Akademie für Soziale Demokratie

Ami Ajalon mit Anthony David (2021): Im eigenen Feuer. Wie Israel sich selbst zum Feind wurde und die jüdische Demokratie trotzdem gelingen kann. Erinnerungen eines Geheimdienstchefs. Bonn: J.H.W. Dietz Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet vonThilo Scholle
Thilo Scholle ist Jurist und arbeitet als Referent in der Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft des Bundesministerium für Arbeit und Soziales.


buch|essenz

Kernaussagen

Der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern befindet sich seit Jahren in einem Stillstand. Zu beachten ist dabei nicht nur das völlig zerrüttete Verhältnis zwischen den israelischen und palästinensischen öffentlichen Akteuren und Institutionen. Zu beachten ist auch die tiefe Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft selbst und die unzureichende Auseinandersetzung damit, auf welchen identitären und politischen Grundlagen ein demokratisches politisches Gemeinwesen in Israel aufbauen müsste.

Entscheidend ist dabei, die Ambivalenzen der Siedlungsgeschichte einschließlich der gleichzeitigen Verdrängung der Palästinenser seit der Staatsgründung zu verstehen. Die Frage, ob es auf der anderen Seite Partner für den Frieden gibt, hängt zudem maßgeblich auch mit dem jeweils eigenen Handeln zusammen. Ein Frieden auf Basis einer durch die israelische und palästinensische Gesellschaft getragenen Einigung erscheint weiterhin möglich.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Solidarität mit dem Staat Israel gehört zu den unverrückbaren Grundlagen einer Politik der Sozialen Demokratie. Mit dem Ziel einer friedlichen Einigung über eine Zweistaatenlösung zwischen Israel und Palästina ist die politische Forderung zur Lösung und Beendigung der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern zudem seit langem unverändert. Zugleich sind Debatten und Einordnungen des Konflikts aus der deutschen Distanz schwierig und teils nicht frei von simplifizierenden Parteinahmen – jeweils zugunsten einer der beiden Seiten.

 Umso wichtiger ist es, progressive Stimmen aus den betroffenen Ländern selbst zu hören und in die eigene Positionierung einzubeziehen. Ami Ajalons Erinnerungen leisten einen spannenden Beitrag zur Analyse und Debatte. Als ehemaliger Militär und als ehemaliger Geheimdienstchef mit Blick auf Grundfragen der israelischen nationalen Sicherheit nicht naiv, zeigt er auf, wie ein auf Ausgleich und gegenseitigem Respekt basierender Friedensprozess möglich sein könnte.


buch|autoren

Ami Ajalon wurde am 27. Juni 1945 in Tiberias im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina geboren und wuchs in einem Kibbuz auf. Nach seiner Meldung zum Militär im Jahr 1963 gehörte er über dreißig Jahre der Eliteeinheit Schajetet 13 an, war Oberbefehlshaber der Marine und von 1996 bis zum Jahr 2000 Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Gemeinsam mit dem palästinensischen Professor und Aktivisten Sari Nusseibeh rief er im Jahr 2003 die Friedenskampagne „Peoples Voice“ ins Leben. Ab 2006 war er Mitglied der israelischen Knesset und für kurze Zeit Minister.

Der Co-Autor Anthony David ist Historiker und lehrt kreatives Schreiben am Campus der University of New England in Tanger, Marokko.


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Das Buch gliedert sich in einen Prolog sowie 27 Kapitel. Die Darstellung folgt dabei nicht der Lebenschronologie des Autors, sondern springt zwischen aktuellen Einordnungen, Erinnerungen an prägende persönliche Erlebnisse sowie der Schilderung von Begegnungen mit Persönlichkeiten, die der Autor im Zuge der Arbeit am vorliegenden Band traf. Vorangestellt sind dem Band ein Geleitwort des Dirigenten und Friedensaktivisten Daniel Barenboim sowie ein Vorwort des amerikanischen Diplomaten und zeitweiligen Nahost-Friedensunterhändlers Dennis Ross.

Barenboim schreibt, Ajalons Buch habe ihn nicht nur überrascht, sondern tief bewegt. Die Memoiren würden zeigen, dass es für Menschen doch möglich sei, sich selbst, seine Meinungen und Handlungsweisen zu ändern und das Gegenüber nicht nur zu erkennen, sondern auch Empathie für den vermeintlichen Feind zu entwickeln: „In dieser Wandlungsfähigkeit liegt, meiner Meinung nach, der Schlüssel zur Lösung des Konflikts. (…) Die Israelis werden dann Sicherheit haben, wenn die Palästinenser Hoffnung spüren können, also Gerechtigkeit. Beide Seiten müssen ihre Feinde als Menschen erkennen und versuchen, ihre Sichtweise, ihren Schmerz und ihre Not nachzuempfinden.“ Dennis Ross stellt als eine wichtige persönliche Eigenschaft Ajalons heraus, dass dieser immer alle Standpunkte habe hören wollen, auch solche, die seine eigenen Anschauungen anfochten.

Erinnerungen und Einordnungen

Im Oktober 2000 gab Ajalon einem Fernsehsender ein Interview. Das war kurz nach Beginn der zweiten Intifada in den palästinensischen Gebieten und vor dem Hintergrund von Selbstmordanschlägen, die palästinensische Attentäter in Israel verübten. In dem Interview sagte Ajalon: Wenn der Terror gestoppt werden solle, müssten Israelis aufhören, die Palästinenser als Erbfeinde zu behandeln. Diese Menschen strebten nationale Rechte an, wie die Israelis sie hätten, und sie verdienten sie auch.

In der Zeit bei der Schajatet 13 waren militante Palästinenser einfach Zielpersonen, die es auszuschalten galt. „Den Kern meines Ethos als Kämpfer bildete die unerschütterliche Treue zu Fakten, wie ich sie sah: Meine Männer und ich mussten den Feind töten, da die Araber unsere Ansprüche freiwillig niemals akzeptieren würden. Für unser Überleben und zur Verteidigung unserer Anrechte als Juden auf das Land Israel zu töten, wäre wohl unser Schicksal bis ans Ende der Zeiten.“

Als Geheimdienstchef galt es nun aber, über den bislang üblichen „Wir-gegen-die“-Tellerrand hinauszublicken, um den Grundursachen des Terrors zu begegnen. „Ich musste mich mit Geschichten von Palästinensern auseinandersetzen – mit ihrer Psychologie, ihren Gefühlen von Demütigung und Wut. Zu lernen, Palästinenser als Menschen mit Rechten zu sehen, machte mich auf eine grundlegende Schwachstelle in unserem Sicherheitskonzept aufmerksam: Unsere mangelnde Empathie unterminierte unsere Fähigkeit, Gefahren und Chancen richtig einzuschätzen. Angst trieb uns zu Überreaktionen.“

Der Einsatz terroristischer Mittel durch die Hamas zielte gerade darauf, israelische Reaktionen zu provozieren. Jedes bei einer israelischen Militäraktion getötete palästinensische Kind, jede weinende Mutter zahlte vor diesem Hintergrund auf das Konto derjenigen ein, die keinen Frieden wollten. Die regierungsoffizielle israelische Reaktion, es gebe keinen Partner für den Frieden, bietet dazu die ideale Ergänzung.

 Dieser „Wir-gegen-die“-Ansatz bildete „die tödlichste Bedrohung für Israels Sicherheit und für unseren Bestand als demokratischer jüdischer Staat: Er ließ den Palästinensern nichts übrig, das sie noch hätten verlieren können. Unsere dringlichste Sicherheitsfrage war deshalb keine militärische mehr. Sie lautete, wie sich die Hoffnung unter den Palästinensern am besten stärken ließ. (…) Erst wenn die Palästinenser daran glaubten, dass der Friedensprozess zu einem Ende von Besatzung und Diskriminierung sowie zur Gründung eines eigenen Staates an Israels Seite führen würde, stellten sie die Unterstützung für den Terror ein“.

Es macht keinen Sinn, die Drahtzieher des Terrors zu töten, ohne etwas gegen die Verzweiflung ihrer Unterstützer zu tun. Dies schafft nur mehr Verzweiflung und weiteren Terror. Demokratien können den Kampf gegen den Terror nur gewinnen, wenn sie dabei die Werte der Humanität befolgen.

Der Anspruch zu verstehen, worum es politischen Gegnern geht, muss auch innerhalb der israelischen Gesellschaft gelten. Dabei sollte es gerade für die säkular-zionistisch orientierte Bevölkerung auch darum gehen, uneingestandene Übereinstimmungen in politischen Grundmustern zumindest analytisch zu akzeptieren: „Auch wenn die Wahrheit deutlich komplexer ist, sind Kibbuzniks und Siedler gleichermaßen überzeugt davon, dass Juden ein Anrecht auf das Land Israel haben. Die Leute vergessen, dass die säkulare Kibbuzbewegung, unterstützt von der Arbeitspartei, nach 1967 die ersten Siedlungen angelegt hat. Und diese Bemühungen habe viele Jahre auch ich mit ganzem Herzen unterstützt.“

Die Regierung der Arbeitspartei schuf in den 1970er-Jahren stillschweigend Raum für Siedlungen in der Westbank und verstieß damit direkt gegen internationales Recht, das Besatzungsmächten Bautätigkeit auf erobertem Gebiet untersagt. Der strategische Hintergrund dieser Politik war vor allem die Idee, dass eine große Zahl an Siedlungen die Wahrscheinlichkeit deutlich verringern werde, dass ein zukünftiger amerikanischer Präsident den Staat Israel zwingen würde, besetztes Land wieder zurückzugeben. Sozialistische Kibbuzniks und religiöse Siedler waren gleichermaßen dazu erzogen worden, Land zu besiedeln und zu verteidigen, von dem sie meinten, es sei historisch gesehen ihr rechtmäßiges Eigentum.

Für die Entwicklung eines umfassenden Blicks auf die israelische Gesellschaft ist darüber hinaus die Auseinandersetzung auch mit extremen Positionen relevant, etwa mit der in radikalen Siedlerkreisen formulierten Position, eine Abstufung zwischen Juden und Menschen anderer Herkunft vorzunehmen und beispielsweise das Tötungsverbot nur zwischen Juden gelten zu lassen.

„Zum ersten Mal hörte ich jemandem zu, der Zustände rechtfertigte, die nur als Apartheid bezeichnet werden können: zwei unterschiedliche Systeme aus Gesetzen, Regeln und Standards sowie getrennte Infrastrukturen. Wenn die Araber sich anständig benahmen und unsere Herrschaft akzeptierten, würden sie von uns Zugang zu Wasser und etwas Elektrizität erhalten. Dass wir sie noch nicht über die jordanische Grenze getrieben hätten, sah er als ein Zeichen unserer Güte an.“

Mit Blick auf die palästinensische Seite geht es nicht nur um die Beseitigung von Armut und um wirtschaftliche Entwicklung. Demütigungen durch Besatzungssoldaten spielen eine ebenfalls wichtige Rolle. „Im Kibbuz war ich dazu erzogen worden, den Unterdrücker zu hassen und die menschliche Würde und Freiheit über alles zu schätzen.“ Im Alltag als Soldat zu erleben, von anderen Menschen genau als ein solcher Unterdrücker empfunden zu werden, sei eine einschneidende Erfahrung.

Der weitere Siedlungsbau im Westjordanland verhindert den Weg zur Zweistaatenlösung: „Mir wurde allmählich klar, dass der Bau von immer mehr Umgehungsstraßen, militärischen Außenposten und Siedlungen am Ende jede Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung zerstören würde. Wenn wir diese Bautätigkeit fortsetzten, würden die Palästinenser bald zum Schluss gelangen, dass wir gar nicht die Absicht hätten, die Besatzung zu beenden und einen Palästinenserstaat an der Seite Israels zu ermöglichen.“

Ernsthafte Bemühungen in diese Richtung machten aber weder die Regierungen von Ehud Barak noch von Benyamin Netanjahu – im Gegenteil. Letztlich fand die israelische Politik nie eine Balance zwischen dem Aufspüren von Sicherheitsrisiken und dem Ausloten von Chancen für Frieden. „Partnerschaften entstehen aus einem Prozess des Aufbaus gegenseitigen Vertrauens. (…) Die Linie vom fehlenden Partner sollte sich als der katastrophalste Propagandatrick in Israels politischer Geschichte erweisen.“

Die zeitweilige Unterstützung der Hamas durch die israelische Regierung war ein Fehler. Zudem hatten kluge und maßvolle Aktionen des Shin Bet zwischen 1996 und 2000 den militärischen Apparat der Hamas fast aufgerollt, während spätere vor allem auf Vergeltung zielende israelische Angriffe auf palästinensische Akteure das Gegenteil erreicht hätten. „Die Hamas hatte die gesamte israelische Gesellschaft, beginnend mit ihren demokratisch gewählten Politikern, zu Aktionen verleitet, die sich eine freie Gesellschaft niemals erlauben dürfte. Was als unser legitimer Kampf gegen Terrororganisationen begonnen hatte, war zu einem Krieg gegen das palästinensische Volk verkommen.“

Eine Friedenslösung sollte die jeweiligen religiösen Dogmen und die jeweiligen geschichtlich hergeleiteten Begründungsmuster ausklammern – eine Einigung, ob und, wenn ja, wem ein absolutes historisch begründetes Recht auf das Land zukommt, lässt sich für beide Seiten schon aus rein emotionalen Gründen kaum klären. Eine Lösung des Konflikts um die Grenzen zwischen einem Staat Israel und einem palästinensischen Staat auf Basis von jeweils historisch hergeleiteten Rechten kann nicht funktionieren.

Eine Grundlage können hier nur völkerrechtliche Prämissen bilden: „Frieden war wichtiger als absolute historische Gerechtigkeit.“ Die Initiative von „Peoples Voice“ sieht unter anderem vor, zwei Staaten für zwei Nationen basierend auf den Grenzen des 4. Juni 1967 zu schaffen, gegebenenfalls ergänzt um einen selektiven Gebietsaustausch Hektar für Hektar. Die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge sollte überwiegend in den neuen, entmilitarisierten palästinensischen Staat erfolgen, die israelischen Siedlungen dort evakuiert werden. Israel sollte das Leid der Vertreibung anerkennen und sich an einem internationalen Fonds beteiligen. Jerusalem sollte geteilte Hauptstadt beider Staaten werden, die im Anschluss an einen Friedensschluss auf jegliche weitere gegenseitige Forderungen verzichten würden.

Entscheidende Voraussetzung für einen Friedensprozess ist ein Prozess der Selbstvergewisserung der israelischen Gesellschaft selbst: „Es sollte Jahre dauern, bis ich mich endlich vom Gift des Glaubens daran trennte, dass wir mit den Palästinensern Frieden schließen könnten, ohne uns die Frage zu stellen, ob wir Juden als Einzige historische Rechte auf das Land Israel hatten.“ Der Blick auf die palästinensische Seite des Konflikts muss zunächst zurücktreten: „Unser Problem sind nicht wirklich die Palästinenser. Es besteht zwischen uns israelischen Juden. Wir haben noch nicht entschieden, welche Art Nation wir im Land Israel sein wollen.“


buch|votum

Der Autor ist von sich und insbesondere seiner militärischen und geheimdienstlichen Laufbahn überzeugt und lässt dies in den Schilderungen auch erkennen. Zugleich ist dieser enge persönliche Bezug die große Stärke des Bandes.

Ajalon taucht in seine eigene Lebensgeschichte ein und kann die Entwicklung der eigenen Einschätzung in der Rückschau auch selbstkritisch reflektieren. Damit gelingt Ami Ajalon eine sehr beachtenswerte und eindrückliche Darstellung unterschiedlicher Perspektiven auf die Entwicklung und mögliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts.

Zentral sind dabei zwei Prämissen: Nur über den stetigen Einsatz militärischer Mittel wird sich der Konflikt nicht dauerhaft lösen lassen. Und ohne eine Selbstreflektion der israelischen Gesellschaft in einem Dialog zwischen den säkularen und religiösen Gruppen kann auf israelischer Seite keine dauerhafte Grundlage für eine Friedenslösung geschaffen werden.

In Zeiten, in denen der Friedensprozess zwischen Israel und der palästinensischen Seite zu einem absoluten Stillstand gekommen zu sein scheint, bieten die Erinnerungen von Ami Ajalon einen pointierten und sehr lesenswerten Text, der nicht nur Einsichten zu den Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte bietet, sondern auch Anknüpfungspunkte und Voraussetzungen für mögliche Lösungen aufzeigt.

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Verlag: J.H.W. Dietz
Erschienen: November 2021
Seiten: 360
ISBN: 978-3-8012-0619-2

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