Friedrichs Bildungsblog

FES-Kommission „Lehren aus der Pandemie: Gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendlichen sichern“

Die Corona-Pandemie hat auf kaum einen Bereich so massive Auswirkungen wie auf Schule und Bildung. Die Einschränkungen des Schulbetriebs stellen eine immense Herausforderung für alle am Schulbetrieb Beteiligten und Familien dar.

Bild: Corona Papier von Johannes Beck

 

Die Corona-Pandemie hat auf kaum einen Bereich so massive Auswirkungen wie auf Schule und Bildung. Die Einschränkungen des Schulbetriebs stellen eine immense Herausforderung für alle am Schulbetrieb Beteiligten und Familien dar. In ganz besonderer Weise gilt dies für ohnehin sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat daher im November 2020 eine Kommission aus Expertinnen und Experten eingesetzt. Ihr Auftrag war es, Empfehlungen zu erarbeiten, wie Bildungsbenachteiligungen angesichts der Herausforderungen der Corona-Pandemie kurzfristig und perspektivisch vermieden werden können. 22 Expert_innen aus Bildungswissenschaften, Didaktik, Schulverwaltung und kommunalen Vertretungen, Schulleiter_innen, Vertreter_innen von Schüler_innen und Eltern haben Empfehlungen erstellt, deren Zusammenfassung hier dokumentiert ist:

 

Was kurzfristig getan werden sollte

 

Orientierung und Sicherheit für die Schulen: Bildungspolitik und Schuladministration sollten für das zweite Schulhalbjahr 2020/21 ein Gesamtkonzept mit klaren Regelungen bei gleichzeitig hinreichendem Gestaltungsspielraum für die Schulen vorlegen. Dies sollte angesichts des anhaltend hohen Infektionsgeschehens und neuer Virusmutanten auch die Möglichkeit länger andauernder Phasen des Wechsel- oder Distanzunterrichts berücksichtigen. Handlungsleitend sollten insbesondere der Ausgleich von Benachteiligung und die Kompensation von Lernrückständen zur Sicherung von Mindeststandards sein.

Verlässlichkeit und Planbarkeit für Schule und Elternhaus: Entscheidungen über vollständige oder teilweise Schulschließungen sollten auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis sowie länderübergreifend vereinbarter, eindeutiger und transparenter Kriterien getroffen und bundesweit einheitlich umgesetzt werden. Empfohlen wird die Orientierung an zuvor festgesetzten Inzidenzwerten.

Berücksichtigung von Benachteiligung: Sofern eine vollständige Öffnung von Schulen nicht möglich ist, sollten Kinder und Jugendliche mit sozialen Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und erhöhtem Betreuungsbedarf vorrangig berücksichtigt werden - neben Grundschüler_innen und Schüler_innen aus Abschlussjahrgängen.

Abbau von Disparitäten im Zugang zu Lerntechnologien und Lernräumen: Lernendgeräte für alle Schüler_innen sowie eine funktionierende, leistungsfähige schulische IT-Infrastruktur sollten alsbald bereitgestellt und alle Lehrkräfte dazu befähigt werden, digitale Formen des Lehrens und Lernens kompetent zu gestalten. Dringlich geboten ist die Bereitstellung datenschutzkonformer Software, von Bildungsmedien, deren Urheberrechte geklärt sind und von Ressourcen für die Administration der Endgeräte. Die Erfahrung der letzten Wochen hat zudem gezeigt, dass leistungsfähige, auch bei starker Nutzung funktionierende Lernplattformen zügig bereitgestellt werden müssen. Die Mittel des Digitalpakts sowie der von Bund und Ländern beschlossenen Sonderprogramme sollten beschleunigt genutzt werden.

Feste Strukturen: Gerade sozial benachteiligte Schüler_innen benötigen ebenso wie jene mit sonder-pädagogischem Förderbedarf in Phasen von Wechsel- und Fernunterricht verbindliche Wochen- und Stundenpläne sowie eine feste Ansprechperson, die kontinuierlich - wenn möglich täglich - persönlichen Kontakt hält. Längere Phasen fehlender schulischer Präsenz sollten sofern möglich vermieden, das tageweise Wechselmodell dem wochenweisen vorgezogen werden. Schüler_innen mit verschärften Belastungen sollten in stabilen Kleingruppen von bis zu vier Kindern täglich beim Fernunterricht durch Studierende oder pädagogische Fachkräfte betreut werden können.

Gestaltung von Wechselunterricht: Die Erarbeitung neuer Lerninhalte, die Förderung von Strategien der Motivation und Selbstregulation sowie die Vor- und Nachbereitung häuslichen Lernens sollten im Präsenzunterricht, die Übung und Vertiefung des Gelernten mit Hilfe klar strukturierter Aufgaben zu Hause erfolgen. Dies ist für leistungsschwächere Schüler_innen ebenso von besonderer Bedeutung wie ein regelmäßiges Feedback durch die Lehrkräfte.

Inhaltliche Schwerpunktsetzungen: Um trotz reduzierter Lernzeiten den Qualitätsanspruch eines kompetenzorientierten Unterrichts aufrecht zu erhalten und Schüler_innen gezielt fördern zu können, sollten die Länder für das zweite Schulhalbjahr 2020/21 und ggfs. auch für das Schuljahr 2021/22 inhaltliche Schwerpunktsetzungen und Priorisierungen vornehmen.

Stärkung der diagnosebasierten Förderung: Zum Abbau von Bildungsbenachteiligung sollten den Schulen kurzfristig bewährte diagnostische Instrumente und Assessmentverfahren zur Einschätzung der Lernstände insbesondere in den Basiskompetenzen zur Verfügung gestellt und umfassende Fördermaterialien auf geschützten Lernplattformen allen Lehrpersonen bereitgestellt werden.

Generierung zusätzlicher Lernzeit und verbindlicher Förderangebote: Für Schüler_innen mit relevanten Lernrückständen und Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sollten die Schulen zumindest in Kern- oder Prüfungsfächern zusätzliche Lernzeiten (z.B. im Ganztag) generieren und verbindliche Förderangebote einrichten. Kurzfristig können auch qualitativ hochwertige außerschulische Angebote von etablierten Bildungsträgern genutzt und in Kooperation mit den Schulen durchgeführt werden. Diese sollten für die Familien kostenneutral, für Schüler_innen verbindlich sein.

Nutzung des Präsenzunterrichts als gemeinsame Lernzeit: Zeiten schulischer Präsenz sollten aktuell vor allem zum gemeinsamen Lernen genutzt werden. Leistungsfeststellungen (Klassenarbeiten, Klausuren etc.) sollten reduziert werden können, wenn Präsenzunterricht in großem Umfang ausfällt. Themen, die ausschließlich im Fernunterricht erarbeitet wurden, sollten zumindest in der Primar- und Sekundarstufe I nicht Gegenstand der Leistungsfeststellung sein. Die Leistungsbewertung sollte pandemiebedingt schwierige Lernbedingungen angemessen berücksichtigen. Am Ende des Schuljahres 2020/21 sollten Wiederholungen von Schuljahren („Sitzenbleiben“) vermieden und nicht auf die Höchstverweildauer in der Schule angerechnet werden.

Sicherung fairer Prüfungschancen: Geprüft werden darf nur, was im Unterricht erarbeitet wurde. Zu Beginn des zweiten Schulhalbjahres 2020/21 sollten die aktuellen Lernstände der Abschlussjahrgänge erhoben und Regelungen für die Gestaltung der diesjährigen Abschlussprüfungen getroffen sein. Prüfungstermine sollten verschoben, die Anzahl der zur Auswahl stehenden Prüfungsaufgaben erhöht werden. Falls das Infektionsgeschehen über einen langen Zeitraum Präsenz- oder Wechselunterricht weiterhin nicht zulässt, sollte für Abschlussprüfungen zum Ersten und Mittleren Schulabschluss ein Verzicht auf schriftliche Prüfungen erwogen werden.

 

Was perspektivisch getan werden sollte

 

Bildungsauftrag der Kindertagesstätten stärken: Zum Abbau von Bildungsbenachteiligung sollte der Bildungsauftrag der Kindertagesstätten stärker auf die Förderung und Diagnose früher fachlicher - insbesondere sprachlicher und mathematischer - und anderer lernrelevanter Fähigkeiten sowie auf eine diesbezügliche Eingangsdiagnostik im Vorfeld des Grundschulbesuchs ausgerichtet sein. Erzieher_innen sollten entsprechend qualifiziert und kontinuierlich fortgebildet werden.

Ungleiches ungleich behandeln: Schulen in besonders herausfordernden Lagen sollten mit Hilfe geeigneter Anreizsysteme oder ggfs. durch eine verbindliche Lenkung des Personaleinsatzes personell besser ausgestattet werden. Mittel aus Bundesprogrammen, die auf den Abbau von Benachteiligung zielen, sollten bedarfsgerechter verteilt und daher geprüft werden, inwiefern der auf Steuereinkommen und Einwohnerzahl der Länder basierende „Königsteiner Schlüssel“ weiterhin alleinige Grundlage für Mittelvergaben sein sollte.

Digitalisierung umfassend denken: Zur Digitalisierung der Schulen gehören Konzepte zu ihrer dauerhaften Ausfinanzierung. Bund, Länder und Kommunen sind aufgefordert, entsprechende Vereinbarungen zu erzielen. Zur Entwicklung, Bereitstellung und Qualitätssicherung digitaler Lehr-Lernmaterialien sollten die Länder eine gemeinsame Strategie entwickeln und für deren Umsetzung Meilensteine und Zeitpläne festlegen.

Grundbildung verbindlich definieren: Im Zusammenhang mit der Überarbeitung der Bildungsstandards sollten neben Regelstandards länderüber-greifend kriteriale Mindeststandards entwickelt werden. Die ländereigenen Bildungspläne sollten darauf hin mit dem Ziel der Festlegung eines bundesweit einheitlichen inhaltlichen „Kerns“ der Fächer überarbeitet werden.

Frühzeitig fördern statt wiederholen: Wiederholungen von Schuljahren („Sitzenbleiben“) sollten auch perspektivisch vermieden werden. Stattdessen sollte ein Anspruch auf Förderung bei relevanten Lernrückständen etabliert werden. In diesem Kontext sollte das Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes bzgl. Wirksamkeit evaluiert und ggfs. angepasst werden.

Diagnose und Förderung als Einheit denken: Lernstände sollten kontinuierlich erfasst werden müssen und auf ihrer Basis regelmäßig individualisierte Lern- und Entwicklungsgespräche geführt werden. Länderübergreifend sollten dazu in den Kernfächern qualitativ hochwertige, einfach handhabbare, digital anwendbare Diagnoseinstrumente entwickelt werden. Diagnose- und Fördermaterial sollte auf einer für Lehrkräfte leicht zugänglichen Plattform bereitgestellt werden.

Ganztagsschulen konsequenter zur Förderung von Basiskompetenzen nutzen: In Ganztagsschulen sollten kompensatorische Fördermaßnahmen fest etabliert und die Kooperation von Schule und Jugendhilfe gestärkt werden. Die geplante Einführung des Rechtsanspruches auf Ganztagsbetreuung im Grundschulbereich sollte mit der Festlegung verbindlicher Qualitätskriterien verbunden werden.

Beratungs- und Unterstützungsstrukturen etablieren: Schüler_innen mit psychosozialen Belastungen, einer Behinderung oder sonderpädagogischem Förderbedarf und deren Eltern sollte niedrigschwellige Beratung angeboten werden. Dringlich geboten erscheint dabei der Ausbau schulpsychologischer und sonderpädagogischer Beratungs- und Unterstützungssysteme in den Ländern und Kommunen.

Lernpatenschaften fest etablieren: Mittelfristig und langfristig sollten die Zusammenarbeit mit Eltern und die Kooperation mit anderen Akteur_innen im Sinne der festen Etablierung von Lernpartnerschaften weiterentwickelt werden.

Lehrkräftefortbildung reformieren: Empfohlen wird eine grundlegende Reform der Lehrkräftefortbildung. Erforderlich sind wirksame Strategien der Bedarfsermittlung, die Festlegung verbindlich zu nutzender Fortbildungsangebote, die Implementation von Qualitätsstandards. Zudem sollte der Nachweis bestimmter Kompetenzen verpflichtend eingefordert werden. Langfristig sollten Theorie-Praxis-Verbünde zwischen Schule und Wissenschaft aufgebaut werden.

 

Die Gesamtfassung der Empfehlungen findet sich unter https://www.fes.de/themenportal-bildung-arbeit-digitalisierung/bildung/lehren-aus-der-pandemie



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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