Kernaussagen
Die repräsentativen Demokratien in Europa funktionieren deshalb nicht mehr, weil sie keine echte Teilhabe gewähren, sondern moderne Aristokratien geworden sind, in denen der größte Teil der Menschen von der politischen Macht ausgeschlossen ist. Entscheidend für die Teilhabe an politischen Entscheidungen sollten in Demokratien aber nicht der ökonomisch-finanzielle Besitz, das soziale Prestige oder das kulturelle Kapital sein. Vielmehr bedarf es direktdemokratischer Verfahren, Dezentralisierung und einen stärkeren Ortsbezug, um das Zugehörigkeitsgefühl der Bürger_innen zu stärken.
Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie
„Wir wollen mehr Demokratie wagen“, forderte Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969. „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an“, gab er seiner sozial-liberalen Regierung damals mit auf den Weg. Demokratie ist kein einmal erworbener Zustand. Sie muss immer wieder neu erkämpft und zeitgemäß ausgestaltet werden. Im Sinne dieser Grundeinsicht liefert das Buch wertvolle Anregungen für weiterführende Diskussionen und für die Entwicklung von Lösungsvorschlägen.
Im ersten Teil des Buchs mit dem Titel „Grundwidersprüche der Demokratie“ legt Oliver Zimmer eine historische und systematische Analyse der repräsentativen Demokratie vor. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die politische Teilhabe der großen Mehrheit der Bevölkerung sich darauf beschränkt, ihr Wahlrecht auszuüben und mehr oder weniger stark am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Diese Art der Demokratie bietet für einen Großteil der Bevölkerung keine allzu großen Möglichkeiten zur politischen Teilhabe, was in gewissem Widerspruch zur Grundidee der Demokratie als der Herrschaft des Volkes steht. Ein weiteres Problem derzeitiger repräsentativer Demokratien ist die Erodierung durch extremistische Gruppierungen, die ihr Gedankengut in den letzten Jahren verstärkt auch im gesellschaftlichen Mainstream verankern konnten und so zu einer Gefahr für die Demokratie geworden sind.
Schon 1947 urteilte der britische Staatsmann Winston Churchill, die Demokratie sei die schlechteste aller Staatsformen – ausgenommen alle anderen. Im Geiste dieses Zitats ist das Buch ein gelungenes Beispiel dafür, dass Systemskepsis nichts Negatives sein muss. Die Demokratie lebt von Kritik und von konstruktiven, manchmal auch unkonventionellen Vorschlägen. Dem Buch gelingt es, den Bogen von der Geschichte der Demokratie zu Ideen für ihre Zukunft zu schlagen. Für viele Probleme unserer Zeit gibt es bereits Lösungen – wir müssen nur den Mut aufbringen, sie ins Werk zu setzen. Dass die im Buch genannten Vorschläge tatsächlich funktionieren können, zeigt ein aktuelles Beispiel: Künftig sollen per Los ausgewählte Bürger_innen die deutsche Bundesregierung in einem Rat zum Thema Ernährung beraten.
Von Zeit zu Zeit formulieren die Autoren ihre Lösungsvorschläge, die von den direkten Demokratieerfahrungen des Alpenlandes inspiriert sind, allerdings etwas zu wagemutig. So zeigt ein Blick in die Analysen des Demokratieforschers Wolfgang Merkel, dass aus demokratischer Sicht auch Volksentscheide ihre Tücken haben können. Beispielsweise bestehen Volksabstimmungen den demokratischen Legitimationstest nur dann, wenn eine hohe Beteiligungsrate bei zugleich niedriger sozialer Selektionsrate vorliegt. Mancher im Buch genannte Vorschlag dürfte darüber hinaus auch verfassungsrechtliche Bedenken wecken. Auch die Idee neuer grenzüberschreitender föderaler Verwaltungs- und Lebenseinheiten scheint noch weit fernab der aktuellen politischen Handlungsmöglichkeiten.
Die beiden zentralen Forderungen bleiben indes richtig: Wir brauchen mehr Feedback und mehr dezentrale Mitbestimmungsmechanismen. Oder in den Worten des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt: „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.“
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