Ungleiches Deutschland – Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2023


Gleichwertige Lebensverhältnisse: Bisher unerreicht

Ungleichheit zwischen städtischen und ländlichen Regionen sowie Unterschiede zwischen wirtschaftlich dynamischen Regionen und solchen, die vom Strukturwandel betroffen sind – Deutschland ist sozial und räumlich ein ungleiches Land. Die Strukturen einzelner Regionen unterscheiden sich stark und beeinflussen damit maßgeblich die Wanderungsbewegungen, Einkommensverhältnisse und die grundsätzlichen Lebens- und Chancenbedingungen der Menschen. Der 3. Sozioökonomische Disparitätenbericht 2023 zeigt diese Ungleichheit visuell und geht der Frage nach, inwieweit sich regionale Unterschiede in den vergangenen Jahren gefestigt oder verändert haben.
 

Resilienz und Zukunftsfähigkeit

Umweltkatastrophen, geopolitische Konflikte und wirtschaftliche Krisen – Deutschlands Regionen sind ungleich resilient gegenüber den zukünftigen Transformationsherausforderungen und aktuellen Krisen.

Der Bericht knüpft im ersten Teil an die Disparitätenberichte von 2019 und 2015 an und blickt im zweiten Teil erstmals auf die Zukunftsfestigkeit der Regionen: Er liefert sowohl eine umfassende Bestandsaufnahme über die sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland, als auch über die Zukunftsfähigkeit, die Transformation hin zu einem klimaneutralen Wirtschaften zu meistern. Daraus werden schließlich zehn politische Handlungsempfehlungen abgeleitet.
 

Ansprechpartnerin: Vera Gohla, 030 26935-8331, Vera.Gohla(at)fes.de
Referat Politische Beratung und Impulse

Presseanfragen: Johannes Damian, 030 26935-7038,  Presse(at)fes.de

Ungleichheit in Karten

Hier können Sie in unseren verschiedenen interaktiven Karten nach Ihrem Landkreis oder Ihrer Stadt suchen.
 

Deutschland zwischen Aufholprozessen und Zukunftsherausforderungen

Deutschland heute

Die sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland lässt sich in fünf Clustern, also „regionalen Typen“ beschreiben. Grundlage dafür ist ein Verfahren, das Ähnlichkeiten in den regionalen Strukturen sichtbar macht: Eine Clusteranalyse ordnet die insgesamt 400 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte anhand von soziökonomischen Indikatoren, wie beispielsweise Beschäftigungs- und Armutsquoten, die kommunale Verschuldung oder infrastrukturelle Ausstattung, strukturell einander ähnlichen Kreisen und Städten zu.

Die Disparitätenkarte zeigt: Die (Groß-)Städte sind zunehmend überlastet und der Gefahr ausgesetzt, sozial zu polarisieren. Zugleich wandern die Menschen verstärkt aus der Stadt ins Umland ab, das sozioökonomisch recht stabil ist.

Es zeigt sich außerdem, dass der pauschale Gegensatz zwischen Stadt und Land nicht mehr gilt. In den strukturschwachen Regionen sind die Mediangehälter gestiegen und Abwanderungsquoten gesunken – es werden Aufholerfolge zum restlichen Bundesgebiet sichtbar.
Es fällt außerdem auf, dass der vermeintlich homogene Osten zweigeteilt ist. Die dynamischen Großstädte und ihr direktes Umland stehen strukturschwachen, eher ländlichen Regionen gegenüber.

Die Karte zeigt aber auch, dass vor allem die altindustriellen Städte stark durch den Strukturwandel betroffen sind und weiterhin Unterstützung benötigen.
 

Vergleichen Sie die Disparitäten in den einzelnen Kreisen und Städten oben in der interaktiven Karte.

Armut und Wohlstand

Die Verteilung von Wohlstand und Armut lässt sich über die Mediangehälter am Wohnort darstellen – also jenes Einkommen, das bei einer aufsteigenden Auflistung genau in der Mitte liegt und damit nicht durch extrem hohe oder niedrige Beträge verzerrt wird.

Wohlstand und Armut wird aber auch durch weitere Indikatoren bestimmt: Die Quoten zur Alters- und Kinderarmut sind ebenfalls Kennziffern, die Ungleichheit zwischen den Städten und Kreisen ausdrücken. Aber auch die regionale Mietbelastungsquoten bestimmen, wie viel Geld die Menschen für ihren Alltag zu Verfügung haben.

Der Disparitätenbericht 2023 hat die Verteilung von Wohlstand und Armut in Deutschland anhand der Alters- und Kinderarmut, der Mediangehälter und der Mietbelastungsquote systematisch ausgewertet. Die Reihenfolge und farbliche Gestaltung der Raumtypen auf der Karte orientieren sich an der Höhe der regionalen Mediangehälter am Wohnort.

Es zeigt sich, dass die räumliche Verteilung von Wohlstand und Armut in Deutschland nicht einfach entlang von Einkommensmöglichkeiten bestehen. Denn, wo die Gehälter hoch sind, ist auch die Belastung durch die Lebenshaltungskosten und insbesondere die Wohnkosten hoch. Vor allem in Großstädten konzentrieren sich Armutsrisiken unabhängig von den vergleichsweise hohen Mediangehältern.
 

Vergleichen Sie den Wohlstand und die Armut in den einzelnen Kreisen und Städten oben in der interaktiven Karte.

Geerbtes und geschenktes Vermögen

Für die Zukunftsfähigkeit von Regionen sind neben den einkommensbezogenen Wohlstandsmessern die regionalen Vermögensunterschiede mindestens ebenso relevant.

Die ungleiche Verteilung von Vermögen – zum Beispiel durch Erbe - hat auch ein großes Potential, Ungleichheit zu verstärken und zu verfestigen. Vermögen generiert nicht nur künftiges Einkommen, sondern kann in unsicheren Zeiten auch partielle Einkommenslücken kompensieren.
 

Vergleichen Sie die Verteilung des geerbten und verschenkten Vermögens nach Bundesländern in der interaktiven Karte.

Deutschland in Zukunft

Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland leben in Regionen mit positiven Zukunftspotenzialen, aber auch die „Zukunftsfähigkeit“ ist in Deutschland ungleich verteilt und verläuft in großen Teilen entlang der alten Disparitäten.

Die neue Resilienzkarte zeigt die Verteilung dieser „Zukunftsfähigkeit“ durch vier Cluster (Raumtypen). Die Analyse betrachtet vor allem die regionale Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, die Bildungs- und Lebenschancen und die öffentliche Infrastruktur.

Bemerkenswert ist: Nicht nur die Großstädte sind „räumliche Innovationspole“, sondern auch alte Krisenregionen im Ruhrgebiet oder in Ostdeutschland. Eine positive Zukunftsaussicht haben zudem resiliente ländliche Räume im Süden des Landes.

Unterstützung benötigen in Zukunft neben den Regionen mit partiellen Anpassungshemmnissen vor allem die Räume mit besonderen strukturellen Herausforderungen, in denen die Gefahr des Fachkräftemangels durch die demographische Struktur besonders groß ist.
Durch kommunale Verschuldung und geringe Innovationskraft sind hier zudem kaum Investitionen möglich.  

Der Osten ist wieder zweigeteilt: Städte wie Berlin, aber auch Dresden, Leipzig oder Jena haben stärkende Ausstrahlungseffekte auf ihr Umland – ländliche Räume mit zukünftigen Herausforderungen stehen diesen Effekten aber weiter gegenüber.
 

Vergleichen Sie die Zukunftsfähigkeit der einzelnen Kreise und Städte oben in der interaktiven Karte.

Ungleiche Zukunftsherausforderungen

Das Ziel des klimaneutralen Wirtschaftens ist nur mit einer Transformation der besonders klimaintensiven Industriebranchen erreichbar – auch diese Aufgabe betrifft Deutschlands Regionen unterschiedlich stark.

Die Karte zeigt die dreißig Kreise bzw. kreisfreien Städte, die vor besonders großen Herausforderungen und Risiken aufgrund ihrer Wirtschaftsstruktur stehen, da hier besonders viel energieintensive Industrie oder Automobilindustrie ansässig ist. Die farbliche Zuordnung dieser Regionen macht deutlich, dass diese Regionen entsprechend ihrer Resilienzcluster sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen für die Bewältigung der Transformationsherausforderungen haben. Bei der Planung und Gestaltung der Unterstützung von Regionen ist es daher wichtig, diese doppelte Ungleichheit zu beachten, um zielgerichtet und wirksam zu handeln.
 

Vergleichen Sie die die ungleichen Zukunftsherausforderungen der einzelnen Kreise und Städte oben in der interaktiven Karte.

Ungleichheit abbauen: 10 Handlungsempfehlungen für die Politik

Erfolgreiche Transformation braucht nicht nur sozialen, sondern auch regionalen Ausgleich

Für eine erfolgreiche Transformation hin zu einer nicht-fossilen Wirtschaft und einem zukunftsfähigen Umgang mit aktuellen Krisen, sind starke Regionen nötig. Es müssen Instrumente gefunden und bestehende konsequent genutzt werden, die die Regionen zielgerichtet und passgenau unterstützen, um die zukünftigen Aufgaben zu bewältigen. In diesem Sinne ergeben sich 10 Handlungsempfehlungen.

 

1. Die zweite Halbzeit nutzen, um den Koalitionsvertrag konsequent umzusetzen

Im Kapitel „Gute Lebensverhältnisse in Stadt und Land“ des Koalitionsvertrages sind Maßnahmen und Initiativen angekündigt, die aber erst in Ansätzen abgearbeitet sind.

Es ist notwendig, dass der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode in dieser Hinsicht konsequent umgesetzt wird.

2. Kommunen stärken

Kommunen spielen eine Schlüsselrolle bei den öffentlichen Investitionen in Deutschland und damit bei der Aufgabe der Transformation.

Es ist notwendig, dass die kommunale Altschuldenproblematik gelöst wird, um vor allem die Kommunen der altindustrialisierten Städte und Regionen in Zukunft handlungsfähiger zu machen. Auch hier müssen die gesteckten Ziele aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt werden.

3. Daseinsvorsorge sichern

Grundvoraussetzung für eine räumliche Angleichung der Lebensbedingungen ist eine gute öffentliche Infrastruktur, sowohl für die wirtschaftsnahe (Gewerbeflächen, Transportsysteme, Energieversorgung etc.), als auch allgemeine Daseinsvorsorge (Bildung, Betreuung, öffentlicher Verkehr etc.).

Notwendig sind hier noch weitreichendere Investitionen, vor allem in eher finanzschwachen Regionen.

4. Armut konzentriert sich auf Großstädte und strukturschwache Regionen

Armut in Deutschland ist nicht gleich verteilt, sie konzentriert sich insbesondere auf Großstädte sowie altindustrialisierte und strukturschwache Räume.

Notwendig sind neben der Einführung der Kindergrundsicherung weitere Maßnahmen zur präventiven Armutsvermeidung und der Stabilisierung von strukturschwachen Regionen.

5. Knappe Ressourcen effizienter nutzen: Bündelung der Instrumente und mehr Raumwirksamkeit

Es gibt diverse Förderprogramme unterschiedlicher Akteure wie der EU, dem Bund und den Ländern. In Zeiten knapper Ressourcen ist eine Bündelung von strukturpolitischen Instrumenten überfällig.

Es ist notwendig, die Vielzahl der Fördertöpfe zu konzentrieren und wesentlich stärker raumwirksam und entsprechend den regionalen Bedarfen einzusetzen. Auch dieses schon im Koalitionsvertrag angekündigte Vorhaben muss in der zweiten Halbzeit dieser Legislaturperiode konsequent umgesetzt werden.

6. Es darf nicht weiter gelten: Wer hat, dem wird gegeben

Der Verteilschlüssel für Finanzhilfen und auch Forschungsmittel des Bundes („Königssteiner Schlüssel“) ist über das Steueraufkommen und die Bevölkerungszahl der Länder geregelt.

Es ist notwendig, mehr Transparenz im Hinblick auf die Raumwirksamkeit von Mitteln zu schaffen und konkrete Maßnahmen zum effizienteren Einsatz dieser Ressourcen für mehr räumliche Gleichwertigkeit zu ergreifen. Zukünftig müssen solche Mittel durch bedarfsorientierte Verteilkriterien ersetzt werden.

7. Die Energiewende für eine Angleichung der Lebensverhältnisse nutzen

Die Klima- und Energiewende bringt viele Unsicherheiten und Veränderungen, aber auch neue Wachstums- und Wertschöpfungschancen. Sie kann ein Schlüssel zum Abbau regionaler Ungleichheiten sein.

Es ist notwendig, bei der Planung des Windkraftausbaus an Land und der Entwicklung von Wasserstoffinfrastruktur vor allem die Flächen in den ländlichen, dünner besiedelten und strukturschwachen Räumen zu berücksichtigen, um Standortvorteile in diesen Regionen zu schaffen. Dies gilt auch für die Ansiedelung neuer Wertschöpfungsketten, wie beispielsweise die Chip-Produktion oder die Kreislaufwirtschaft.

8. Dem demographischen Wandel begegnen

Das zukünftige Fachkräftepotenzial ist für die Entwicklungschancen von Regionen von entscheidender Bedeutung. Der demographische Wandel dürfte neben anderen Indikatoren für strukturschwache Räume zum wichtigsten Engpassfaktor werden.

Es ist notwendig, neben der eher kapitalorientierten Förderung auch zusätzliche Instrumente zur Verbesserung der Fachkräfteverfügbarkeit in diesen Räumen zu nutzen – zum Beispiel durch zusätzliche Fachhochschulen in enger Kooperation mit der örtlichen Wirtschaft, oder Rückgewinnungsprogramme für Fachkräfte, die ihre ursprünglichen Heimatorte verlassen haben.

Um zudem kurzfristig etwas zu erreichen, müssen attraktive Anreize für die Zuwanderung in- und ausländischer Fachkräfte erfolgen – vor allem in strukturschwachen Teilen Ostdeutschlands sowie in einigen wenigen westdeutschen Kreisen.

9. Mehr Zuversicht schaffen und Fortschritte sichtbar machen

Das Vertrauen in klimagerechte Transformation kann mit mehr Transparenz und Sichtbarkeit gestärkt werden.

Es ist notwendig, „Leuchttürme der Transformation“ zu schaffen, zum Beispiel Ansiedlungsprojekte, wie zum Beispiel die Ansiedelung von Intel in Magdeburg.

Es ist auch notwendig, „Komplexitätsfallen“ zu überwinden und Transparenz zu schaffen. Dafür können verschiedene Formate genutzt werden, die die Herausforderungen der Transformation publikumswirksam und als Beispiele eines erfolgreichen Wandels in den jeweiligen Regionen präsentieren – zum Beispiel Stadtausstellungen, Gartenschauen oder internationale Bauausstellungen wie die IBA Emscherpark im Ruhrgebiet.

Es ist weiterhin notwendig, neue Beteiligungsformen und regionale Leitbilder zu entwickeln, um die Akteur_innen vor Ort miteinzubeziehen, die regionale Selbstbestimmung und Kompetenzen zu stärken und damit ein „regionales Empowerment“ zu fördern.

10. Der Staat muss funktionieren, und zwar auf allen Ebenen, in allen Regionen

In Zeiten großer Verunsicherung wollen sich die Menschen auf einen handlungsfähigen Staat verlassen können. Dies gilt insbesondere für Regionen mit besonderen Herausforderungen.

Es ist notwendig, die Institutionen handlungsfähig zu machen. Dazu gehört eine entsprechende personelle Ausstattung, eine funktionierende Infrastruktur und ausreichende Daseinsvorsorge, schnelle und entbürokratisierte Verfahren und mehr Beteiligungsangebote. Diese Anforderungen bedürfen einer ausreichenden finanziellen Ausstattung.

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