosomatische Störungen sind.

Eine Lösungsstrategie könnte darin bestehen, eine distanzierte Haltung zu den eigenen Emotionen einzunehmen und die Unkontrollierbarkeiten des Lebens zu akzeptieren. Die eigenen Emotionen sollten also als ein wechselhafter psychischer Prozess verstanden werden, der nicht die gesamte Identität bestimmt. Es gilt, eine Ambiguitätstoleranz auszubilden und sich nicht von Emotionen abhängig zu machen. Profitieren könnte man hierbei von psychoanalytischen Ansätzen und dem Stoizismus.

Worin die Gefährdungen und Bedrohungen der Demokratie bestehen

Drei Herausforderungen für die Demokratie lassen sich vergleichen: sozio-ökonomische Veränderungen, Veränderungen, die mit den Medien zu tun haben und die Art der Kommunikation verändern, sowie Veränderungen, die daraus resultieren, wie der demokratische Prozess mit alltäglichen Problemen, aber auch mit außergewöhnlichen Herausforderungen umgeht. „Die Erwartungen an den Output des demokratischen Systems sind in kontinuierlichem Wachstum begriffen, während der Input der Bürgerinnen und Bürger – ihr Engagement in und für die Demokratie – immer weiter zurückgeht.“ Zu beachten ist zudem das notorische Legitimationsdefizit internationaler Organisationen. Eine nachhaltige Bekämpfung des Klimawandels wird es nur geben, wenn die Bürger_innen diesen Kampf als ihre eigene Aufgabe sehen. Das Konsensmodell der Demokratie, das auf Aushandlungsprozessen und Kompromissen beruht, ist dafür besser geeignet als ein Demokratiemodell, das Mehrheitsentscheidungen über konkurrierende Handlungsvorschläge stellt. Dies schließt kontrovers geführte Debatten nicht aus.

Die Demokratie braucht kompetente und engagierte Bürgerinnen und Bürger

Eine der existentiellen Fragen der Demokratie lautet: Wie lässt sich das politische Engagement der Bürger_innen steigern? Die Kommunikationsverdichtung durch das Internet hat zu einer „permanenten politischen Hypernervosität“ geführt. Vor diesem Hintergrund haben „die demokratischen Verfassungsstaaten in Europa […] dafür zu sorgen, dass es eine verlässliche Nachrichtenversorgung der Bevölkerung gibt, dass die öffentlichen Sendeanstalten nicht in ein Instrument des Staates oder der ihn beherrschenden Parteien verwandelt werden und dass im Bereich der privaten Sender keine Monopole entstehen – ebenso wenig wie das bei den Printmedien der Fall sein darf.“ Ein weiterer zentraler Punkt ist die Bereitschaft der Bevölkerung zu explizit politischem und nicht nur allgemein gesellschaftlichem Engagement. Da die Parteien ihren Vorsprung bei der Weitergabe von Wissen eingebüßt haben, sinkt der Wert einer Parteimitgliedschaft. Parteien haben somit einen Teil ihrer Bedeutung für den demokratischen Prozess verloren, und funktionale Äquivalente sind bisher nicht entstanden. Dies hat zum Schwund des Legitimitätsglaubens gegenüber der Demokratie beigetragen. Die Kommunalpolitik könnte ein Feld sein, in dem durch das Experimentieren mit ergänzenden politischen Verfahren etwas in Bewegung gebracht werden könnte, etwa durch die Erprobung neuer Beteiligungsverfahren. Wichtig ist das Lernen in Gestalt der politischen Teilhabe.


buch|votum

Herfried Münklers Buch ist ein pointiert geschriebener Essay mit einem klaren roten Faden. Interessant ist sein deutlicher Blick auf die drohenden Gefahren für den Bestand und die Zukunft der Demokratie. Der Autor antwortet mit explizitem Vertrauen in die etablierten Strukturen und Verfahren sowie in deren Weiterentwicklung. Insbesondere sein Plädoyer für konsensdemokratische Ansätze als zentral für die Bewältigung großer gesellschaftlicher Fragen ist vor dem Hintergrund ansonsten sehr radikal daherkommender anderer Ansichten bemerkenswert und im Ergebnis durchaus plausibel argumentiert. Beachtenswert ist auch Münklers Insistieren auf die Bedeutsamkeit politischer Handlungserfahrung und die Relevanz von politischen Parteien bzw. in ihrem Wert für die Demokratie vergleichbaren Institutionen. Die an einigen Stellen etwas pauschal wirkende Bezugnahme auf „den“ Westen besitzt in einem globalen Kontext möglicherweise durchaus Erklärungswert. Auch Münkler hat keinen Masterplan, wie sich der als Vorbild beschriebene einmal erreichte Zustand der „westlichen Demokratie“ einfach gesellschaftlich wiederherstellen lässt. Er bietet allerdings klare Ansätze im Hier und Jetzt, die hilfreiche Orientierungspunkte für die weitere Diskussion sind.

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Verlag: Brandstätter
Erschienen: 2022
Seiten: 200
EAN: 978-3-7106-0651-9

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