Aus der Perspektive des räumlichen Freiheitsverständnisses ist Bleiben mit Stagnation gleichzusetzen. Aus zeitlicher Perspektive verspricht Bleiben zumindest Fortdauer. Darin allein besteht aber noch keine Freiheit. Denn Zeit zur Verfügung zu haben, wird nicht per se positiv erlebt. Im Gegenteil: Menschen, die in Haft sitzen, keine erfüllende Beschäftigung haben, gelangweilt sind oder unter Depressionen leiden, erfahren freie Zeit zuweilen als Belastung. Und wäre die Fortdauer selbst ultimatives Ziel, dann käme ein früher Tod einer gescheiterten Existenz gleich.
Worauf also kommt es an, wenn man Freiheit in einer zeitlichen Dimension denkt? Im Sinne des klassischen Besitzindividualismus liegt es nahe, Freiheit als Eigentum von Zeit zu verstehen, also als Zeit, die einem selbst gehört und mit der man machen kann, was man will. Diese leere, verfügbare Zeit ist die Voraussetzung dafür, die eigene Arbeitskraft verkaufen zu können – wie es im klassischen Lohnarbeitsverhältnis geschieht. Die Freiheit als Zeiteigentum folgt also einer kapitalistischen Logik.
Wir erfahren unser Leben aber häufig gerade dann als erfüllt, wenn uns unsere Zeit nicht allein gehört, sondern wenn wir sie mit anderen teilen. Tiefe Bindungen zu haben, langfristige Vorhaben zu verfolgen und Verantwortung zu übernehmen heißt immer auch, nicht mehr alleine über seine Zeit verfügen zu können. Die Qualität der Zeit bemisst sich dann daran, dass sie erfüllt ist. Simone de Beauvoir und Hannah Arendt etwa sehen den Schlüssel zur Freiheit im Handeln selbst und nicht in der Entscheidungsfreiheit zwischen verschiedenen Optionen. Freiheit bedeutet entsprechend nicht, zu jeder Zeit alles an den verschiedensten Orten der Welt tun oder erleben zu können. Sie liegt vielmehr darin, eine Idee, eine Lebensform oder ein Projekt in verbindlicher Kooperation mit anderen verwirklichen zu können. Hierbei handelt es sich um ein zutiefst soziales Verständnis von positiver Freiheit: Die eigene Freiheit wird durch die Freiheit anderer nicht beschnitten, sondern potenziert, denn viele Ideale oder Pläne können nur gemeinsam realisiert werden.
Eva von Redecker verteidigt diese soziale Freiheit gegen die Verfechter rein negativ verstandener Freiheit. Negative Freiheit heißt, seine Ziele ungestört verfolgen zu können, ohne von äußerem Zwang behindert zu werden. Vertreter positiver Freiheit bestreiten den Wert der negativen Freiheit nicht. Sie betonen aber, dass es ohne eine soziale Umgebung kein wollendes oder wählendes Individuum gäbe. Um tatsächlich aktiv aus verschiedenen Optionen für die eigene Lebensführung wählen zu können, bedarf es sozialer Institutionen und Infrastrukturen wie Bildung, Recht und Versorgung: „Aus Sicht der positiven Freiheit sind gesellschaftliche Vorgaben oder Gegenüber deshalb nicht immer nur mögliche Hindernisse oder gar Zwangseinrichtungen. Im Gegenteil, sie ermöglichen überhaupt erst die Freiheit. Freiheitsliebhaber_innen sollten sich der irdischen Politik zuwenden und gemeinsam dafür einsetzen, diese Bedingungen möglichst freiheitsfördernd zu gestalten.“
Neben der Sterblichkeit ist auch die Geburtlichkeit eine Grundbedingung menschlichen Lebens. Jegliche Neuanfänge, die gewohnte Strukturen unterbrechen, lassen sich als Wiederholungen der Geburt begreifen. Dieses Neu-zur-Welt-Kommen bedeutet Befreiung. So verstanden ist Zeit eine Abfolge von Entwürfen und Anfängen, die Resultate der eigenen Initiative, aber auch Effekte der Verbundenheit mit anderen sein können. Auf kollektiver Ebene liegt der stärkste Ausdruck solcher Befreiungskraft im Generalstreik. Aber auch jede demokratische Entscheidung kann uns zu kollektiver Befreiungskraft verhelfen. Das Neue kann in Selbstveränderung bestehen, es kann aber auch darin liegen, dass sich die Beziehung zur Welt ausweitet. Bleibefreiheit, die auf solch „initialer Zeitlichkeit“ beruht, ist „erfüllte Zeit.“