Referat Lateinamerika und Karibik

Ökonomisches Rätselraten auf Kuba angesichts der Pandemie

Die Corona-Pandemie hat zahlreiche negative Auswirkungen auf die kubanische Wirtschaft. Doch Privatwirtschaft und Genossenschaftssektor zeichnen sich heute durch Vielfalt und Spezialisierung aus.

Bild: Covid 19 auf Kuba - Maifeiertag von AP Images

Die Corona-Pandemie hat zahlreiche negative Auswirkungen auf die kubanische Wirtschaft. Doch im Gegensatz zu den düsteren Zeiten in den 1990er Jahre zeichnen sich Privatwirtschaft und Genossenschaftssektor heute durch Vielfalt und Spezialisierung aus. Um den Reformkurs fortsetzen zu können, muss sich das Land mit seinem heterogenen Sozialgefüge versöhnen. So kann es das unternehmerische Potenzial seiner Bevölkerung entfesseln. Die andere Herausforderung ist die Anpassung des veralteten kubanischen Sozialsystems an die neue Wirklichkeit.

Die durch das Coronavirus verursachte gesundheitliche Notlage wirkt sich auch auf die Wirtschaft aller Länder aus. Ihre Folgen sind aber nicht überall gleich. Obwohl dies für alle Entwicklungsländer gilt, ist die kubanische Wirtschaft in besonderem Maße von der Devisenverfügbarkeit abhängig, da diese für den Import ausschlaggebend ist. Die Beschaffung im Ausland ist für die Aufrechterhaltung des Konsums und der Produktion von zentraler Bedeutung. Eine Krise dieses Ausmaßes kann die ohnehin schon prekäre Zahlungsbilanz des Inselstaats also nur verschlechtern.

Der Schock wird heftig ausfallen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert in den Industrieländern einen Rückgang des BIP um 6,1 Prozent. Die Welthandelsorganisation (WTO) geht von einem Rückgang des internationalen Handels um bis zu ein Drittel aus. Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) prognostiziert für die Region einen Produktionsrückgang in Höhe von 5,6 Prozent. Diese Zahlen sind die schlechtesten seit der Rezession von 2009. Was die einzelnen Wirtschaftszweige angeht, sind der Tourismus und die Luftfahrtbranche mit am stärksten betroffen. Die Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) erwartet einen starken Rückgang des Reiseaufkommens. Gegenwärtig plant die Europäische Union l ihre Gemeinschaftsgrenzen noch bis September geschlossen zu halten. Die besonders stark vom Tourismussektor abhängigen Länder wird es deshalb besonders hart treffen. Dazu zählen auch die Karibik und natürlich Kuba.

Die wirtschaftlichen Folgen

Die Produktionstätigkeit der Insel verlangsamt sich schon seit 2016 spürbar. Das Wirtschaftswachstum ist zwischen 2016 und 2019 verglichen mit den Jahren 2010 bis 2015 um die Hälfte geschrumpft. Verantwortlich dafür sind unter anderem die Wirtschaftskrise in Venezuela, die Kündigung medizinischer Dienstleistungsverträgen mit Brasilien, das Ende des Aufschwungs im internationalen Tourismus, die Folgen der neuen US-amerikanischen Sanktionen und die inneren Widersprüche in den Wirtschaftsreformen des Landes. Welche Bedeutung diese Faktoren genau haben, ist in Kuba noch immer Gegenstand einer großen Debatte. Für die Durchschnittsbürger_innen werden die Wirtschaftsprobleme am deutlichsten anhand der zunehmenden Knappheit von Produkten aller Art sichtbar, darunter auch Artikel des täglichen Bedarfs wie Nahrungsmittel, Medikamente und Kraftstoff. Diese Effekte sind bereits seit Ende Dezember 2018 spürbar. Die Behörden haben deshalb schon im Sommer 2016 Energiesparmaßnahmen eingeführt.

Unter den wichtigsten Handelspartnern Kubas werden für das Jahr 2020 nur für China positive Wachstumszahlen von 1,2 Prozent prognostiziert. Venezuela und Spanien (der wichtigste bzw. viertwichtigste Handelspartner) zählen zu den am stärksten betroffenen Ländern überhaupt. Die CEPAL geht davon aus, dass das kubanische BIP um 3,7 Prozent schrumpfen wird. Diese Zahl wird Mitte des Jahres mit Sicherheit noch geändert werden. Die Lage ist kompliziert, wenngleich eine Rückkehr zu der berühmt-berüchtigten Sonderperiode Anfang der 1990er Jahre eher unwahrscheinlich ist. Die Produktionsstruktur ist heute vielfältiger, und die Wirtschaft ist stärker als früher mit dem Rest der Welt vernetzt. Die Privathaushalte sind bei der Deckung ihres Grundbedarfs nicht mehr so stark vom Staat abhängig. Denn ein Gutteil ihrer Einnahmen hängt von Geldsendungen, ausländischen Besuchern und Auslandsgeschäften ab. Die Insel ist also widerstandsfähiger geworden, während ihre Bewohner zugleich weniger Toleranz aufbringen, wenn Waren knapp werden.

Die Auswirkungen sind nun auf mehrere Weisen zu spüren. Der Konjunktureinbruch in den wichtigsten Wirtschaftszentren drückt die Auslandsnachfrage. Eine Besonderheit der kubanischen Wirtschaftsstruktur besteht darin, dass zwei Drittel der gesamten Ausfuhraktivität mit Gesundheit und Personenverkehr zu tun haben (medizinische Dienstleistungen, Arzneimittel, Tourismus). Der Nickelabsatz könnte wegen der gesunkenen Investitionen und der geringeren Bautätigkeit schweren Schaden nehmen. Metall und Zucker leiden ohnehin schon unter niedrigen Preisen, die nun sogar noch weiter sinken könnten. Auf den ersten Blick erscheint der niedrige Ölpreis für einen Nettoimporteur wie Kuba zwar günstig; nach einer genauen Analyse muss man diese Einschätzung jedoch relativieren. Einige der engsten Handelspartner Kubas, darunter Venezuela, Angola, Algerien, Katar und Russland, sind sehr stark vom Virus betroffen, was sich negativ auf die Handelstätigkeit und Bonität dieser Länder auswirken könnte.

Angesichts der aktuellen Lage ist die Perspektive bei Arzneimitteln positiver. Die große Unbekannte bilden die medizinischen Dienstleistungen, da noch nicht absehbar ist, wie genau Kuba die gesundheitliche Notlage »monetarisieren« kann. Das Modell des Exports von Gesundheitsdienstleistungen durch die Entsendung medizinischen Personals hat auf dem venezolanischen Markt seit 2005 Fahrt aufgenommen. Seit jeher beruht es auf zwischenstaatlichen Abkommen, die oftmals von der politischen Nähe zwischen den jeweiligen Regierungen begünstigt werden. In den letzten Jahren ist dies mehrfach zum Gegenstand von Kritik geworden, wenngleich diese nicht immer denselben Motiven folgt. Man kann jedenfalls auch ideologische Ursachen für derartige verleumderische Behauptungen erkennen, zumal sie eine der Haupteinnahmequellen des Landes betreffen.

Der Knackpunkt ist die Art und Weise, wie das entsandte Fachpersonal bezahlt wird. So geht mehr als die Hälfte ihres gesamten Honorars an den kubanischen Staat. Eine Untersuchung des Themas erfordert eine umfassende Betrachtung der Bedingungen, unter denen die Dienstleistungen erbracht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Hochschulbildung aus dem staatlichen Haushalt und somit von der gesamten Gesellschaft finanziert wird. Höher entwickelte Wohlfahrtsstaaten besteuern Gehälter meist relativ hoch, in Ländern wie Deutschland sogar mit bis zu 50 Prozent. Da Kuba bei der Erbringung medizinischer Dienstleistungen somit einen Wettbewerbsvorteil besitzt, sollte die Zukunft dieses Modells, das von der Verfügbarkeit und Motivation des entsprechenden Personals abhängt, besonders viel Aufmerksamkeit bekommen. Sollte die Corona-Pandemie langfristig zu einer Erhöhung der Gesundheitsausgaben führen und medizinisches Personal zugleich knapp sein, könnte sich Kuba so eine Marktnische erschließen. In jedem Fall macht die Durchdringung der besonders lukrativen und stabilen Märkte eine Anpassung des Geschäftsmodells und der Zugangsvoraussetzungen für das Personal erforderlich.

Auch der Tourismus ist für den Inselstaat sowie für viele Privathaushalte und kleine Betriebe von grundlegender Bedeutung. Sollten die Grenzen weiterhin geschlossen bleiben, stellt dies eine große Gefahr für sie dar. Das gilt ebenso bei möglichen längerfristigen Veränderungen im Reiseverhalten. Jeden Monat gehen auf diese Weise 140 Millionen Dollar verloren. Doch schon vor Februar waren die Besucherzahlen zurückgegangen. Und obwohl die Auslandsinvestitionen nicht wie erhofft angestiegen sind und die Sanktionen der USA die Risiken für den Tourismussektor weiter verschärft haben, stellt die Verschlechterung der internationalen Finanzlage eine völlig neue Herausforderung dar. Es steht zu hoffen, dass die kubanischen Behörden bei ihren Gläubigern um zusätzliche Erleichterungen nachsuchen. Vor der Epidemie hatte Kuba mit dem Pariser Club bereits einen Zahlungsaufschub für einen Teil seiner Verbindlichkeiten aus dem Jahr 2019 ausgehandelt.

Bislang wurde stets angenommen, dass die Exilkubaner ihren Angehörigen in der Heimat in besonderer Weise verbunden seien. Doch die grassierende Arbeitslosigkeit in den USA, wo die überwiegende Mehrheit der kubanischen Diaspora lebt, wird sich unzweifelhaft auf dieses Verhältnis auswirken. So geht die Havana Consulting Group von einem Rückgang des Zahlungsflusses um 20 bis 30 Prozent aus. Die informellen Kanäle sind derzeit verschlossen. Ein Nebeneffekt ist, dass die Stärkung der offiziellen Kanäle zusätzliche Mittel in das Finanzsystem der Insel umleiten wird.

Eine neue Phase der Wirtschaftspolitik

Kuba trifft die momentane globale Rezession in einer verwundbaren Lage. Seine Anfälligkeit konnte das Land mit den Reformen der letzten zehn Jahre nicht verringern. Zugleich hat das Weiße Haus den Druck zusätzlich erhöht. Die Behörden sollten den Fehler vermeiden, die Aufwertung des Gemeinwesens und der zentralen Verwaltung, die unter den gegebenen Umständen unverzichtbar ist, mit dringend notwendigen Reformen des kubanischen Wirtschaftsmodells zu vermischen.

Das Maßnahmenpaket muss die Ausgangslage der Privathaushalte berücksichtigen, die völlig anders als noch vor 30 Jahren ist. Die soziale Schichtung hat sich verstärkt, weshalb nicht alle auf dieselbe Weise betroffen sind. Experten zufolge haben 16 Prozent der kubanischen Haushalte Probleme damit, ihren Grundbedarf zu decken. Vor diesem Hintergrund müssen allgemeine und speziell auf Risikogruppen ausgerichtete Maßnahmen miteinander kombiniert werden. Die Möglichkeiten für Konjunkturprogramme und geldpolitische Anreize sind äußerst beschränkt. Das Haushaltsdefizit ist in die Höhe geschnellt, und die Liquidität der Bevölkerung ist seit 2013 um zehn Prozentpunkte gestiegen. Das ist ein klares Anzeichen für eine unterdrückte Inflation. Angesichts dieser Umstände wird derzeit diskutiert, welche Anforderungen ein Konjunkturprogramm mindestens erfüllen müsste, um die Notlage zu bekämpfen und zugleich die Wirtschaftsreformen zu retten.

Da die enormen Hotelinvestitionen ohnehin schon in keinem Verhältnis zum linear sinkenden Beschäftigungsniveau standen, müssen deren Geschwindigkeit und Ausmaße nun sorgfältig überdacht werden. Der Tourismus nimmt bei der wirtschaftlichen Erholung eine Schlüsselrolle ein. Die übermäßige Abhängigkeit von einem Wirtschaftszweig hat sich jedoch schon allzu oft als unheilvoll erwiesen. Nun haben wir in den kommenden Jahren die Möglichkeit, die Wirtschaftsstruktur neu zu gestalten. Wie stellt sich das Land auf, wenn sich das Reiseverhalten dauerhaft verändern sollte?

Die aktuelle Lage stellt eine unverhoffte Chance für geld- und wechselkurspolitische Reformen dar. Der deutliche Rückgang der Wirtschaftstätigkeit und die zunehmende Rationierung ermöglichen die Einführung notwendiger Veränderungen. Auf politischer Ebene wäre nichts schlimmer als die Folgen für den Einzelhandel und der allgemeine Mangel. Und morgen kann es bereits zu spät sein: Nachdem der Übergang zu einer sinnvolleren Geldpolitik jahrzehntelang aufgeschoben wurde, haben sich die Bedingungen nun abermals verschlechtert.

Neben den punktuellen Hilfen muss der Staat ein System schaffen, das die Einnahmen und den Konsum der Familien schützt, Anreize für eine Formalisierung bietet und die besonders anfälligen Gruppen mit einschließt: die Arbeiterinnen und Arbeiter aus den Branchen, in denen die Wirtschaftstätigkeit rapide zurückgegangen und Heimarbeit nicht möglich ist (Dienstleistungen, Herstellung nicht essenzieller Waren); die Menschen über 60 Jahre, zu denen über 20 Prozent der kubanischen Bevölkerung zählen und von denen 343 000 alleine leben; die informell Beschäftigten; und die Arbeitskräfte im Privatsektor. Zudem ist die Möglichkeit der Telearbeit nicht nur strukturell auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt, sondern wird auch durch die veraltete Kommunikationsinfrastruktur behindert. Im Bankwesen könnten Programme erprobt werden, um die Auswirkungen auf den Staatshaushalt abzumildern. Die Ausweitung der Rationierung ist kurzfristig allerdings unvermeidbar und soll diejenigen schützen, die keinen Anspruch auf direkte Hilfszahlungen haben. Das eingeschränkte Produktsortiment schont wiederum die öffentlichen Finanzen und gewährleistet die für die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit notwendige Versorgung. Die deutlichste Veränderung betrifft das Modell der sozialen Sicherung, das nach wie vor einer längst vergangenen Einkommensgleichheit verhaftet ist, die auf absehbare Zeit jedoch nicht wieder eintreten wird.

Was die Wirtschaft jetzt braucht, ist größtmögliche Flexibilität, damit sich der Arbeitsmarkt erholen kann. Seit 2010 schafft der Privatsektor – ohne den informellen Bereich – die meisten Arbeitsplätze. Sein Beitrag zum Staatshaushalt hat sich um den Faktor vier erhöht. Doch beim Arbeiten auf eigene Rechnung bekommt man es mit zahlreichen Herausforderungen zu tun. Einerseits ist das regulatorische Umfeld noch immer äußerst restriktiv und beizeiten sogar widersprüchlich, wenn man die ursprünglichen Ziele der Reform bedenkt. So stellt es das kubanische Steuergesetz unter Strafe, zusätzliche Arbeitnehmer einzustellen. Und das obwohl das Land seine Staatsbetriebe eigentlich tiefgreifend umstrukturieren müsste. Die für die Privatwirtschaft freigegebenen Tätigkeitsbereiche haben nur wenig mit dem Ausbildungsprofil der Arbeitskräfte zu tun. In Kuba gelten Bildungsinvestitionen als eine der größten Errungenschaften des Staates. Dass keine wirkliche Debatte über das Thema geführt wird bzw. diese kaum wahrgenommen wird, fördert den stereotypen und schlecht informierten Eindruck, was die Rolle der Bildung für die Wirtschaft und insbesondere die wirtschaftliche Zukunft des Landes angeht.

Jeder Versuch, die Konjunktur wieder anzukurbeln, muss diese Schwächen und die anderen Eigenheiten der aktuellen Wirtschaftslage berücksichtigen. Ein drängendes Problem ist der Zugang zu Gütern und Rohstoffen, das sich aber durch eine Ausweitung der Liste der in Fremdwährungen ausgegebenen Produkte lösen ließe. Dieser Schritt ist bereits getan worden. Die Neuerung bestünde darin, die Devisennutzung für Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu ermöglichen. Dafür muss man aber die Ungewissheit über die Zukunft der Unternehmen beseitigen. Man könnte die Verabschiedung einiger ohnehin geplanter Gesetze vorziehen, die einen direkten Bezug zur Produktionstätigkeit aufweisen. Dazu zählt etwa das Gesetz zu Unternehmen, Vereinigungen und Handelsgesellschaften, dessen Verabschiedung zuletzt für 2022 geplant war. Das größte Versäumnis war es, dass man den Sektor trotz unzähliger Debatten zur Beseitigung von Vorurteilen nicht in das Produktions- und Sozialsystem eingebunden hat. Da ist das Land aufgerufen, sich mit den wachsenden Unruhen auseinanderzusetzen.

Die Pandemie eröffnet auch Chancen

Die Pandemie lehrt uns, dass wir schnell verlässliche Netzwerke und Onlinedienstleistungen aufbauen müssen. Zahlreiche formelle und informelle Privatunternehmen sind im Bereich Programmierung und in der Erbringung von IT- und Kommunikationsdienstleistungen tätig, obwohl auch viele Fachkräfte und Techniker die Insel verlassen. Das eröffnet die Möglichkeit, eine gemeinsame Agenda zur Stärkung der Infrastruktur und der zugehörigen Dienstleistungen zu vereinbaren, die auch Online-Shoppingplattformen einschließt, deren Einführung sich durch instabile Verbindungen und eine schlechte Netzqualität auszeichnete. Dies könnte man auch auf Lieferservices ausweiten, die zahlreiche Unternehmen bereits anbieten. Die Kundenbetreuung ist ein weiterer Bereich, wobei insbesondere an Callcenter zu denken ist.

Des Weiteren sollten die Preise und die Verteilung landwirtschaftlicher Erzeugnisse durch gemeinsame Ausschüsse staatlicher Stellen und des Privat- und Genossenschaftssektors reguliert werden. Ziel sollte es sein, die Produktion zu maximieren und zu garantieren, dass die Produkte auch bei den Verbrauchern ankommen. Die veralteten Mechanismen der Preiskontrolle und deren Anwendung ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Umstände haben die Warenknappheit verschärft. Das könnte man mit einer Bodenreform verbinden, die aus ideologischen Gründen unnötig lange hinausgezögert worden ist. Kuba ist seit den 1990er Jahren zweimal auf das Landwirtschaftsthema zurückgekommen, ohne jedoch sein erklärtes Ziel zu erreichen, die Selbstversorgung merklich zu verbessern. Es ist völlig klar, dass die aktuelle Schwerpunktsetzung keine Ergebnisse bringen wird. Die Probleme sind ernst und gehen über das Thema Produktion hinaus. In diesem Zusammenhang könnte man auch die Verabschiedung von Gesetzen in Betracht ziehen, die wie das Gesetz über landwirtschaftliche Flächen oder das erst für 2022 geplante Steuerungsmodell für landwirtschaftliche Erzeugnisse, Vorprodukte, Ausrüstungen und Dienstleistungen ohnehin im Gesetzgebungsprogramm verankert sind.

Die Grenzschließungen wirken sich auch dramatisch auf die Einzeleinfuhr von Handelsgütern aus, ein Versorgungskanal, den viele Unternehmen nutzen.

Panama, Mexiko, Guyana, die USA, Haiti und Russland waren bislang wichtige Absatzmärkte für kubanische Produkte. Schätzungen gehen davon aus, dass sich der Umsatz auf jährlich 1,5 bis zwei Milliarden Dollar belief. Allein in der Freihandelszone Colón in Panama wurden Aufträge über Hunderte Millionen US-Dollar erteilt. Seit der Flexibilisierung des Migrationsgesetzes haben sich Auslandsreisen von Kubaner_innen mehr als verdoppelt. Sobald in der Luftfahrt wieder Normalität einkehrt, könnte man die Einfuhrgrenzen flexibler gestalten, um die Warenknappheit abzumildern und der Privatwirtschaft einen zusätzlichen Versorgungskanal zu öffnen.

Kuba steht an einem Scheideweg. Entweder verschließt es sich und gibt die Reformagenda auf, die zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts für so viel Begeisterung gesorgt hat. Oder aber das Land versöhnt sich mit seinem heterogenen Sozialgefüge. Dann kann es den Unternehmergeist und die Opferbereitschaft seiner Bevölkerung entfesseln. Das Land kann also eine weitere Krise verwalten oder Veränderungen auf den Weg bringen, die den gesellschaftlichen Fortschritt und den Wohlstand fördern.

Anders als in den düsteren Zeiten der 1990er Jahre ist der private und genossenschaftliche Sektor heute durch Vielfalt und Spezialisierung gekennzeichnet. Seine Netzwerke im Ausland sind dichter und vielfältiger geworden. Kuba ist schon lange mehr als Restaurants, schöne Strände, Ferienhäuser und tolle Musik. Es wäre bedauerlich, wenn das Land die Bewältigung der Pandemie mit der Umsetzung von Wirtschaftsprogrammen gleichsetzen würde, die es für die Erfüllung seiner Wohlfahrts- und Entwicklungsziele braucht. Momentan sind widersprüchliche Signale zu vernehmen. In den sozialen Netzwerken, die sich zu einem Abbild der Realität in dem Land entwickelt haben, sieht man sowohl Optimismus als auch Hoffnungslosigkeit. Die kubanische Regierung trägt keine Schuld an der Pandemie. Doch vieles von dem, was sie unterlassen oder nur halbherzig umgesetzt hat, wirkt sich nun auf die komplizierte Lage aus, in der sich das Land befindet. Außergewöhnliche Umstände können dabei helfen, einen notwendigen Konsens zu finden. Das Rätsel muss also politisch gelöst werden.

Ricardo Torres ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Havanna. Er ist Assistenzprofessor und Forscher am Center for the Study of the Cuban Economy (CEEC).

*Der Text ist eine Übersetzung aus dem Spanischen, erschienen in der von der FES herausgegebenen spanischsprachigen gesellschaftspolitischen Zeitschrift für Lateinamerika, Nueva Sociedad, Mai 2020.

In der deutschen Fassung verwenden wir eine geschlechtersensible Sprache.


Referat Lateinamerika und Karibik

Kontakt

Mareike Schnack
Hiroshimastr. 28
10785 Berlin

+49 30 269 35-7484
+49 30 269 35-9253

Mareike.Schnack(at)fes.de

Das Referat Lateinamerika und Karibik arbeitet in folgenden Themenfeldern:

  • Soziale Gerechtigkeit
  • Demokratie
  • Sozial-ökologische Transformation
  • Friedens- und Sicherheitspolitik
  • Internationale Politik

Wir fördern den politischen Austausch zwischen Lateinamerika, Deutschland und Europa.

Hier finden Sie unsere thematischen Ansprechpartner_innen

weiter

nach oben