Akademie für Soziale Demokratie

Armin Schäfer & Michael Zürn (2021): Die demokratische Regression. Berlin: Suhrkamp Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Thilo Scholle –
Thilo Scholle ist Jurist und arbeitet als Referent in der Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft des Bundesministerium für Arbeit und Soziales.


buch|essenz

Kernaussagen

Niedrige Wahlbeteiligung, Vertrauensverlust politischer Institutionen, Aufstieg populistischer Parteien und Bewegungen: Die Krisensymptome sind in den westlichen Demokratien ähnlich. Armin Schäfer und Michael Zürn verdichten ihre Analyse des aktuell zu beobachtenden Verlustes an „Qualität der Demokratie“ unter dem Begriff der „demokratischen Regression“. Zu beobachten ist die Tendenz einer „doppelten Entfremdung“ in der Bevölkerung: zum einen die abstrakte Entfremdung der tatsächlichen politischen Prozesse vom demokratischen Ideal; zum anderen eine konkrete Entfremdung von Teilen der Bevölkerung von den demokratischen Institutionen. Entgegengetreten werden kann dieser Entwicklung durch die Schaffung von mehr demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten und die stärkere Rückbindung von öffentlichen Entscheidungen und Institutionen an demokratische Willensbildung.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die politische Durchsetzungsfähigkeit demokratischen Handelns ist eine der zentralen Voraussetzungen für gesellschaftliche Gestaltung im Sinne der Sozialen Demokratie.

Populistische Politikstile und populistische Parteien sind für etablierte politische Parteien und politisch-institutionelle Verfahrensweisen eine Herausforderung. Dies ist in den vergangenen Jahren öffentlich wie auch parteiintern vielfach debattiert worden.

Wichtig ist dabei, keine rein moralische Auseinandersetzung mit populistischer Politik zu führen, sondern die gesellschaftlichen Hintergründe und Ursachen und damit die Erfolgsbedingungen populistischer Politik in den Blick zu nehmen. Der vorliegende Band entwickelt hier eine Reihe wichtiger Einsichten und Denkanstöße – auch wenn der von den Autoren intendierte umfassende theoretisch-analytische Rahmen sicherlich noch weiterer Diskussionen bedarf.

Verlag: Suhrkamp Verlag
Erschienen: 07.03.2021
Seiten: 247
EAN: 978-3-518-12749-0


buch|autoren

Der im Jahr 1959 geborene Michael Zürn studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Tübingen sowie Internationale Beziehungen in Denver (USA). Seit 2004 ist er Direktor der Abteilung „Global Governance“ am Wissenschaftszentrum Berlin sowie Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Veränderungen von Staatlichkeit und die Entwicklung der internationalen Ordnung.

 

Der im Jahr 1975 geborene Armin Schäfer studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre sowie Friedens- und Konfliktforschung in Marburg und Kent (GB). Nach Tätigkeiten u.a. als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln ist er seit 2018 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Münster. Zu seinen zentralen Forschungsthemen gehört die Frage, wie sich die soziale Lage und soziale Schichtung auf demokratische Beteiligung auswirkt.


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buch|inhalt

Der globale Kapitalismus hat sich einerseits als sehr leistungsfähig erwiesen: So sind beispielsweise in Asien Hunderte Millionen Menschen der absoluten Armut entkommen. Andererseits stagnierte im globalen Maßstab das Einkommen der ärmsten Menschen bei unter einem Dollar am Tag, während die „Superreichen“ weiter an Vermögen zulegen konnten. Diese Befunde haben auch Auswirkungen auf die Demokratie: „Die materielle Basis für die Unterstützung der Demokratie weicht auf.“ Die Attraktivität der politischen Systeme Europas, Nordamerikas und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg basierte nicht nur auf der „normativen Logik der Freiheit und Selbstbestimmung“, sondern auch auf der empirischen Beobachtung, „dass individuelle Wohlfahrt und die Bereitstellung wichtiger Kollektivgüter langfristig am besten im Rahmen einer liberalen Demokratie erreicht werden“ könnten.

Die demokratische Fortschrittsgeschichte verlief nicht linear, sondern ist geprägt durch politische Kämpfe und Konflikte um die Ausweitung sozialer und demokratischer Rechte. Ein dauerhafter Weg des Fortschritts ist nicht garantiert – wie sich etwa am Aufkommen und an den Auswirkungen des neuen Populismus zeigt. Der neue Populismus tritt dabei mit dem Anspruch an, die Demokratie retten zu wollen, indem „dem Volk“ wieder eine Stimme gegeben wird. Populismus ist dabei keine „leere Form“, die beliebig mit Inhalten gefüllt werden kann. Bei der aktuellen Ausprägung des Populismus als „autoritärer Populismus“ handelt es sich um eine eigenständige Ideologie, die auf eine unvermittelte Form der Mehrheitsrepräsentation baut und sich nationalistisch gegen vermeintlich liberale kosmopolitische Eliten wendet. Wichtig ist die Vorstellung, dass es einen erkennbaren Volkswillen gibt, der ohne weitere Diskussion repräsentiert werden kann. Andere Ansichten oder die Vorstellung, dass sich politische Meinungen weiterentwickeln und durch die Teilnahme am öffentlichen Diskurs verändern können, sind nicht vorgesehen. Demokratischer Streit ist in diesem Sinne nicht nötig, weil „das Richtige“ bereits feststeht und nur erkannt und vertreten werden muss.

Erklärungsbedürftig mit Blick auf den Populismus ist insbesondere, warum bei schlechter wirtschaftlicher Lage beziehungsweise befürchtetem sozialen Abstieg eine Hinwendung zu populistischen Politikern und nicht etwa zu linken Parteien erfolgt. Sozioökonomische Ansätze allein reichen für eine Erklärung des Phänomens daher nicht aus. Ergänzt werden muss die Erklärung unter anderem um die politische Frage der Repräsentation: „Wer Populismus erklären möchte, darf die Augen vor den Schwächen der Demokratie nicht verschließen.“

Die Vermessung der Demokratie: Zwischen Fortschrittsoptimismus und demokratischer Regression

Begrifflich zu klären ist zunächst, was mit „Demokratie“ gemeint ist. Mit Blick auf den demokratischen Prozess lassen sich zwei Prinzipien herausarbeiten: das „Betroffenheitsprinzip“, demzufolge alle von einer Entscheidung betroffenen Personen ein Mitspracherecht bei der Entscheidungsfindung haben sollen; und das „Deliberationsprinzip“, nach dem alle Entscheidungen öffentlich erörtert und durch Argumente gerechtfertigt werden müssen. Eine Hochzeit der Demokratie im Sinne der beiden Prinzipien lag auch im internationalen Kontext in der Entwicklung des „demokratischen Rechts- und Interventionsstaates“ in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Dieser „eingebettete Liberalismus“ wurde Opfer seines eigenen Erfolgs, indem er eine kontinuierliche Dynamik der Liberalisierung und des beschleunigten technologischen Fortschritts in Gang setzte und damit einen Globalisierungsschub auslöste. In der Folge konnte nationale Politik nicht mehr in allen Bereichen die gewünschten Ergebnisse erzielen. Der Entscheidungsspielraum in Bezug auf nationale Marktinterventionen und Sozialschutzprogramme sank, während die Bedeutung des transnationalen Finanzkapitals stieg. Zugleich gelang es nicht, die demokratischen Prinzipien auf internationaler Ebene zur Geltung zu bringen. Die globale Ordnung verliert „an Anerkennung und Legitimität, weil die internationalen Institutionen als Instrumente der liberalen Globalisten und der Exekutiven einiger weniger mächtiger Staaten angesehen werden“.

Die Ideologie des Populismus und die neue Konfliktlinie

In der Forschung gibt es zum einen ein Verständnis von Populismus als einem strategischen Konzept für den Politikstil eines individuellen Anführers, der mit verschiedenen Inhalten gefüllt werden kann; zum anderen wird Populismus auch als ideelles Konzept im Sinne einer Weltsicht oder Ideologie verstanden. Als spezifische Merkmale des autoritären Populismus lassen sich die folgenden Merkmale herausarbeiten:

  • Politische Gemeinschaften enden an nationalen Grenzen.
  • Es wird ein homogener Volkswillen unterstellt, wobei zwischen dem „wahren Volk“ und denen, die nicht dazu gehören, eine scharfe Grenze gezogen wird.
  • Politische Einstellungen werden als fix und feststellbar und weder im Dialog noch in der Auseinandersetzung veränderbar verstanden.
  • Es besteht die Forderung nach einer Umsetzung des „Mehrheitswillens“.

Mit Blick auf sozioökonomische Entwicklungen lässt sich feststellen, dass Globalisierungsgewinner ein überdurchschnittliches Bildungsniveau, ein hohes Maß an kulturellem und Humankapital besitzen und sowohl räumlich als auch beruflich mobil sind. Beinahe spiegelbildlich stehen dem die Globalisierungsverlierer_innen in den reichen Industrieländern gegenüber: „Die Wahrnehmung einer politischen Kaste, die den eigenen und den Interessen der kosmopolitischen Elite dient, breitet sich vor diesem Hintergrund aus.“ Die Kritik daran verfängt – auch deshalb, „weil die Politik der vergangenen Jahrzehnte tatsächlich Parteigängerin der liberalen Globalisten war“.

Die Krise der Repräsentation und die entfremdete Demokratie

Beim Blick auf empirische Befunde zu Einstellungen und Wahrnehmungen in Deutschland fällt auf, das bezogen auf den Befragungszeitraum bis kurz vor der Corona-Krise die eigene ökonomische Lage überwiegend positiv eingestuft wurde. Auch beim Thema Migration war nur eine – gewichtige – Minderheit mit der offiziellen Politik nicht einverstanden. Neben die ökonomische und kulturelle Erklärung muss daher eine politische Erklärung treten: „Es geht um das Gefühl einer mangelnden Repräsentation in und die damit verbundene Entfremdung von der Demokratie.“ Dies beruht vor allem auf zwei Entwicklungen: Zum einen zeigt sich eine „selektive Responsivität der gesetzgebenden Parlamente“, die vor allem den oberen Schichten und Klassen besondere Aufmerksamkeit zu geben scheinen. Zum anderen haben Parlamente und Parteien zugunsten von „nichtmajoritären Institutionen“ – etwa Zentralbanken, Gerichten oder internationalen Institutionen –  an Bedeutung verloren. Unter Rückgriff auf empirische Auswertungen lässt sich für die Bundesrepublik feststellen, dass der Bundestag Politikänderungen eher umsetzt, wenn diese von Berufsgruppen mit höherem sozialem Status und höheren Bildungs- und Einkommensgruppen mehrheitlich befürwortet werden.

Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts war eine historische Errungenschaft der Arbeiterklasse und die Voraussetzung für die Schaffung des Wohlfahrtsstaates. Die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen in „nichtmajoritäre-Institutionen“ hat deshalb dramatische Auswirkungen.

Krisen der Demokratie

Wichtige Beispiele für die Verschiebung zu „nichtmajoritären Institutionen“ finden sich im Handeln der Europäischen Union. Dies betrifft etwa die Ausgestaltung der Hilfspakete für Griechenland nach der Finanzkrise mit ihrer Kontrolle durch Beamte über Entscheidungen des gewählten Parlaments, aber auch die Struktur der Währungsunion insgesamt. Ähnlich wie die Finanzkrise hat auch die „Integrationskrise“ der Jahre 2015 und 2016 das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Parlamenten und Regierungen geschwächt; anders als bei der Finanzkrise allerdings ausschließlich zugunsten autoritär-populistischer Parteien. Zwar war das Krisenmanagement der Regierungen bei allen zurückliegenden Krisen einigermaßen erfolgreich. Trotzdem beschleunigt sich die „demokratische Entfremdung“ vor allem deshalb, weil die Exekutiven die wichtigsten Entscheidungen jeweils im Verbund mit „nichtmajoritären Institutionen“ getroffen haben und Parlamente dies allenfalls nachvollziehen konnten.

Chancen und Gefahren

Der autoritäre Populismus steht für eine „nichtmediatisierte Form der plebiszitären Umsetzung des vermeintlichen Mehrheitswillens“. Inhaltlich geht es um nationalistische Positionen, die sich gegen kosmopolitische Eliten wenden und bei dem die Bedeutung von Grenzen und nationalem Willen gegen eine offene Weltgesellschaft ausgespielt werden. Gegenübergestellt werden vermeintlich korrupte kosmopolitische Eliten und das anständige lokale Volk. „Insofern wendet sich der autoritäre Populismus gegen den Status quo der liberalen Demokratie.“

Mit Blick auf verschiedene empirische Indizes lässt sich ein Sinken der Demokratiequalität feststellen, etwa in Polen und Ungarn, Brasilien und den USA. Die Demokratie befindet sich ein Stück weit in einem Dilemma: Solange gesellschaftliche Transaktionen und Interaktionen innerhalb nationalstaatlicher Rahmen stattfanden, ließ sich das demokratische Prinzip institutionalisieren. Diese Verbindung zwischen Nationalstaat und demokratischem Prinzip löst sich mit der Globalisierung auf.

Demokratisches Handeln im Angesicht der Regression

Im Umgang mit und bei der Suche nach politischen Antworten auf den autoritären Populismus geht es um die schwierige Aufgabe, die betroffenen Bürgerinnen und Bürger nicht als „hoffnungslos verblendet“ abzutun, sondern die demokratische Schieflage ernst zu nehmen. An konkreten Vorgehensweisen bietet sich u.a. an, der „technokratischen Verlockung“ zu widerstehen. In Krisen sind Exekutive und Expertise gefordert; nachfolgend fällen die Parlamente ihre Entscheidungen. Dies darf allerdings kein Dauerzustand werden. Eine Legitimation von Politik-Ergebnissen ist kein Ersatz für ein demokratisches Verfahren. Dies führt auch dazu, nach Wegen für mehr Bürgerbeteiligung zu suchen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Abbauen der „Kontexte der Ungleichheit“. Dabei geht es nicht um einen klaren Katalog wirtschaftspolitischer Maßnahmen, sondern um die Anforderung, gleiche Lebensverhältnisse herzustellen. Das Gleichheitsversprechen der Demokratie erfordert zudem die Gleichstellung unterrepräsentierter Gruppen. Dies wird nicht durch Quoten für alle Gruppen gelingen; möglich erscheint hier die positive Diskriminierung im Rekrutierungsverfahren für politische Ämter: „Männer und vor allem Frauen mit Migrationshintergrund und aus dem Dienstleistungsprekariat sind in der Politik nicht nur unterrepräsentiert, sondern fast gar nicht zu finden.“

Stärker zurückhalten sollten sich zudem die Gerichte: „Gewaltenteilung verlangt auch eine Selbstbeschränkung der Justiz.“ Auf Ebene der EU könnte zudem die Entscheidung über die Zusammensetzung der Kommission nach Mehrheiten im Parlament eine Idee sein. Die politisch handelnden Akteure müssen sich zudem mehr Leidenschaft für ihre Sache zugestehen: „Repräsentation lebt von Begründung und Demokratie von offenem Ideenwettbewerb.“ Darüber hinaus kann es keinen „halbierten Kosmopolitismus“ geben, der die Entscheidungen auf die globale Ebene verlagert und die demokratische Auseinandersetzung im nationalen Raum eindämmt. Wichtig ist zudem die Ausrichtung politischer Bildung auf die Förderung von „Ambiguitätstoleranz“, also auf die Fähigkeit, mit Widersprüchen, Korrekturen und Zielkonflikten umgehen zu können.


buch|votum

Den Autoren ist ein hoch lesenswertes Buch gelungen. Dabei besticht insbesondere der Ansatz, autoritärem Populismus nicht rein moralische Wertungen entgegenzuhalten. Sie bergen die Gefahr, real existierende Defizite demokratischer Handlungsfähigkeit zu verbergen, und scheinen damit ungewollt die Unterstellungen der autoritären Populisten zu bestätigen. Insbesondere die Frage nach der Übertragung von Entscheidungen an „nichtmajoritäre Institutionen“ ist beachtenswert.

Eine interessante Diskussionsgrundlage bietet das vorgeschlagene analytisch-theoretische Paradigma der „demokratischen Regression“. Es lässt sich vor allem als pointierte These für den empirisch nicht völlig belegten Zusammenhang zwischen demokratischen Defiziten und dem Aufkommen eines „autoritären Populismus“ lesen. Schließlich erscheint zumindest ein Teil von dessen Anhängerschaft materiell durchaus von der Globalisierung zu profitieren und dies auch zu wissen.

Die Tendenz zu „nichtmajoritären“ Expertenkommissionen könnte zudem gut konform gehen mit dem Kernmerkmal des autoritären Populismus: der festgestellten Maxime, dass die richtige politische Entscheidung einfach erkennbar sei und nicht Teil politischer Debatten sein sollte.

So lässt sich die Grundthese der Autoren vielleicht besser als Plädoyer dafür fassen, dass eine auf Diskussionen, Kontroverse und Kompromiss ausgerichtete Demokratie nur bestehen kann, wenn sie ihre eigenen Defizite zu lösen versucht – und so mit der Stärkung der Demokratie den autoritären Populisten gesellschaftlichen Resonanzraum entzieht.

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