Bruno S. Frey & Oliver Zimmer: Mehr Demokratie wagen

Für eine Teilhabe aller. Berlin: Aufbau Verlage (2023)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Hans Gero Maaß
Gero Maaß ist freiberuflicher Berater und und war bis 2020 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u.a. als Leiter der Internationalen Politikanalyse sowie der Büros in Frankreich, Großbritannien, Spanien sowie für die nordischen Länder.


buch|essenz

Kernaussagen

Die repräsentativen Demokratien in Europa funktionieren deshalb nicht mehr, weil sie keine echte Teilhabe gewähren, sondern moderne Aristokratien geworden sind, in denen der größte Teil der Menschen von der politischen Macht ausgeschlossen ist. Entscheidend für die Teilhabe an politischen Entscheidungen sollten in Demokratien aber nicht der ökonomisch-finanzielle Besitz, das soziale Prestige oder das kulturelle Kapital sein. Vielmehr bedarf es direktdemokratischer Verfahren, Dezentralisierung und einen stärkeren Ortsbezug, um das Zugehörigkeitsgefühl der Bürger_innen zu stärken.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

„Wir wollen mehr Demokratie wagen“, forderte Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969. „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an“, gab er seiner sozial-liberalen Regierung damals mit auf den Weg. Demokratie ist kein einmal erworbener Zustand. Sie muss immer wieder neu erkämpft und zeitgemäß ausgestaltet werden. Im Sinne dieser Grundeinsicht liefert das Buch wertvolle Anregungen für weiterführende Diskussionen und für die Entwicklung von Lösungsvorschlägen.


buch|autoren

Bruno S. Frey ist Politischer Ökonom und Research Director des Schweizer Center for Research in Economics, Management and the Arts in Zürich. Er war Professor an den Universitäten Konstanz, Zürich, Chicago und Warwick und ist ständiger Gastprofessor an der Universität Basel. Er wurde mit fünf Ehrendoktoraten ausgezeichnet und gilt als einer der Pioniere der Ökonomischen Theorie der Politik und Kultur.

 

 

Oliver Zimmer war von 2005 bis 2021 Professor für Moderne Europäische Geschichte an der Universität Oxford und Sanderson Fellow am dortigen University College. Seit 2022 ist er Forschungsdirektor am Center for Research in Economics, Management and the Arts in Zürich.


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buch|inhalt

Im ersten Teil des Buchs mit dem Titel „Grundwidersprüche der Demokratie“ legt Oliver Zimmer eine historische und systematische Analyse der repräsentativen Demokratie vor. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die politische Teilhabe der großen Mehrheit der Bevölkerung sich darauf beschränkt, ihr Wahlrecht auszuüben und mehr oder weniger stark am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Diese Art der Demokratie bietet für einen Großteil der Bevölkerung keine allzu großen Möglichkeiten zur politischen Teilhabe, was in gewissem Widerspruch zur Grundidee der Demokratie als der Herrschaft des Volkes steht. Ein weiteres Problem derzeitiger repräsentativer Demokratien ist die Erodierung durch extremistische Gruppierungen, die ihr Gedankengut in den letzten Jahren verstärkt auch im gesellschaftlichen Mainstream verankern konnten und so zu einer Gefahr für die Demokratie geworden sind.

Ein Blick in die Demokratiegeschichte

Ein Blick in die Demokratiegeschichte zeigt zudem, dass diese seit jeher vom Leitbild der Epistokratie, also der Herrschaft der Wissenden, geprägt war. Frankreich war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das politische Demokratielaboratorium Europas. Doch wie sich gezeigt hat, konnten sich weder die Ständeordnung noch das demokratische Ideal der Souveränität des Volkes durchsetzen, sondern das gesellschaftliche und politische Leben wird von einer Elite mit Besitz und Bildung bestimmt. Echte Herrscherin war also nie das Volk, sondern die Vernunft. Die Demokratie war und ist ein repräsentatives Regieren, in dem das gemeine Volk in einem durch Bildung beförderten Reifungsprozess durch die Wissenden begleitet wird. Es sind also patriarchalische Rechtfertigungsmuster, die in der repräsentativen Demokratie zum Einsatz kommen. Zudem ist zu konstatieren, dass die Demokratie bis heute primär durch Exklusion geprägt ist, nämlich nach dem Kriterium der Nationalität. Nur Staatsbürger_innen haben politische Teilhabe.

Die prägende Rolle von Besitz und Bildung

Die prägende Rolle von Besitz und Bildung zeigt sich auch in der Zusammensetzung der Parlamente. So haben 88 Prozent der Abgeordneten im aktuellen Bundestag ein abgeschlossenes Hochschulstudium; Nichtakademiker stellen also nur eine kleine Minderheit. Dieses Verhältnis ist exakt spiegelverkehrt zu dem in der Gesellschaft, wo weniger als 20 Prozent der erwachsenen Deutschen ein Universitätsstudium beendet haben. Auch mit Blick auf andere Aspekte bestehen ähnliche Asymmetrien. So haben 26,7 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik einen Migrationshintergrund. Im neuen Bundestag gilt dies nur für gut 11 Prozent. Dem Versprechen der Inklusion aller werden die modernen Volksvertretungen also oft nicht gerecht. Vielmehr erinnert die Qualität mancher Demokratien in Nationalstaaten und vor allem in internationalen Or-ganisationen wie der EU an einen aufgeklärten Absolutismus.

Um nicht bloß dem Buchstaben, sondern auch dem Geiste nach eine echte Herrschaft des Volkes zu sein, müssen Demokratien stärker mit partizipativen Elementen angereichert werden, vor allem durch Dezentralisierung und direktdemokratische Verfahren wie Referenden. Diese Forderung nach einer stärkeren Kontrolle von Parlament und Regierung durch die Bürger_innen gründet sich in drei Beobachtungen: Erstens ist die politische Entscheidungsfindung heute zu stark in den Händen von Berufspolitiker_innen, zweitens hat sich der Ort der Demokratie zu weit von den konkreten Lebenswelten der Bürger_innen entfernt, und drittens trägt die Demokratie nicht mehr in ausreichender Weise zum Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühl der Bürger_innen bei.

Drei Vorschläge zur Verbesserung

Im zweiten Teil des Buchs mit dem Titel „Die Demokratie der Zukunft“ präsentiert Bruno Frey drei Vorschläge zur Verbesserung der gegenwärtigen Entscheidungsprozesse und -strukturen, die über die bekannten direktdemokratischen Verfahren hinausgehen.

Der erste Vorschlag

Der erste Vorschlag besteht in der Einführung problemorientierter politischer Einheiten, sog. „Functional Overlapping Competing Jurisdictions“. Hierbei handelt es sich um neue föderale Einheiten sowie um neue funktionale, wirtschaftliche und politische Körperschaften, die durch juristisch-politische Kompetenzen und eine gewisse Steuerhoheit gekennzeichnet sind. Dieses „neue europäische Föderalismusmodell“ wurde von Bruno Frey und Reiner Eichenberger bereits im Jahr 1997 entwickelt. Die propagiertenneuen, problemorientierten politischen Einheiten sind nach diesem Konzept nicht deckungsgleich mit den historisch entstandenen Grenzen von Nationen, Bundesländern, Gemeinden oder anderen Körperschaften. Vielmehr werden sie von den Bürger_innen grenzüberschreitend als aufgabenorientierte Gebietseinheiten ins Leben gerufen. Als Beispiel dient die Dreiländerregion rund um den Bodensee. Zwei Aspekte sind hierbei besonders wichtig: Die neuen lokal-regionalen Einheiten müssen die Bürger_innen für die von ihnen wahrgenommenen Aufgaben direkt besteuern können, um nicht länger von den finanziellen Mitteln und Vorgaben von Zentralverwaltungen abhängig zu sein und lokal sinnvolle Entscheidungen treffen zu können. Der zweite entscheidende Aspekt ist die Wahl von Lokalpolitiker_innen durch Bürger_innen ihres Zuständigkeitsbereiches. Diese örtliche Nähe zu den relevanten Fragen und Herausforderungen schafft genau jenes Gefühl von Zugehörigkeit, das aktuell oft fehlt, aber eine essenzielle Vo-raussetzung für demokratisches Engagement ist.

Der zweite Vorschlag

Der zweite Vorschlag geht in Richtung der Einführung eines modifizierten Abstimmungssystems, das auch als „flexible Entscheidungsregel“ (FER) bezeichnet wird. Diese Änderung ist deshalb erforderlich, weil auch bekannte direktdemokratische Verfahren keine vollumfängliche Mitsprache ermöglichen. Denn wenn Entscheidungen durch einfache Mehrheiten erfolgen, werden die Anliegen der Überstimmten vernachlässigt. Flexible Entscheidungsregeln sollen genau diesen Nachteil von Mehrheitsregierungen überwinden. Sie funktionieren wie folgt: Die Wählerschaft stimmt über einen Vorschlag ab. Die unterlegene Meinung wird nun nicht, wie bisher, vollständig ausgeschlossen, sondern in dem Maße ihres Teilerfolges mit in die zukünftige Lösung integriert. Wenn bei einer Abstimmung zur Senkung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre das Ergebnis beispielsweise so lautet, dass 65 Prozent dagegen und 35 Prozent dafür sind, würde den Jugendlichen bisher jegliches Stimmrecht verweigert. Mit der neuen Regelung könnte hingegen vereinbart werden, dass Jugendliche unter 18 Jahre zwar kein volles Stimmrecht erhalten, aber immerhin 35 Prozent des Gewichts einer vollen Stimme.

Der dritte Vorschlag

Der dritte Verbesserungsvorschlag zielt auf die Einführung von mehr oder weniger qualifizierten und fokussierten Zufallsverfahren. Dies erlaubt die konkrete Garantie von Chancengleichheit, Fairness und einer präzisen Repräsentation. Beispielsweise könnten Parlamentsmitglieder teilweise per Los aus der Gesamtbevölkerung gewählt werden, aber auch Volksreferenden könnten per Los entschieden werden, deren Gewichtung auf Abstimmungsergebnissen beruht. Da solche Zufallsentscheidungen von vielen Menschen als irrational und illegitim angesehen werden, sollte man sie jedoch nicht beliebig einsetzen, sondern nur dort, wo die Bevölkerung dem Verfahren zustimmt und wo eine sorgfältige Abwägung der Gründe pro und contra vorgenommen wurde. Trotz der Skepsis vieler sollte man sich jedoch nicht den zentralen Vorteil von Zufallsverfahren entgehen lassen: Denn diese stellen sicher, was in aktuellen demokratischen Systemen mit viel Aufwand betrieben wird, aber selbst dann nicht verlässlich gelingt, nämlich dass wirklich alle Personengruppen gleichmäßig repräsentiert werden. Durch den Einsatz von Zufallsverfahren würde dieses Problem gelöst und zudem die gesellschaftliche Dynamik, die notwendige Beteiligung und die nötige Vielfalt von Ideen gewährleistet.


buch|votum

Schon 1947 urteilte der britische Staatsmann Winston Churchill, die Demokratie sei die schlechteste aller Staatsformen – ausgenommen alle anderen. Im Geiste dieses Zitats ist das Buch ein gelungenes Beispiel dafür, dass Systemskepsis nichts Negatives sein muss. Die Demokratie lebt von Kritik und von konstruktiven, manchmal auch unkonventionellen Vorschlägen. Dem Buch gelingt es, den Bogen von der Geschichte der Demokratie zu Ideen für ihre Zukunft zu schlagen. Für viele Probleme unserer Zeit gibt es bereits Lösungen – wir müssen nur den Mut aufbringen, sie ins Werk zu setzen. Dass die im Buch genannten Vorschläge tatsächlich funktionieren können, zeigt ein aktuelles Beispiel: Künftig sollen per Los ausgewählte Bürger_innen die deutsche Bundesregierung in einem Rat zum Thema Ernährung beraten.

Von Zeit zu Zeit formulieren die Autoren ihre Lösungsvorschläge, die von den direkten Demokratieerfahrungen des Alpenlandes inspiriert sind, allerdings etwas zu wagemutig. So zeigt ein Blick in die Analysen des Demokratieforschers Wolfgang Merkel, dass aus demokratischer Sicht auch Volksentscheide ihre Tücken haben können. Beispielsweise bestehen Volksabstimmungen den demokratischen Legitimationstest nur dann, wenn eine hohe Beteiligungsrate bei zugleich niedriger sozialer Selektionsrate vorliegt. Mancher im Buch genannte Vorschlag dürfte darüber hinaus auch verfassungsrechtliche Bedenken wecken. Auch die Idee neuer grenzüberschreitender föderaler Verwaltungs- und Lebenseinheiten scheint noch weit fernab der aktuellen politischen Handlungsmöglichkeiten.

Die beiden zentralen Forderungen bleiben indes richtig: Wir brauchen mehr Feedback und mehr dezentrale Mitbestimmungsmechanismen. Oder in den Worten des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt: „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.“

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Verlag: Aufbau
Erschienen: 16.01.2023
Seiten: 157
EAN: 978-3-351-04175-5

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