Friedrichs Bildungsblog

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Kommentar zum Beitrag „Schafft das Gymnasium ab!“

Frau Lehmann kritisiert in ihrem Beitrag das Gymnasium als „Refugium der neuen bürgerlichen Mittelschicht“ und sieht dieses mitverantwortlich für eine Spaltung der Gesellschaft. Der durch die gymnasiale Schulbildung gegangenen Elite spricht sie ein Interesse des Machterhalts bei der Priorisierung des Gymnasiums zu.

Bild: von AK Bildung der Stipendiat_innen der FES

 

Vom Arbeitskreis Bildung der Stipendiat_innen der FES

 

Der Arbeitskreis Bildung der Stipendiat_innen der Friedrich-Ebert-Stiftung trifft sich einmal im Monat zu Friedrichs digitalem Bildungsstammtisch, um aktuelle bildungspolitische Themen zu diskutieren. Dabei werden immer wieder auch Artikel aufgegriffen, die auf Friedrichs Bildungsblog erschienen sind, dieses Mal der Beitrag „Schafft das Gymnasium ab!“ von Anna Lehmann.

Frau Lehmann kritisiert in ihrem Beitrag das Gymnasium als „Refugium der neuen bürgerlichen Mittelschicht“ und sieht dieses mitverantwortlich für eine Spaltung der Gesellschaft. Der durch die gymnasiale Schulbildung gegangenen Elite spricht sie ein Interesse des Machterhalts bei der Priorisierung des Gymnasiums zu. Abschließend kommt sie zu dem Ergebnis, dass eine Schulstrukturveränderung politisch nicht möglich sei und deshalb primär Ressourcen in Ganztagsschulen und Schulen in sozialen Brennpunkten investiert werden sollen, um diese so zu stärken und Anreize zu schaffen, auch Kinder aus Akademikerhaushalten auf diese Schulen zu schicken.

Der Beitrag ist dabei insgesamt sehr knapp gefasst, was dem Umfang des Themas und der mitschwingenden Auseinandersetzungen kaum gerecht wird. Für die politische Nicht-Durchsetzbarkeit verweist Lehmann auf die Debatte in Hamburg. Aus unserer Sicht gibt sie damit das Thema zu früh auf. Viel mehr ließe sich fragen, warum die Veränderungen von Real- und Hauptschulen wiederum funktioniert und relativ wenig Gegenwind erfahren haben. Die Interessenvertretungen hatten hier offensichtlich weniger Macht und gleichsam gibt es weiterhin große Vorurteile gegenüber Gesamtschulen. Die Entscheidung, eigene Kinder auf das Gymnasium zu schicken ist entsprechend des Nutzens der Chancen rational. Die Strukturfrage sollte nicht als Kampf gegen eine spezifische Schulform (und davon gibt es in Deutschland eine Vielzahl) gestellt werden, sondern entsprechend der Entwicklung einer besseren Schule für alle. Dieses bedeutet nicht zwangsweise die Schaffung einer einzigen Form, sondern kann auch Varianten beinhalten.

Abschaffung des Gymnasiums als Chance, aber mit Schwierigkeiten

Innerhalb unserer Diskussionsrunde konnten wir der Forderung der Abschaffung des Gymnasiums aus einer Perspektive der Chancengerechtigkeit grundsätzlich zustimmen. Die Umsetzbarkeit gestaltet sich als schwierig, aber würde durch eine vorrangige Schaffung von Oberstufen an allen Gemeinschaftsschulen leichter fallen. Des Weiteren können wir Frau Lehmanns Idee einer Fokussierung der Mittel auf Schulen mit einem nachweislich höheren Engagement für Chancengerechtigkeit zustimmen. Jedoch sehen wir auch die Vorteile des gegliederten Schulsystems, welches zum Berufsausbildungssystem passt und dessen Folge auch eine verhältnismäßig geringe Jugendarbeitslosigkeit ist. Nach der allgemeinbildenden Schule ist es für die wenigsten Schüler_innen in Deutschland vorbei, es folgen diverse Wege.

Frühe Segregation als eigentliches Problem

Der eigentliche Knackpunkt der Auseinandersetzung ist unserer Meinung nach aber nicht die Strukturfrage, sondern die Verhinderung von Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten durch eine zu früh einsetzende Selektion. Diese findet physisch nach der vierten (oder sechsten) Klasse in einem Alter statt, in dem die Kinder sich noch mitten in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit befinden. Außerdem findet auch eine inhaltliche Selektion statt, die Schüler_innen den Zugang zu manchen Themen verwehrt, nachdem einmal ein bestimmter Schulweg eingeschlagen wurde. Die Schüler_innen sollten älter sein und mehr Autonomie erhalten, um über ihren späteren Lebens- und Berufsweg mitentscheiden zu können. Der spätere Wechsel der Schulform ist zwar theoretisch möglich, aber praktisch mit großen logistischen und sozialen Hürden verbunden.

Die Selektion ist allerdings keine reine Frage der Schule. Sie ist ebenfalls Stadt- und Sozialpolitik. Hierfür müssen wir uns nur anschauen, in welchen Gegenden Gymnasien und Privatschulen entstehen und wer an ihrer Gründung beteiligt ist. Dass immer mehr Kinder und Jugendliche an Gymnasien sind, liegt nicht daran, dass die Schüler_innen immer klüger werden, nur mehr. Dahingegen werden die übrigen Schulen entsprechend der Ballungseffekte unter Umständen zu „Resteschulen“ oder zumindest als solche tituliert und behandelt. Dies sollte geändert werden.

Das Problem liegt deshalb unserer Meinung nach nicht an der Schulform des Gymnasiums an sich, denn das Problem zieht sich regelrecht durch alle Bildungsbereiche, weshalb wir nicht bei der Abschaffung des Gymnasiums, sondern beim Lösen der Kernprobleme, die sich an der Entwicklung der Schulform des Gymnasiums zeigen, ansetzen würden. Die Strukturfrage (in ihrer reinen Form der Konkurrenz zwischen Modellen) steht dahinter zurück und spaltet, bevor ein gemeinsames Ziel klar ist.

Kopplung von sozialer Herkunft und Bildung

Lassen sich die Missstände dadurch verändern, dass das Gymnasium abgeschafft wird? Ist dies der Kunstgriff? Auch Bildung allein kann nicht alles lösen. Die Probleme der gesellschaftlichen Segregation lassen sich nicht allein durch ein verändertes Bildungssystem lösen. Die soziale Herkunft und die Kopplung der Chancen an diese bleibt bestehen. Das Schulsystem darf diese Kopplung aber nicht weiter fördern und verstärken. Ja, Lehrer_innenmangel ist auch ein riesiges Problem. Aber wenn Frau Lehmann vorschlägt die zukünftigen Lehrer_innen jeweils dorthin zu schicken, wo sie gerade gebraucht werden verkennt sie, dass dies nicht zu Ausbildung an den Universitäten passt. Die Gesamtschule allein ist auch keine Lösung, denn wenn Kinder nicht richtig lesen können, ist auch schon an der „Gesamtschule“ Grundschule etwas schiefgelaufen. Es gilt definitiv die Privilegien des Gymnasiums abzuschaffen ebenso wie die des Gymnasiallehramts (Gehalt, Qualität, Unterstützung, …).

Das Kernproblem der sozialen Ungleichheit

Wenn unser Ziel also nicht die Abschaffung des Gymnasiums aus Prinzip ist, sondern die Verbindung von Chancengerechtigkeit und Selektion aufzubrechen, dann kann das Ergebnis vielfältige Wege beinhalten. Schaut man sich jedoch die Reformbestrebungen genauer an, wird zusätzlich deutlich, dass das Thema Schulreform per se ein akademisches ist. Auch Elterninitiativen repräsentieren häufig die von Frau Lehmann so bezeichnete bürgerliche Mittel- oder Oberschicht. Wir fragen uns also, wie wir jene Personen politisch motiviert bekommen, die davon maßgeblich profitieren würden. Es gilt, die Erkenntnisse und das Gespür für die soziale Ungleichheit unseres Bildungssystems breiter zu tragen und Empowerment sowie das Finden einer politischen Stimme für alle Interessen und insbesondere für die Schüler_innen selbst zu fördern.

 

Autor_innen des Beitrags sind Stipendiat_innen des Arbeitskreises Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung, die in „Friedrichs digitalem Bildungsstammtisch“ aktuelle bildungspolitische Themen diskutieren.



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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Kommentare

  • D.Hunecke,
    Wenn das Ziel politischen Handelns wirklich die Chancengleichheit unserer Kinder wäre, dann müsste massiv in deren frühkindliche Bildung investiert werden und nicht immer eine ideologisch motivierte Strukturdebatte über Schulformen geführt werden. Kinder aus bildungsfernen Familien in der Zeit ihrer entscheidenden Prägungen zu unterstützen, wäre aber sehr teuer… Die Familien bräuchten eine engmaschige Betreuung durch Familienberater, die Kinder müssten in Kindergärten von gut ausgebildeten und gut bezahlten Erziehern in ihrer sprachlichen und musisch-künstlerischen und sozialen Entwicklung gefördert werden, um in gleicher Weise ihre Talente entwickeln zu können. Aber sind die Gesellschaft und auch die Politik bereit, dies zu finanzieren, oder sollen die Schulen weiterhin möglichst kostengünstig alle gesellschaftlichen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte reparieren?

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