Müllsammlerinnen in Vietnam: Unbeachtet und dennoch unverzichtbar

Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sind für selbsständige Müllsammler_innen in Vietnam keine Selbstverständlichkeit. Dabei spielen diese Arbeitskräfte – die Mehrheit von ihnen Frauen – eine wichtige Rolle bei der Müllentsorgung und Mülltrennung.

von Trang Nguyen


Umweltarbeiter_innen in Vietnam sind durch staatliche Politik geschützt, wenn sie im formellen Sektor beschäftigt sind. Die Situation der selbstständigen Müllsammler_innen – auch nach ihren täglichen Aufgaben Ve Chai (Flaschen) oder Dong Nat (Kupferabfälle) genannt – ist dagegen weitaus instabiler. Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz kommen oft zu kurz. Dabei spielen diese Arbeitskräfte – die Mehrheit von ihnen Frauen – eine wichtige Rolle im System der Müllentsorgung und Mülltrennung in Vietnam.


Müll ist ein großes Problem in Vietnam, besonders in den großen Städten. Landesweit fallen täglich rund 60000 Tonnen Hausmüll an, 60% davon sind urbanen Ursprungs. Allein die Menge an Plastikmüll beläuft sich auf rund 1.8 Millionen Tonnen im Jahr. Lediglich 11% davon werden gesammelt und recycelt.

Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2025 mindestens 15% der Abfälle zu recyceln. Das Problem dabei: Die meisten Haushalte praktizieren keine Mülltrennung. Wiederverwertbares, Festabfälle, Plastikmüll und Restmüll landen auf diese Weise vermischt am Straßenrand oder auf offiziellen Deponien. Öffentliche als auch private Unternehmen bieten lediglich Abfuhr- und Abfallmanagementdienste an, das Recycling hingegen wird zu einem großen Teil von rund hunderttausend informellen Abfallarbeiterinnen und Arbeitern übernommen. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Mülltrennung, zum Recycling und zum Handel mit Abfällen von Deponien im ganzen Land. Schätzungen zufolge sammeln sie über 30% der Abfälle und tragen damit im Stillen auch zu einer funktionierenden Abfallwirtschaft in den Städten bei.

Diese Arbeitskräfte, in der Mehrzahl Frauen, trennen Materialien wie Karton, Metall und Plastik vom restlichen Abfall und bringen sie zu den Sammelstellen. Ihre Arbeit bleibt unsichtbar, weshalb es für die Regierung oft schwierig ist, die Chancen im Recycling und die Schwächen des Abfallmanagementsystems vollständig zu verstehen.
 

„Wenn du dich erst einmal auf deine Arbeit einlässt, stellst du fest, dass sie sehr bedeutungsvoll ist und zu Umweltschutz und einer Abfallreduzierung in der Stadt beiträgt.” so Frau Do Thi Hoa, eine Vollzeit-Ve Chai im Bezirk Hoang Mai, Hanoi.

 

Ein harter Job mit vielen Schwierigkeiten und Herausforderungen

Während formelle Arbeitskräfte in staatlichen Umweltunternehmen relativ stabile und langfristige Zahlungsregelungen einschließlich Bonuszahlungen genießen, ist die Arbeit der Müllsammler_innen im Privatsektor von starken Schwankungen geprägt.

Viele von ihnen trennen die Abfälle von Hand, um sie in Papier, Metall und bestimmte Arten von Plastik zu sortieren. Diese Methoden und Arbeitsprozesse können schnell zu Atemwegserkrankungen, Hautinfektionen oder schweren Verletzungen durch verschmutzte oder gefährliche Abfälle oder scharfe Gegenstände führen. Außerdem legen die Frauen oft viele Kilometer am Tag zurück, um auf der Suche nach recycelbarem Material Hausabfälle und sogar Mülldeponien, Abfallsammelstellen und öffentliche Mülleimer zu durchwühlen. In diesen Situationen steigt die Wahrscheinlichkeit von Verkehrsunfällen, wenn sie schwere oder sperrige Gegenstände mit sich schleppen.
 

Wie erwähnt schwankt das Einkommen aus Müllsammelarbeiten beträchtlich im Zeitverlauf, denn der dafür gezahlte Preis hängt von vielen Faktoren ab, beispielsweise von der Marktnachfrage oder bilateralen Verhandlungen zwischen Verkäufer_innen und  Annahmestelle. In den letzten Jahren konnte man zu Spitzenzeiten für ein Kilo Plastikflaschen je nach Plastiksorte bis zu 40.000 VND (ca. 1,50 EUR, Anmerk. der Red.) erzielen. Nun ist der Preis je nach Gebiet auf die Hälfte oder sogar auf ein Drittel gesunken. Das Einkommen dieser informellen Arbeitskräfte ist also höchst instabil.
 

„Ich arbeite schon seit 15 Jahren als informelle Müllarbeiterin. Diese Arbeit muss langfristig erhalten bleiben, auch in schwierigen Zeiten.“, sagt Truong Thi Phi Yen, eine informelle Müllsammlerin in der Tran Cao Van Street in Da Nang. „Heutzutage gelten für den Verkauf von Abfällen oder Altpapier viel strengere Anforderungen. Vor Covid-19 war zerknittertes Papier einfach zu verkaufen, aber jetzt nehmen es viele Recyclingunternehmen und Käufer_innen nicht an oder bezahlen nur sehr wenig dafür.”

 

Eine weitere Herausforderung ist, dass weibliche Müllsammler_innen leicht isoliert werden, denn sie kommen den ganzen Tag mit Abfällen und Unrat in Berührung. Die Mehrheit schaut auf sie herab und reagiert abweisend. In vielen Geschäften, Restaurants und Orten mit Dienstleistungsangeboten werden sie diskriminiert. Was auch daher rührt, dass selbstständige Umweltarbeiter_innen oft nicht von der Sozialversicherung des Landes abgedeckt sind. Diese ermöglicht Gesundheitschecks, Krankenversicherung, Versicherung bei Arbeitsunfällen und weitere Sozialleistungen gemäß der vietnamesischen Arbeitsgesetzgebung. Müllsammler_innen sind aufgrund ihres geringen Einkommens einerseits und der begrenzten Vorteile des freiwilligen Versicherungssystems andererseits nicht immer bereit, für eine freiwillige Sozialversicherung zu bezahlen. So leben sie meist am Rande der Gesellschaft, isoliert und unfreiwillig abgestempelt als Personen, die Schmutz und Infektionskrankheiten ausgesetzt sind.
 

Anerkennung und mehr Raum für Initiativen

Vietnam steht unter den 20 Ländern der Welt mit der größten Menge an Plastikabfällen an vierter Stelle. Rund 730.000 Tonnen Plastikabfälle werden jedes Jahr ins Meer gekippt. Ohne die Bemühungen der selbstorganisierten Umweltarbeiter_innen würde sich keiner um das Abfallmanagement in den Städten kümmern und die Umwelt- und Klimabelastung würde weiter steigen.

Vor diesem Hintergrund überarbeitet Vietnam derzeit sein Sozialversicherungssystem, um mehr informelle Arbeitskräfte zu versichern. Laut Resolution Nr. 28 des 12. Exekutivkomitees der Partei wurde das Ziel gesetzt, dass bis 2025 etwa 45 Prozent aller Arbeitskräfte sozialversichert sein sollen. Bis 2030 soll diese Zahl auf ca. 60 Prozent steigen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine Vorzugsbehandlung für Arbeitskräfte im informellen Sektor notwendig, damit sie sich freiwillig sozialversichern.

In den letzten Jahren haben internationale Organisationen und die vietnamesische Regierung begonnen, die harte Arbeit und den wichtigen gesellschaftlichen Beitrag der Müllsammlerinnen anzuerkennen. Außerdem haben mehrere lokale Akteur_innen Initiativen zur Sensibilisierung und zur Verbesserung des Arbeitsschutzes und der Sozialversicherung für Arbeitskräfte im Abfallsektor und für Müllsammler_innen  gestartet.
 

 

„Das Centre for Adaptive Capacity Building (CAB) führt derzeit viele Maßnahmen zur Reduzierung von Müll in den Gemeinden durch, darunter Schulungen über Arbeitssicherheit und Schutzausrüstung für selbstständige Müllsammlerinnen und Sammler”, so Hoang Nguyen Nhat Linh, Mitarbeiterin des CAB in Da Nang.


Außer Maßnahmen zur Sensibilisierung sind in Hanoi und anderen Provinzen auch ein Müllsammelsystem und feste Netzwerke von Arbeiter_innen notwendig, um das Abfallmanagement über informelle Kanäle effektiver zu machen. Daneben sollte eine Austauschplattform bzw. ein Vertretungsorgan für diese selbstorganisierten Arbeitskräfte geschaffen werden, um ihre Stimme zu stärken und ihren gesellschaftlichen Beitrag sichtbarer zu machen. Sind Müllsammler_innen  erst einmal formell anerkannt, werden sie besser in der Lage sein, ihre Rechte einzufordern und faire Preise zu erzielen.

Kurz gesagt, Frauen spielen eine Schlüsselrolle in der Müllsammlung, Mülltrennung und im Recycling in den Städten. Regierungen und Gemeinden müssen die “Ve Chai” und “Dong Nat” als Berufe und als wichtigen Teil des Personals in der Abfallwirtschaft anerkennen, um dann bei der Entwicklung politischer Maßnahmen geeignete Unterstützungsmechanismen zu schaffen und eine angemessene Anerkennung sicherzustellen. Die politischen Entscheidungsträger_innen benötigen mehr Daten und Belege zu Abfallmanagement, Gender und sozialer Inklusion. So können negative Auswirkungen auf die selbstständigen Arbeitskräfte und andere vulnerable Gruppen in der Umweltpolitik und im Sozialschutz vermieden werden.
 

„Ich wäre sehr dankbar, wenn der Staat sich um uns kümmern und uns eine bessere Versicherung für kostenlose ärztliche Untersuchungen und Behandlungen anbieten würde. Das wäre sehr sinnvoll,” sagt Nguyễn Thị Vinh, Teilzeit-Müllsammlerin in Long Bien, Hanoi.

 

 

Über die Autorin

Trang Nguyen ist Forscherin an der Vietnam Youth Academy, einer von der Ho Chi Minh Communist Youth Union geführten Universität, und ist spezialisiert auf Jugendangelegenheiten. Schwerpunkt ihrer Forschungen sind die Arbeitskompetenzen und -kapazitäten junger Menschen.  

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautorin spiegelt nicht die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.


Der Artikel erschien im Original am 20.02.2024 in englischer Sprache auf asia.fes.de.


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Henning Borchers
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030 26935-7507
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