Referat Lateinamerika und Karibik

Die „neue Normalität“ in Mexiko

Welche Auswirkungen hat die "nueva normalidad" in Mexiko auf das Gesundheitssystem und die Sozialprogramme?

Bild: von pixabay

Den Höhepunkt der Covid-19-Pandemie hatten mexikanische Gesundheitsexpert_innen Mitte Mai erwartet, aber bis heute (Stand 23.06.2020) steigt die Zahl der Infizierten kontinuierlich weiter. Offiziell registriert sind über 185.000 erkrankte Personen, wobei das Gesundheitsministerium von einer erheblich höheren Zahl Infizierter ausgeht. Im Vergleich zu den anderen Länder Lateinamerikas hat Mexiko die höchste Mortalitätsrate, knapp 22.000 Tote sind bisher zu beklagen. Grund hierfür sind die im Land weit verbreiteten Volkskrankheiten Diabetes und Bluthochdruck, wodurch die Risikogruppe sehr groß ist. Darüber hinaus kann ein Großteil der Bevölkerung den Appell der Regierung, zu Hause zu bleiben (Quédate en casa) nicht folgen: 60 Prozent der Mexikaner_innen erwirtschaften ihr Einkommen im informellen Sektor und leben quasi von der Hand in den Mund, ohne über finanzielle Rücklagen für Ausnahmesituationen wie eine Pandemie zu verfügen. Die Regierung unter Präsident López Obrador hat das Ausmaß der Pandemie erst recht spät erkannt, dann aber umfangreiche Präventionsmaßnahmen eingeleitet, um der Ausbreitung entgegen zu wirken. Alle als nicht essentiell eingestuften Unternehmen und Institutionen mussten ihren Betrieb einstellen. Ein Kollaps des Gesundheitssystems konnte durch die kontinuierliche Aufstockung der Krankenhauskapazitäten vermieden werden, zudem erreichte der Präsident ein Abkommen mit den Privatkliniken, das gesetzlich versicherten Corona-Patient_innen dort eine Behandlung ohne Zusatzkosten ermöglicht.

Der Gesundheitsnotstand wurde zum Anfang Juni durch die „nueva normalidad“ (neue Normalität) abgelöst. In diesem Rahmen können die Bundesstaaten selbst über Lockerungen entscheiden, müssen sich dabei aber an einem von der nationalen Ebene vorgegebenen Ampelsystem orientieren. Für den Wechsel von einer Phase zur nächsten wurde ein Paket von Indikatoren entwickelt, die zum Beispiel die Rate der Neuinfektionen oder die Auslastung der Krankenhäuser beinhalten. In der Phase rot sollen nur essenziele Sektoren wie Automobilsektor, Baugewerbe oder Bergbau und Ölförderung wieder anlaufen, in den Phasen Orange und Gelb können weitere Branchen ihre Aktivitäten im reduzierten Umfang aufnehmen. Eine weitgehende Öffnung öffentlicher Plätze, Kultureinrichtungen und Restaurants ist für Gelb vorgesehen. Die Phase Grün, die eine vollständige Rückkehr zu allen Aktivitäten ermöglicht, wird nach aktuellen Schätzungen im ganzen Land erst im Oktober erwartet. Schulen sollen erst nach Ende der Sommerferien wieder geöffnet werden. Im Rahmen der neuen Normalität ergreifen einzelne Bundesstaaten neue Initiativen, um die Infektionsrate zu senken. So kündigte die Regierung von Mexiko-Stadt ein Programm an, in dem gezielt nach Ansteckungsherden gesucht wird, um diese zu isolieren. Um Ansteckungen im immer stärker genutzten ÖPNV der Hauptstadt zu reduzieren, werden mittlerweile an den Eingängen Gesichtsmasken verteilt, darüber hinaus werden einzelne Fahrspuren auf Hauptverkehrstraßen in Fahrradwege umgewandelt, um eine Alternative zu Nutzung von Bus und Metro zu schaffen.

Große Teile der mexikanischen Gesellschaft haben die beiden Monate des Gesundheitsnotstands mit relativer Gelassenheit ertragen, seitdem aber immer deutlicher wird, dass die neue Normalität noch lange Beschränkungen mit sich bringen wird, sinkt die Bereitschaft, dem Appell nach freiwilligen Einschränkungen nachzukommen. Deutlich wird dies an der steigenden Zahl der Menschen auf den Straßen und der sinkenden Akzeptanz beim Tragen von Gesichtsmasken. Seit der Einführung des Gesundheitsnotstands ist u.a. infolge der prekären wirtschaftlichen Situation und beengten Wohnsituationen in vielen Familien die häusliche Gewalt erheblich angestiegen.

Die Pandemie trifft Mexiko in einer Situation der politischen Polarisierung: das politische Geschehen wird vom Präsidenten dominiert, der stur an seinem Kurs der Austerität und Wirtschaftsförderung durch prestigeträchtige Infrastrukturprojekte und dem Ausbau der Erdölindustrie festhält und jede Forderung nach Kursänderung zur Bewältigung der Pandemie ablehnt. In seinen täglichen Pressekonferenzen um sieben Uhr morgens gelingt es ihm, die politische Tagesagenda mit seinen Themen zu besetzen. Wichtige Reformen wie der Umbau des Steuersystems oder der Aufbau eines universellen und verbesserten Gesundheitssystems kommen dabei nicht vor. Der Umgang der Regierung mit der Corona-Krise wird in der Opposition und der Gesellschaft heftig diskutiert, die ein Wiederaufbauprogramm für die Wirtschaft und Reformen in der Sozialpolitik, z.B. durch die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens fordern. Angesichts der Mehrheit der Regierungspartei Morena in Kongress und Senat haben diese Vorschläge aber keine Chancen. Innerhalb von Morena gibt es zwar kritische Stimmen gegen den Präsidenten, die bisher aber eine Randgruppe sind.

Die bestehenden Sozialprogramme sind reine Finanztransfers an ausgewählte Gruppen; sie sind keine Strategien zum Abbau der strukturellen Ursachen von Armut und Benachteiligung. Angesichts der wachsenden Not derjenigen, die im informellen Sektor ihr Einkommen erwirtschaften, spielen die Unterstützungsmaßnahmen der einzelnen Bundesstaaten und die zahlreichen Initiativen der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle. Zahlreiche Gruppen unterstützen vor allem alte Menschen, die über wenig Einkommen verfügen oder als Teil der Risikogruppe nicht aus dem Haus gehen wollen oder können. Solidarität wird auch gegenüber den Mitarbeiter_innen des Gesundheitswesens gezeigt, dies reicht von der Bereitstellung von Schutzkleidung bis hin zu deren Verpflegung.

Infolge der Maßnahmen kam ab April fast die gesamte Industrieproduktion zum Erliegen, die schrittweise erfolgenden Lockerungen ab Juni ermöglichen nur einen langsamen Erholungsprozess. Die bereits im vergangenen Jahr schwächelnde mexikanische Wirtschaft wird nach Schätzung von Experten in diesem Jahr zwischen sechs und acht Prozent schrumpfen. Allein im April zeigte der monatliche Indikator der Industrieproduktion (Indicador Mensual de la Actividad Industrial - IMAI) einen Rückgang um knapp 30 Prozent. Auch der für Mexiko wichtige Tourismus (9 % Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt, 8 Prozent der Arbeitsplätze) ist zusammengebrochen, ebenso sanken die Überweisungen der Auslandsmexikaner_innen an ihre im Land gebliebenen Familienangehörigen erheblich. Seit Ausbruch der Pandemie sollen über eine Million formaler Arbeitsplätze, meist im Niedriglohnbereich, vernichtet worden sein.

Im Gegensatz zu den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern hat die mexikanische Regierung bisher wenig Interesse an Programmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft erkennen lassen. Ihre Antwort auf die Pandemie ist vor allem der Ausbau der Krankenhauskapazitäten, umfassende Programme zur Unterstützung der Wirtschaft gibt es trotz lauter Forderungen aus dem Privatsektor bisher kaum. Stattdessen setzt die Regierung weiterhin auf die von López Obrador angekündigte Großprojekte in Infrastruktur und Ausbau der Erdölindustrie – ein wenig nachhaltiges Entwicklungskonzept, das die großen Potentiale des Landes in erneuerbare Energien und den Einsatz von Zukunftstechnologien ungenutzt lässt.

 

 

 

 


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