Akademie für Soziale Demokratie

Alexander Bogner (2021): Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Stuttgart: Reclam

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Kurzgefasst und eingeordnet von Clara Kaepernick 
Clara Kaepernick ist Wissenschaftsphilosophin und Verhaltensökonomin. Derzeit arbeitet Sie bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Wissenschaftsmanagement und begleitet die Interdisziplinäre Kommission für Pandemieforschung.


buch|essenz

Kernaussagen

Alexander Bogner kritisiert in seinem Buch Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, gegenwärtige Krisen der Demokratie allein als Problem mangelnder Expertise anzusehen. Er warnt vielmehr davor, politische Streitfragen als Wissenskonflikte zu begreifen, infolgedessen es bei politischen Auseinandersetzungen nur um das bessere Wissen zu gehen scheint. In der Öffentlichkeit beschränkt sich die Diskussion auf die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit von wissenschaftlicher Expertise, anstatt über normative Aspekte, wie die Angst oder Wertstandpunkte einzelner Bürger_innen, zu diskutieren. Normative Aspekte geraten in den Hintergrund. Gleichzeitig erscheinen politische Entscheidungen abhängig von wissenschaftlicher Expertise getroffen und entschieden zu werden, was als eine Politik der Alternativlosigkeit wahrgenommen wird. Unter Epistemisierung des Politischen versteht Bogner folglich den zunehmenden Einfluss von (Experten-)Wissen auf die Politik und auf politische Auseinandersetzungen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Epistemisierung des Politischen hat insbesondere drei demokratiepolitische Folgen, die die soziale Demokratie gefährden und alternative Fakten hervorrufen:

  • Aus der Epistemisierung der Demokratie folgt, dass „dumme“ Menschen von der politischen Partizipation ausgeschlossen werden müssten. Der typische Charakter der Demokratie würde verloren gehen.
  • Die Epistemisierung der Gesellschaftskritik mündet in der Forderung nach gleichberechtigten nebeneinander bestehenden Weltanschauungen. Das bloße Nebeneinanderstehen führt jedoch zu keiner konstruktiven politischen Auseinandersetzung.
  • Durch die Epistemisierung politischer Streitfragen entsteht die Vorstellung, dass verantwortungsvolle Politik nur auf Grundlage von Expertenwissen gelingen kann. Zugespitzt folgt daraus, dass als legitimer Widerspruch „nur noch“ alternative Fakten gelten.

Verlag: Reclam
Erschienen: 2021
Seiten: 132
ISBN: 978-3-15-961833-3


buch|autor

Prof. Dr. Alexander Bogner, geboren 1969 in München, ist Privatdozent für Soziologe in Wien und seit 2019 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie.

Er untersuchte in seiner Habilitation, was es für Öffentlichkeitsbeteiligung, Politikberatung und politische Legitimation bedeutet, wenn über Forschung und Technik entlang ethischer Kategorien diskutiert wird.


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buch|inhalt

Einleitung: Triumph des Wissens

(Experten-)Wissen ist zur zentralen Ressource spätmoderner Gesellschaften geworden. Wissen und Expertise rücken in den Vordergrund und Evidenz spielt eine zentrale Rolle. Bogner beschreibt, dass „in der Politik wissenschaftliche Expertise als zentrale Legitimationsressource geschätzt wird, und entsprechend (Experten-)Wissen die höchste Entscheidungsinstanz in vielen politischen Kontroversen geworden ist“. Das Vertrauen in Wissen birgt jedoch auch Gefahren und Risiken. Expertenwissen ist nicht zwangsläufig eindeutig und wird wiederum auf Grundlage von anderem Expertenwissen und Wahrheitsverleugnungen entkräftet. Impfgegner, Corona- und Klimawandelleugner zeigen, dass, vor allem wenn es um die „richtige“ Politik geht, eine antiautoritäre Haltung gegen die Wissenschaft entstanden ist.

Das Vertrauen in die Macht des Wissens kann demokratiepolitische Folgen haben. Politische Krisen und Konflikte werden als epistemische Probleme verstanden, bei denen es einzig um die Frage von Wissen und Expertise geht. Bogner bezeichnet dies als Epistemokratie. Es wird davon ausgegangen, dass politische Probleme erst lösbar sind, wenn sie als Wissensprobleme formuliert werden. Gleichzeitig verliert man die normativen Aspekte des Problems aus den Augen, obwohl politische Probleme erst durch divergierende Werte und Weltbilder entstehen.

Klima, Corona & Co.: Streit ums bessere Wissen

Politische Streitfragen werden durch die Komplexität des Problems und die Abwägung von Risiken und Nebenfolgen vermehrt zu Wissenskonflikten. Es wird angenommen, dass Konflikte sich durch wissenschaftliche Expertise auflösen lassen. Gleichzeitig verspricht „die Rahmung von Konflikten als Wissenskonflikte […] eine Rationalisierung des Streits“. Reine Wissenskonflikte führen folglich dazu, dass sie auf Grundlage des besseren Wissens entschieden werden und eine Abstraktion von der Werteebene droht. Die Abstraktion wird problematisch, wenn rivalisierende Werte im Spiel sind.

Die Corona- und Klimakrise sowie Impf- und Kriminalitätsdebatten verdeutlichen die Relevanz wissenschaftlicher Expertise. Gleichzeitig zeigen sie das (Abhängigkeits-)Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik auf. Politische Maßnahmen werden häufig, so scheint es, vom Expertenwissen abgeleitet. Expertenwissen wird als zuverlässigste Grundlage rational fortschrittlicher Politik verstanden. Konflikte werden als Wissenskonflikte und nicht als politische Konflikte ausgetragen. Im Vordergrund steht das bessere Wissen, nicht die rivalisierenden Werte.

Beim Klimastreit spielt der Expertenkonsens eine zentrale Rolle. Gleichzeitig erscheinen politische Maßnahmen alternativlos zur wissenschaftlichen Expertise. Expertenwissen wird daraufhin durch Halbwahrheiten und Gegenargumente angezweifelt. Die Abstraktion von Wertefragen führt nicht zur Rationalisierung, sondern zu methodischen Auseinandersetzungen und Gegenexpertise in Form von Halbwissen und Verschwörungstheorien.

In der Kriminalitätsdebatte in den USA und in der Impfkontroverse bestehen weitreichende Expertenkonsense. Ausgangspunkt der Kriminalitätsdebatte war eine Statistik, die einen Rückgang der Kriminalität verzeichnet. In einem Interview weist der Politiker Newt Gingrich jedoch darauf hin, dass die repräsentative Studie nicht zwingend die Realität aller Menschen abbildet. Viele Menschen fühlen sich dennoch unsicher in manchen Gegenden, weswegen weiterhin über die politische Sicherheitspolitik diskutiert werden sollte. In ähnlicher Weise verhält es sich bei der Impfkontroverse. Impfen gilt als sicher und medizinisch sinnvoll. Für den Einzelnen sind die Einschätzungen der Expert_innen nicht unwahr, jedoch irrelevant. Es wird in beiden Fällen auf den Einzelfall verwiesen, bei dem Nebenwirkungen aufgetreten sind oder trotz der Statistik ein Gefühl der Unsicherheit herrscht.

Die Beispiele zeigen, dass Konflikte häufig als Wissenskonflikte ausgehandelt werden, dabei wäre es gar nicht notwendig, Expertise im Vergleich zur subjektiven Wahrnehmung zu relativieren. Es müssten die Expertise und die subjektiven Wahrnehmungen anerkannt und in politische Entscheidungen aufgenommen werden. Die Corona-Krise hat sich zum Beispiel von einem vorwiegenden Wissenskonflikt zu einem fundamentalen Wertekonflikt zwischen epidemiologischen, ökonomischen, ethischen, psychologischen und vielen weiteren Aspekten entwickelt. Bei Fragen zur Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen werden mittlerweile Werte gegeneinander abgewogen und es findet eine politische Auseinandersetzung statt.

Liberale Demokratie: Die Diktatur der Dummen?

Demokratie ist kein robustes Konstrukt, sondern durch Autoritarismus und Populismus gefährdet. Demokratiekrisen werden auf eine inkompetente Politik und eine geistige Überforderung von Bürger_innen zurückgeführt.

Der US-amerikanische Philosoph Jason Brennan schlägt daher die Epistokratie, die Herrschaft der Wissenden, vor. Er geht davon aus, dass es eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse und richtige Antworten auf politische Fragen gibt. Ungebildete, inkompetente Menschen sollten von der politischen Teilhabe ausgeschlossen werden. Der Soziologe Helmut Willke beobachtet, dass sich längst eine Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Politik etabliert hat. Um Vertrauen aufzubauen, fordert er die Offenlegung und transparente Gestaltung der Arbeitsteilung. Die Teilung ermöglicht es, dass sich die Politik mit Grundsatz- und Wertfragen beschäftigen kann und gleichzeitig auf Fachwissen bei komplexen Fragestellungen, zum Beispiel zur Staatsverschuldung, zum Rentensystem oder zur Energiereform, zurückgreifen kann.

Willke setzt voraus, dass Wertefragen und Wissensfragen voneinander getrennt behandelt werden können und Expertise Grundlage politischen Handels ist. Er ist davon überzeugt, dass bei Expertenkonsens politische Entscheidungen nicht angezweifelt werden. In der Wissenschaft besteht jedoch nicht immer Konsens und aus wissenschaftlichen Tatsachen leitet sich nicht automatisch ein politischer Handlungszwang ab. Im Rahmen politischer Entscheidungsfindung spielen neben Expertise auch andere Werte, wie die Gesundheit, die individuelle Mobilität oder das Wirtschaftswachstum, eine große Rolle. Ein Konsens, mit Blick auf die vielfältigen Aspekte, ist innerhalb der Experten, Politik und Gesellschaft nicht zu erwarten.

„[…] Gute Politik lässt sich nicht […] auf die richtige Lösung von Wissensfragen reduzieren, und politische Konflikte sich nicht mit Verweis auf wissenschaftliche Wahrheiten befriedigen.“Wie lässt sich das mit der Idee der objektiven Wahrheit vereinbaren?

Um in einer Demokratie Fortschritt und Freiheit zu gewährleisten, bedarf es eines ständigen Wettstreits zwischen Meinungen. Konstruktive Auseinandersetzungen setzen neben dem Glauben an die Überlegenheit der eigenen Meinung eine verbindende Gemeinsamkeit voraus: die Idee der objektiven Wahrheit, nach der es bessere und schlechtere Begründungen gibt. Wahrheit muss in einem minimalen Sinne als objektiv angesehen werden. Es ist eine anspruchsvolle Art der Auseinandersetzung, die einerseits des Engagements und andererseits der Fähigkeit zur Selbstrelativierung bedarf.

Noch mehr Demokratie wagen?

Mit der Demokratisierung aller Lebensbereiche seit den 1970er-Jahren plädieren der österreichische Philosoph Paul Feyerabend und der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour für eine Demokratisierung des epistemischen Bereichs.

Feyerabend kritisiert die liberale Weltanschauung, die durch Wissenschaft und Rationalismus und den Glauben universell anwendbarer wissenschaftlicher Methoden geprägt ist. Er ist der Auffassung, dass es keine epistemische Überlegenheit von Erkenntnissen gibt und in einer Gesellschaft nebeneinander konkurrierende und miteinander inkompatible Weltanschauungen bestehen. Bürger_innen kommen erst zu einer echten Wahlentscheidung, wenn sie sich frei für eine Weltanschauung entscheiden können.

Latour fordert, den Dingen eine Stimme zu geben. Dinge der Natur gelten als unumstößliche Tatsachen, als Fakten, die das Weltbild bestimmen. Die Wissenschaft bestimmt folglich die epistemische Grundlage des Lebens und den Rahmen des Vernünftigen für die Politik. Er fordert die Überwindung der Dichotomie von objektiver Natur und subjektiver Politik. Man muss Fakten in Frage stellen, damit sie ihre Macht verlieren, und alternative Perspektiven anerkennen.

Durch die Anerkennung und Gleichberechtigung aller Weltanschauungen entsteht Indifferenz. Demokratie lebt jedoch von lebendigem, konstruktivem Dissens, der nur möglich ist, wenn ein gemeinsamer Referenzrahmen vorliegt. „Welche Art von Referenzrahmen [sind] wir für die Stabilisierung von Tatsachen und zum Zwecke eines sinnhaften Aufbaus der Welt zu akzeptieren bereit [...]?“ Erst die Idee der objektiven Wahrheit und der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Anschauung verhindert das bloße Nebeneinanderstehen von widersprüchlichen Positionen.

Das Elend der Kritik und der Aufstand der Ignoranten

Verschwörungstheorien und alternative Fakten zeigen deutlich, dass man sich eine Haltung der Indifferenz nicht mehr leisten kann. Menschen befürchten durch die Nähe der Wissenschaft zur Politik, dass wesentliche Entscheidungen von Expert_innen aus dem Hintergrund gesteuert werden. Die Politik scheint, aufgrund der Übereinstimmung mit der Wissenschaft, alternativlos. Die globale Bewegung science denialism stellt unter anderem wissenschaftliche Erkenntnisse fundamental in Frage – mit dem Ziel, Skepsis zu verbreiten und politisch unerwünschte Maßnahmen zu verhindern.

Gleichzeitig zeigen die Kontroversen rund um die Klimakrise und Impfpflicht die Gefahren einer Epistemisierung politischer Streitfragen. Normative Aspekte werden als epistemische wahrgenommen und gehandelt. Emotionen, Ängste und Wertestandpunkte finden keinen Einzug mehr in die Diskussion. Es geht primär um das bessere Wissen. Wer an politischen Auseinandersetzungen partizipieren möchte, benötigt (Experten-)Wissen.

Politik und Wissenschaft müssen voneinander getrennt handeln, betrachtet und beurteilt werden. Aufgabe von Ethikräten und Gremien ist die unabhängige Beratung der Politik. Die Politik wiederum muss neben dem Expertenwissen Meinungen und Ängste der Bürger_innen bei ihren Entscheidungen berücksichtigen.

„Politisch rationale Entscheidungen lassen sich nicht durch ausschließlichen Rekurs auf wissenschaftliches Wissen garantieren.“ In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass besseres Wissen nicht zwangsläufig zu richtigen politischen Maßnahmen führt, und umgekehrt, dass trotz fundierter Expertise „falsche“ Politik betrieben werden kann.

Eine abschließende Kritik der Epistemokratie

Politische Auseinandersetzungen in der Corona-Krise, bei der Impfdebatte oder der Klimakrise beschränken sich derzeit auf die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie werden als Streit um das bessere Wissen ausgetragen. Die Fokussierung auf Wissensfragen führt dazu, dass man die eigentlichen Probleme aus den Augen verliert. Es wird„eine Politik der alternativen Fakten“provoziert.Es entsteht die Wahrnehmung, dass politische Entscheidungen ausschließlich aufgrund der Expertise der Wissenschaft entschieden werden. Die Wissenschaft „entscheidet, was handlungspraktisch rational und technisch machbar, was wirtschaftlich richtig und politisch geboten ist“.


buch|votum

Alexander Bogner sieht die soziale Demokratie durch die Epistemisierung des Politischen gefährdet. Eine zu starke Fokussierung auf Wissensfragen bei politischen Auseinandersetzungen, wie zu den Corona-Maßnahmen, dem Klimawandel oder der Impfdebatte, führen dazu, dass normative Aspekte und Werte aus dem Blick verloren gehen und das eigentliche Grundproblem unberührt bleibt. Vielmehr wird „eine Politik der alternativen Fakten“ provoziert.

Bogner führt in Teilen die vermehrt aufkommenden Verschwörungstheorien und Wissenschaftsleugner_innen auf die Epistemisierung des Politischen zurück. Schlussendlich führen seine Ausführungen zur Einsicht, dass es„in der Politik […] in erster Linie darum [geht], ein breites Spektrum an Meinungen und Betroffenheiten zu berücksichtigen“, um so „ein gewisses Maß an Gemeinsinn [zu] repräsentieren“. Vor allem bei politischen Auseinandersetzungen sollte es nicht primär um das bessere Wissen gehen. Das derzeitige Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik kann durch eine deutlich sichtbare Trennung der Aufgaben entzerrt werden. Zusätzlich muss einerseits kenntlich gemacht werden, dass wissenschaftliche Expertise nicht als Legitimierungsgrundlage politischer Entscheidungen dient und andererseits muss verständlich die Nähe von Wissenschaft zur Politik kommuniziert werden.

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