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Kurzinfo

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Willy Brandts Abschiedsrede

Als sich alle Anwesenden erhoben - sofern sie in der überfüllten Beethovenhalle nicht ohnehin längst standen - und viele Minuten lang applaudierten, war ihnen bewusst, dass in diesem Moment eine Ära zu Ende ging. Mit seiner Abschiedsrede vor den Delegierten und Gästen des außerordentlichen SPD-Parteitags am 14. Juni 1987 in Bonn hatte Willy Brandt Bilanz und noch einmal alle Register gezogen: nach 23 Jahren, 3 Monaten und 29 Tagen im Amt des Parteivorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Die Überlieferung zum außerordentlichen Parteitag der SPD am 14. Juni 1987 verteilt sich im AdsD neben den Organisationsakten des SPD-Parteivorstands auf die Archivbestände all jener, die dort anwesend waren (insbesondere die Redner_innen) und die mit der Vor- und Nachbereitung betraut waren; das Protokoll und weitere gedruckte Materialien befinden sich außerdem in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung. In der audiovisuellen Sammlung des AdsD werden die eigenen Film- und Tonaufnahmen vom Parteitag sowie die umfangreiche Dokumentation des Fotografen Jupp Darchinger verwahrt.

Dass Willy Brandt sich in seiner Rede als "Arbeiterjunge von der Wasserkante, der in Skandinavien politisch in die Lehre ging, den es von der Spree an den Rhein verschlug und der sich nun nach nahezu einem Vierteljahrhundert im Parteivorsitz verabschiedet" portraitierte, war reines Understatement, ähnlich wie er bereits Jahre zuvor zurückhaltend auf Fragen reagiert hatte, ob er denn die längste Amtszeit im Parteivorsitz der SPD anstrebe: August Bebel könne er doch nur einholen, "wenn man das ab 1890 rechnet, nach Aufhebung des Sozialistengesetzes. Sonst wäre es eine erheblich längere Zeitspanne." (DER SPIEGEL, Nr. 20/1984, 14.05.1987)

Gleichwohl nutzte er natürlich die Bühne des für seinen Abschied und für die Wahl seines Nachfolgers einberufenen außerordentlichen Parteitags für einen Rückblick auf jene 23 Jahre, die zu den erfolgreichsten Kapiteln der deutschen Sozialdemokratie zählen: in ihnen hatte sich die SPD von der Arbeiter- zur Volkspartei gewandelt und war aus der scheinbar immerwährenden Opposition heraus in die Regierung gelangt, um dort 16 Jahre lang zu bleiben - mit Willy Brandt als erstem SPD-Bundeskanzler seit 1930. Nachdem die Sozialdemokraten jedoch 1982 durch ein Misstrauensvotum gegen die Regierung von Bundeskanzler Helmut Schmidt erneut auf die Oppositionsbänke versetzt worden waren und zwei weitere Bundestagswahlen später in einer Talsohle angelangt zu sein schienen, war der weitere Weg im Juni 1987 keinesfalls vorgezeichnet. In seiner Rede schlug Brandt einen großen Bogen und lieferte dabei Resümee und Ausblick zugleich: neben der Erinnerung an Geleistetes - vor allem an die auf Bundesebene verwirklichten reformpolitischen Ansätze im Innern und nach außen - richtete der scheidende Parteivorsitzende den Blick immer wieder in die Zukunft und mahnte seine SPD, sich als Volkspartei beständig zu erneuern und dafür zu kämpfen, wieder an die Regierung zu gelangen. Neben allerlei alltagspolitischen Fingerzeigen zeichnete seine in fünf Kapitel (mit den gewichtigen Titeln "Freiheit", "Verantwortung", "Bewegungskraft", "Friede" und "Hoffnung") strukturierte Rede die großen Linien der sozialdemokratischen Traditionen nach - ohne Pathos, vielmehr gelöst und selbstbewusst, zugleich nicht ohne Selbstkritik und Selbstironie.

Dies wiederum war nicht ohne weiteres selbstverständlich, denn Willy Brandt schied unfreiwillig vorzeitig aus dem Amt. Bereits als er im August 1986 auf dem SPD-Parteitag in Nürnberg 1986 mit 398 von 430 gültigen abgegebenen Ja-Stimmen wie üblich für weitere zwei Jahre wiedergewählt worden war, hatte von vornherein festgestanden, dass er 1988 nicht erneut antreten werde. Wenn Brandt nun eingangs einräumte, "zur Nachahmung" könne er "solche Vorankündigungen nicht empfehlen", verstanden dies damals alle so, wie es gemeint war - zu turbulent waren die darauffolgenden Monate für die SPD verlaufen. Wichtige Landtagswahlen gingen verloren oder sie schrammten am Desaster vorbei. Der Wahlkampf zur Bundestagswahl Anfang 1987 mit Kanzlerkandidat Johannes Rau war nahezu von Anfang an ein aussichtsloses Unterfangen, da die SPD ohne sicheren Koalitionspartner ins Rennen ging und die absolute Mehrheit anstrebte, an die ihr Vorsitzender jedoch nicht mehr glauben mochte und sich daher den Vorwurf der Illoyalität einhandelte. Die Nachfolgediskussion, wer von den Jüngeren oder gar von den "Enkeln" den Parteivorsitz künftig übernehmen sollte, waberte als allgegenwärtiges Grundrauschen. Nicht nur hinter vorgehaltener Hand wurde Brandt Führungsschwäche unterstellt, sein Rückhalt in den Gremien der Partei begann zu bröckeln. Schließlich entzündete Willy Brandts Idee, die durch den Rücktritt von Wolfgang Clement vakant gewordene und von Günter Verheugen nur vorübergehend übernommene Stelle des Pressesprechers beim Parteivorstand mit der parteilosen Politologin Margarita Mathiopoulos zu besetzen, eine offene Revolte im Parteivorstand und in der Bundestagsfraktion, welche in eine öffentliche Demontage Brandts umzuschlagen drohte. Am 23. März kündigte Brandt auf der Sitzung des Parteivorstands seinen vorgezogenen Rücktritt an: auf einem für die Wahl seines Nachfolgers einzuberufenden außerordentlichen Parteitag werde er "die Brücke" verlassen, "aber ich gehe nicht von Bord".

Im März war alles andere als ausgemacht, dass es der SPD drei Monate später gelingen werde, einen würdigen Abschied des SPD-Parteivorsitzenden zu zelebrieren. Letztlich räumte Willy Brandt am 14. Juni selbst ein, der heutige Tag bedeute für ihn einen "tiefen Einschnitt" - eine Zäsur war es ohne Frage auch für seine Partei. Brandts Abschiedsrede wurde von zeitgenössischen Beobachter_innen als starker Abgang an einem historischen Tag wahrgenommen und erscheint schon allein deshalb - ähnlich wie die Regierungserklärung 1969 oder seine Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 1971 - als ein Meilenstein in Brandts Biographie.

Ein dicker Brocken war die Rede auch hinsichtlich ihrer Länge: Während Brandt sie ohne Pause vortrug, tickte August Bebels Taschenuhr nahezu zwei Stunden lang in der Westentasche (und ihre Kette glänzte sichtbar vor dem Bauch) - ein nicht zu unterschätzender Kraftakt sowohl für den Redner als auch für die Zuhörer_innen in der engen, nicht klimatisierten Beethovenhalle, die ihrem Noch-Parteivorsitzenden dennoch aufmerksam folgten - trotz oder gerade wegen dem für Brandt so typischen und an jenem Tage ausgeprägten nachdenklichen Duktus, als wäge er noch am Rednerpult sorgsam jedes Wort. Tatsächlich lag vor ihm ein ausgefeiltes Redemanuskript mit dem stolzen Umfang von 78 Seiten.

Dass eine Abschiedsrede gut vorbereitet sein will, versteht sich von selbst - und da Willy Brandt von Beginn seiner politischen Laufbahn an darauf bedacht war, seine schriftlichen Unterlagen gut aufzubewahren, kann man ihm und seinem Team nun im Archiv gewissermaßen über die Schulter schauen und nachvollziehen, wie der Text im Laufe von etwa zweieinhalb Monaten allmählich zu seiner Form fand. Wie in vielen Personenbeständen ist die Aktengruppe mit Willy Brandts publizistischen Äußerungen von herausgehobener Bedeutung und bildet neben persönlichen Unterlagen, Korrespondenz, Sachakten und Sammlungsgut (Fotos etc.) einen integralen Bestandteil seines Nachlasses: mehr als 1200 Boxen, aneinandergereiht 80 Meter lang, enthalten Reden, Artikel, Buchmanuskripte, Interviews, Grußworte und weiteres. Von den Vereinten Nationen bis hin zum Zahnärztekongress, von seinen Memoiren bis hin zum weihnachtlichen Lieblingsrezept, von wenigen Zeilen bis hin zu Hunderten von Blättern, von auf kleine Notizzettel hingeworfenen Stichworten für frei gehaltene Reden bis hin zu Transkriptionen des tatsächlich gesprochenen Worts ist jede nur erdenkliche Variante vorhanden. Die Anzahl der an der Ausarbeitung eines Textes beteiligten Personen wechselte je nach Anlass,

Thema und wohl auch abhängig von der zur Verfügung stehenden Zeit: mal schrieb Willy Brandt im Alleingang alles selbst, mal übernahm er den Entwurf eines Mitarbeiters ohne substantielle Änderungen, doch in der Regel bat er um einen solchen Entwurf und beschäftigte sich so intensiv damit, dass er ihn sich mit Änderungen, Einfügungen und Umstellungen aneignete. Natürlich verschwanden am Ende im Vortrag bzw. im Abdruck die Zuträger_innen hinter seiner Person; in seiner Abschiedsrede legte Brandt denn auch Wert auf die Feststellung, all die Jahre über "an der Rampe" als "Kollektivwesen" gestanden zu haben: er brachte "unter die Leute, was andere vorbereitet und in eine ordentliche Form gebracht haben, und die eigenen Gedanken haben sich oft mit den Überlegungen anderer untrennbar vermischt."

Wenn die Genese eines Textes in solchen zwar koordinierten, aber eben doch gewundenen Bahnen verläuft, hinterlässt all dies in den Manuskripten deutliche Spuren. Brandt selbst schrieb nur mit Hand und seine eigenen Manuskripte sind sehr gut zu lesen, selbst wenn er seinen eigenen Text noch einmal oder mehrmals korrigierte, Passagen strich oder sie mit Anmerkungen und Einfügungen versah. Da er in den letzten Jahrzehnten bevorzugt mit Filzstift schrieb und dabei nicht immer sklavisch den typischen der Behördenleitung vorbehaltenen Grünstift, sondern auch andere Farben verwendete, lassen sich auf einem Blatt mitunter verschiedene Bearbeitungsschritte auseinanderhalten. Weitaus komplexer wird es, sobald maschinenschriftliche Entwürfe die Grundlage bildeten und ihre Seiten umgeordnet und neu nummeriert oder gar in Fragmente zerlegt und an entlegenere Stellen verschoben wurden - bis die nächste maschinenschriftliche Reinschrift wieder Ruhe in den Text brachte.

Da die Redemanuskripte zu Brandts Abschiedsrede in insgesamt fünf Textstufen vorliegen, ist auch ihre schriftliche Überlieferung ein im wahrsten Sinne des Wortes dicker Brocken, der einen Ordner füllte und nun im Willy-Brandt-Archiv in einer eigenen Box liegt. Die erste Fassung stammt überwiegend von Brandt selbst und schließt gelegentlich in den handschriftlichen Text eingefügte oder gar hineingeklebte Fragmente eines allerersten getippten Entwurfs ein, dessen Herkunft bislang unklar ist und der in Gänze möglicherweise nicht mehr existiert. Verschollen ist wohl auch eine hiervon erstellte maschinenschriftliche Reinschrift mit weiteren Überarbeitungen, denn die Reinschrift der zweiten erhalten gebliebenen Textstufe ist wiederum etwas weiter vorangeschritten; auch sie wurde zunächst von Brandt mit einigen handschriftlichen Anmerkungen versehen, aber dann in dieser Form als "Redeentwurf" Mitte Mai an zahlreiche Parteifreunde zur kritischen Durchsicht geschickt und im Nachhinein bürointern als "vorletzte Fassung" bezeichnet. Die folgende Textstufe ist keine Reinschrift, sondern eine Kopie der vorangegangenen Fassung, in der (sicherlich auch aufgrund der von den Testleser_innen gegebenen Anregungen) viele weitere handschriftliche Überarbeitungen, Kürzungen und Umstellungen vorgenommen wurden. Die nächste maschinenschriftliche Reinschrift war dann schon so fein geschliffen, dass lediglich marginale Anpassungen vonnöten waren, die für die fünfte Textfassung eingearbeitet wurden - deren maschinenschriftlicher Text lag auf dem Rednerpult, erhielt zuvor aber noch einige Last-Minute-Einfügungen sowie Brandts übliche Unterstreichungen für wirkungsvolle Betonungen.

Wie eine gehaltene Rede Eingang in die öffentliche Erinnerung findet, hängt neben journalistischen und wissenschaftlichen Einordnungen nicht zuletzt davon ab, wer sie in welcher Form hinterher publiziert. Unmittelbar vor einer solchen Rede wird ja oftmals die letzte Fassung eines Redemanuskripts an die Presse und die Delegierten verteilt und mit einer Sperrfrist sowie dem Zusatz "Es gilt das gesprochene Wort" versehen - so war es auch hier. Zeitnahe Abdrucke der Abschiedsrede basierten deshalb auf diesem vorab verbreiteten Exemplar, ohne dass sie die allerletzten Änderungen oder gar den tatsächlichen Wortlaut der Rede wiedergaben. Auch das seit Anfang April im Siedler-Verlag vorbereitete, noch vor dem Parteitag gedruckte und am 15. Juni erschienene Büchlein "Die Abschiedsrede" bietet den Text in der Fassung vor dem eigentlichen Vortrag. Dessen spätere Verschriftlichung (inkl. Beifallsbekundungen) publizierte ausschließlich die SPD im eigenen Informationsdienst "Politik" sowie in gleicher Form im kompletten Parteitagsprotokoll. Allerdings lohnt es sich, genauer hinzuschauen bzw. hinzuhören - mit Hilfe der im AdsD vorhandenen Film- und Tonaufnahmen.

Einige Sätze später nutzte Brandt einen längeren Zwischenapplaus, um stillschweigend ganze elf Seiten seines Redemanuskripts - einen Großteil des Kapitels "Friede" - zu überblättern und am Beginn des letzten Kapitels neu anzusetzen. Dass in dem Buch "Die Abschiedsrede" von all dem nichts zu merken ist, dürfte nicht überraschen.

 

 

Das Parteitagsprotokoll hingegen druckte nicht nur den Verweis auf Bebel, sondern auch die gar nicht vorgetragenen, aber eben zu Protokoll gegebenen Ausführungen, ohne den Unterschied kenntlich zu machen. Dies fällt nur auf, wenn man sich wundert, warum Brandt auf jenen vier Protokollseiten kein einziges Mal von Beifall unterbrochen wird - oder eben wenn man alle im Archiv verfügbaren Quellen zurate zieht.

"Der Ring schließt sich", so formulierte Willy Brandt es selbst gegen Ende seiner Abschiedsrede, die folgerichtig als politisches Vermächtnis gedeutet wurde, doch dazu war es - hinterher ist man immer schlauer - eindeutig zu früh: Brandt wurde unmittelbar nach der Wahl seines Nachfolgers Hans-Jochen Vogel erstmals in der Geschichte der SPD der Ehrenvorsitz auf Lebenszeit angetragen (sein trockener Kommentar: "Ehrlich gesagt [...] ich weiß nicht recht, was das bedeutet, außer dass ich weiß, es ist gut gemeint, und es gilt vernünftigerweise nicht über mein Todesdatum hinaus, wie der Antrag besagt. Ich weiß, es ist gut gemeint. Ich danke euch."). Doch er ruhte sich nicht auf seinem Denkmalsockel aus, blieb tatsächlich an Bord - vor allem als Präsident der Sozialistischen Internationale - und legte 1989 seine "Erinnerungen" vor. Wenige Monate später fiel die Berliner Mauer und es folgten weitere Jahre, in denen Willy Brandt noch einmal ganz vorne mit dabei war und als Elder Statesman den Einigungsprozess beider deutscher Staaten begleitete. Erst sein von Hans-Jochen Vogel im September 1992 auf dem Kongress der Sozialistischen Internationale in Berlin verlesenes Grußwort gilt heutzutage als sein eigentliches Vermächtnis.

 

(Last but not least: All jene, denen an der Seite 24a der dritten Textfassung der Abschiedsrede das obere Drittel bekannt vorkommt, werden es im SPD-Parteibuch wiederfinden, in dessen 2010 neu aufgelegter Version eben diese Passage abgedruckt worden ist.)

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