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Recht auf schulische Bildung: Die Schulschließungs-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist wegweisend

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. November 2021 ist wegweisend. Die Anerkennung eines Rechts auf schulische Bildung geht weit über die Frage pandemiebedingter Schulschließungen hinaus. Der Beitrag enthält eine erste Einschätzung zu den Entscheidungsgründen und den weiteren Konsequenzen für das Bildungsrecht.

Bild: Michael Wrase von David Ausserhofer

Von Michael Wrase

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. November 2021 ist wegweisend. Die Anerkennung eines Rechts auf schulische Bildung geht weit über die Frage pandemiebedingter Schulschließungen hinaus. Der Beitrag enthält eine erste Einschätzung zu den Entscheidungsgründen und den weiteren Konsequenzen für das Bildungsrecht.*

Schulschließungen als schwerwiegender Grundrechtseingriff

Während die Ausgangssperren nach der „Bundesnotbremse“ unter Verfassungsrechtler_innen kontrovers diskutiert wurden, wurden die Schulschließungen – auch wenn sie von vielen Schüler_innen und Eltern als gravierend empfunden wurden (vgl. Fickermann/Edelstein 2020) – kaum problematisiert. Nur wenig haben – wie der Verfasser (u.a. hier) – darauf hingewiesen, dass es sich um erhebliche Eingriffe in Grund- und Menschenrechte handelt. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat diesen (Gesamt-)Eingriff nun als „schwerwiegend“ eingestuft (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 – 1 BvR 971/21, 1069/21, u.a. Rn. 153, 199).

Genau berechnet das Gericht die Ausfallzeiten: „Insgesamt summierten sich die vollständigen und partiellen Schulschließungen bis Anfang Juni 2021 auf 173 Tage. … Mehrere Millionen Kinder und Jugendliche haben … vier oder fünf Monate keine Schule in Präsenz besucht“ (Rn. 140). Daraus resultierten nach den Feststellungen des Gerichts bei etlichen Kindern und Jugendlichen, vor allem solchen aus sozial benachteiligten Familien, nicht nur erhebliche Lernrückstände (Rn. 143, 146). Übereinstimmend hätten Sachverständige darauf hingewiesen, „dass mit dem Wegfall des Präsenzschulbetriebs ein wichtiger Sozialisationsraum für Kinder und Jugendliche entfallen sei“ (Rn. 144). Besonders schwer betroffen seien Grundschüler_innen, „weil bei ihnen eine erfolgreiche Vermittlung von Bildung von der direkten Möglichkeit direkter Interaktion mit den Lehrern abhängt und Lernrückstände den weiteren Bildungserfolg nachhaltig beeinflussen können“ (Rn. 195).

Im Ergebnis sieht das Gericht die Belastungen der Schüler_innen zwar aufgrund des dynamischen Infektionsgeschehens, des (damals) fehlenden Impfschutzes und der ‚Abmilderung‘ durch Notbetreuung und Distanzunterricht als „noch“ gerechtfertigt an (Rn. 199). Die Entscheidung stellt jedoch alles andere als einen Freifahrtsschein für zukünftige Schulschließungen aus, sondern knüpft diese an hohe Anforderungen (dazu Johanna Wolff und Heiko Sauer). Sie dürften zukünftig nur als eines der letzten Mittel der Pandemiebekämpfung bei lokal sehr hohen Inzidenzen, jahrgangsgestuft (mit besonderer Priorität für den Primarbereich) und nur mit klaren zeitlichen Befristungen in Betracht kommen – und nur dann, wenn ein effektiver (digitaler) Distanzunterricht gesichert ist. 

Die Anerkennung eines Rechts auf Schulbildung

Doch die Entscheidung geht weit über die Frage der Schulschließungen hinaus. Das Bundesverfassungsgericht erkennt erstmals ein eigenes Recht von jungen Menschen auf Bildung an. Es leitet diesen aus dem Persönlichkeitsrecht ab: „… auch Kinder selbst haben ein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitetes, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft“ (Rn. 46). Dieses Recht der Kinder- und Jugendlichen enthalte auch ein Recht gegen den Staat, ihre Persönlichkeitsentwicklung „durch schulische Bildung gemäß dem Bildungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung)“ (Rn. 47). Der Staat müsse dafür ein Schulsystem schaffen und unterhalten, „das allen Kindern und Jugendlichen gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet“ (Rn. 48).

Dieses Recht steht, so hebt das Gericht hervor, im Einklang mit dem europa- und völkerrechtlich anerkannten Recht auf Bildung, wie es insbesondere in Art. 13 des Internationalen Sozialpaktes, Art. 28 der UN-Kinderrechtskonvention, Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention, Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention sowie in Art. 14 der EU-Grundrechtecharta enthalten ist (Rn. 66 f.). Es wird klar, dass Karlsruhe nicht hinter den international anerkannten Standards zurückbleiben möchte. Das wird auch in den Passagen deutlich, wo sich das Gericht unmittelbar auf Stellungnahmen des UN-Sozial- und Kinderrechtsausschusses bezieht, um einen Anspruch auf effektiven Distanzunterricht bei länger andauernden Schulschließungen als „unverzichtbaren Mindeststandard“ des Rechts auf schulische Bildung zu begründen (Rn. 172).  

Die verschiedenen Gewährleistungsdimensionen

Im grundsätzlichen Teil seines Beschlusses leitet das Bundesverfassungsgericht aus dem Recht auf schulische Bildung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG unterschiedliche „Gewährleistungsdimensionen“, also konkret einforderbare Inhalte des Rechts ab. Dabei betont es gleich zu Beginn, das Recht auf schulische Bildung enthalte keinen „originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen“ (Rn. 51). Das ist nicht überraschend. Mit Blick auf bildungspolitische Entscheidungen billigt das Bundesverfassungsgericht der Gesetzgebung traditionell einen „weiten“ bildungspolitischen Spielraum zu. Dieser umfasst neben der Struktur und Organisation des Schulsystems, die inhaltlich-didaktische Ausgestaltung, Zugangs- und Übergangsentscheidungen zwischen den Bildungsgängen vor allem auch die Festlegung und Ausgestaltung von Bildungs- und Erziehungszielen (Rn. 54).

Deutlich erkennbar wird, dass das Bundesverfassungsgericht nicht zu einer Arena für Streitfragen der Schul- und Bildungspolitik werden möchte. So könnten unter Berufung auf das Grundrecht von den Schülerinnen und Schülern weder neue Schulstrukturen verlangt, noch bestehende Strukturen gegen Änderungen verteidigt werden (Rn. 52). Wichtig ist dem Gericht: Aus dem Recht auf schulische Bildung können „keine individuellen Ansprüche auf die wunschgemäße Gestaltung von Schule abgeleitet werden“ (Rn. 55). Das wird manche enttäuschen, die hoffen, zukünftig eine bessere oder gerechtere Bildungspolitik in Karlsruhe einklagen zu können.

Die Leistungsdimension: der „unverzichtbare Mindeststandard schulischer Bildung“

Das Verfassungsgericht sieht mit Blick auf die Leistungsdimension jedenfalls nur die „unverzichtbaren Mindeststandards schulischer Bildung“ (Rn. 54, 169) geschützt und stellt diese zusätzlich unter „einen Vorbehalt des Möglichen“ (Rn. 56), der aus Sicht des Gerichts auch die Entscheidung umfasst, „ob und inwieweit … die nur begrenzt zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel verwendet werden sollen“ (Rn. 56). Dass der Politik damit kein unbegrenzter Spielraum zugestanden werden soll, wird spätestens an der Stelle deutlich, wo das Gericht bei Schulschließungen einen „Anspruch der einzelnen Schülerinnen und Schüler auf Durchführung von Distanzunterricht“ als einklagbares unverzichtbares Minimum schulischer Bildung anerkennt (Rn. 173) und für zukünftige Schulschließungen deutlich stärkere Anstrengungen, vor allem bei der Digitalisierung, verlangt (Rn. 189-191). Dies wird in eingehender Auseinandersetzung mit Stellungnahmen von wissenschaftlichen Sachverständigen und Verbänden überzeugend begründet. Insofern ist zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht auch in Zukunft bei der Bestimmung des „unverzichtbaren Mindeststandards“ vor allem auch auf Einschätzungen der Bildungsforschung und der Erziehungswissenschaften zurückgreifen wird.  

Die Teilhabedimension: das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zum Bildungssystem

Als sogenannte Teilhabedimension erkennt das Bundesverfassungsgericht ein Recht auf „gleichen Zugang“ zu schulischer Bildung an. Dieses sei verletzt, wenn bestehende Zugangsvoraussetzungen „willkürlich oder diskriminierend ausgestaltet oder angewendet werden“ (Rn. 60). Ein solches Recht auf Nicht-Diskriminierung hat für verschiedene Bereiche des Bildungsrechts hohe Relevanz. Das wird deutlich, wenn man sich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur ethnischen Segregation in Sonderschulen oder zur fehlenden Bereitstellung von angemessenen Vorkehrungen für Schüler_innen mit Behinderungen – z.B. eine benötigte Assistenz beim Schulbesuch – anschaut. Das Bundesverfassungsgericht verweist hier unmittelbar auf Art. 24 Abs. 2 UN-BRK und stellt fest, dass dieser „eine Diskriminierung behinderter Menschen beim Zugang zur Schule verbietet, … wobei … angemessene Vorkehrungen zu treffen sind, um behinderten Menschen den Zugang zur Schule zu ermöglichen“ (Rn. 69).

Auch der Verweis auf die UN-Antirassismuskonvention ist ein wichtiger Referenzpunkt. Bedeutsam ist das beispielsweise für asylsuchende Kinder und Jugendliche, die in Erstaufnahmeeinrichtungen oder AnKER-Zentren untergebracht sind und dort häufig nur Bildungsangebote unterhalb einer adäquaten Schulbildung erhalten. 

Fazit und Ausblick

Auch wenn die weitere Entwicklung der Rechtsprechung abzuwarten bleibt, kann die Schulschließungs-Entscheidung als ein Meilenstein für das Bildungsverfassungsrecht bezeichnet werden. Kinder und Jugendliche haben – unabhängig von ihren Eltern – ein eigenes Recht auf schulische Bildung. Sie können damit zumindest einen „unverzichtbaren Mindeststandard“ an Bildungsangeboten und einen diskriminierungsfreien Zugang zu schulischen Bildungseinrichtungen einklagen. Darüber hinaus können sie sich gegen belastende Eingriffe in dieses Recht, wie sie Schulschließungen darstellen, zur Wehr setzen; das Bundesverfassungsgericht stellt hier für die (nahe) Zukunft deutlich Hürden auf.

Zwar mögen manche Hoffnungen auf zukünftige ‚bildungspolitische Weichenstellungen‘ aus Karlsruhe enttäuscht werden. Dennoch hat der Beschluss das Potenzial, den rechtlichen ‚Kompass‘ des Bildungswesens in Deutschland neu auszurichten.

 

Michael Wrase ist Professor für Öffentliches Recht mit den Schwerpunkten Sozial- und Bildungsrecht an der Stiftung Universität Hildesheim und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

 

* Siehe auch meinen Beitrag auf dem Verfassungsblog: https://verfassungsblog.de/ein-beschluss-mit-weitreichenden-folgen/



Über diesen Bildungsblog

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

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