Referat Lateinamerika und Karibik

Besteuerung von Unternehmen und Vermögenden in Chile: Neuer Aufwind für eine alte Debatte

In Chile tragen Privatpersonen - nicht der Staat - die größte soziale Last bei der Überwindung der Auswirkungen der Coronapandemie. Und was ist mit den Profiteuren der neoliberalen Politik der letzten 40 Jahre? Politische Organisationen und Gewerkschaften fordern: „Es ist an der Zeit, den Kuchen gerecht zu teilen - #ReichensteuerJETZT“.

Bild: Es ist an der Zeit, den Kuchen gerecht zu teilen - #ReichensteuerJETZT von © FES Chile

Die Corona-Pandemie wirkt sich nicht nur auf dramatische Weise auf die Gesundheit und den Alltag der Menschen aus – sie hat auch die strukturellen Schwächen unserer öffentlichen Institutionen und die tiefgreifende Ungleichheit offengelegt, die es in unserer Gesellschaft immer noch gibt. Vor diesem Hintergrund erscheint der Fall Chiles angesichts einer vier Jahrzehnte währenden neoliberalen Politik symptomatisch. In deren Folge wurden grundlegende öffentliche Dienstleistungen privatisiert und die Fähigkeiten des Staates zur Regulierung des privaten Sektors und zur direkten Unterstützung der stark in Einkommensschichten zersplitterten Bevölkerung eingeschränkt.

Genau wie in anderen Ländern der Region wurde das Virus auch nach Chile hauptsächlich durch einkommensstarke Menschen in das Land transportiert, die Dienst- oder Urlaubsreisen ins Ausland unternahmen. Deshalb betraf die Pandemie in den ersten Monaten vor allem die höheren Einkommensschichten, die praktisch vollständig vom privaten Gesundheitswesen versorgt werden, das den Industriestaaten in punkto Qualität in nichts nachsteht. Dadurch, dass sich die Infizierung mit Covid-19 zunächst auf den privilegierten Teil der Bevölkerung konzentrierte, war die tödliche Wirkung des Virus im Vergleich zu Ländern, in denen die Pandemie schon länger wütete, nur gering. Dies verleitete die chilenischen Behörden zu einer verfrühten Ankündigung, die erste Ansteckungswelle unter Kontrolle zu haben. Daraufhin wurde auf staatliche Anweisung der Betrieb schon früh wieder aufgenommen und auch öffentliche Einrichtungen und Schulen öffneten wieder, um – wie es hieß – die Wirtschaft schnellstmöglich in Schwung zu bringen.

Wie zu erwarten war, führte die mangelnde Rückverfolgbarkeit dazu, dass die Ansteckungszahlen exponentiell stiegen und bald auch einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen betroffen waren. Diese werden hauptsächlich im öffentlichen Gesundheitswesen betreut, wo die Zahl gemeldeter Todesfälle mehr als fünfmal so hoch wie in privaten Einrichtungen liegt. Dies zeugt von der ungleichen Versorgung der Bevölkerung, die sich nach Einkommen und Wohnort richtet.

Doch die Regierung von Sebastián Piñera blieb untätig und verschärfte das Problem sogar noch, indem sie den privaten Sektor direkt bezuschusste und zahlreiche Vorschriften verhängte, um die Stabilität der privaten Akteure im System sicherzustellen. Dazu wurden Arbeitsverträge und Steuerforderungen ausgesetzt und zahlreiche Haftungsbeschränkungen bei Versicherungen für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten eingeführt.

Erst als es aufgrund der mangelnden Einkommen, Arbeitsplätze und Versorgungsgüter zu ersten gewalttätigen Ausschreitungen kam, begannen die Behörden mit direkten Zuweisungen und Versorgungsangeboten für die Bevölkerung – fast vier Monate nach dem ersten bestätigten Corona-Fall im Land.

Doch der Entschluss, die Hilfszahlungen auf die 40 Prozent der Bevölkerung mit den geringsten Einkommen zu beschränken, die selbst mit der Hilfe unterhalb der Armutsgrenze liegen und die Zahlungen mit der Zeit zurückzufahren sowie logistische Fehlschläge bei der Bereitstellung von Hilfsleistungen und Nahrungsmitteln löste neue und größere Proteste aus. Diese sozialen Unruhen erinnerten, wenn auch in geringerem Ausmaß, an die im Oktober 2019.

Erst jetzt bemühte sich die Regierung um einen politischen Konsens mit der Opposition, um einen Sonderfonds in Höhe von zwölf Milliarden Dollar einzurichten. Dieser sollte die bereits erfolgten umfangreichen Umverteilungsmaßnahmen ergänzen. Zu diesem Zweck wurden Staatsfonds eingerichtet und Auslandsschulden aufgenommen, die für Konjunkturprogramme und die Unterstützung der Mittelschicht mit einer Laufzeit von zwei Jahren gedacht waren.

Doch dieser Konsens wird angesichts des Ausmaßes der Krise, 21 Milliarden Dollar öffentlicher Mittel, der niedrigen Auslandsschulden, des Bonitätsratings und der geringen Steuerzahlungen durch Unternehmen und Vermögende als unzureichend und kleingeistig angesehen. Insbesondere letztere haben sich bislang nur mit einigen symbolischen Spenden hervorgetan, die sie zudem noch von der eigenen Steuer absetzen können.

Die Bürger_innenproteste ließen erst nach, als der Kongress eine Verfassungsreform verabschiedete, der zufolge alle Personen bis zu zehn Prozent ihres im Pensionsfonds angesparten Vermögens abziehen konnten (dabei handelt es sich in Chile um persönliche Fonds, die hauptsächlich von ausländischen Versicherungsunternehmen verwaltet werden). Damit flossen schätzungsweise 19,6 Milliarden Dollar direkt an die Bevölkerung, was zu einem vorübergehenden Anstieg des Binnenkonsums führte.

Mit anderen Worten: Die Regierung Sebastián Piñera gab angesichts der Pandemie der gesamtwirtschaftlichen Stabilität den Vorrang und wälzte die Krisenkosten auf die Bevölkerung ab, die diese in Form von Entlassungen, Gehaltskürzungen, Sozialeinbußen und der Verwendung ihrer eigenen Pensions- und Arbeitslosenleistungen übernahm.Angesichts des starken Anstiegs von Arbeitslosigkeit und Armut, die an den angeblichen Vorzügen des chilenischen Systems zweifeln lassen, entschlossen sich zahlreiche politische, bürgerschaftliche und gewerkschaftliche Organisationen dazu, die Debatte über eine Verfassungsreform mit einer umfassenden Reform unseres Steuersystems zu verknüpfen. Dieses stammt noch aus der Pinochet-Diktatur und gehorcht den neoliberalen Überzeugungen Milton Friedmans und der Chicagoer Schule[1].

Einen ersten Schritt soll dabei eine einmalige Steuer auf Vermögen über 22 Millionen US-Dollar markieren, durch die der Staat Einnahmen in Höhe von etwa 6,5 Milliarden US-Dollar verbuchen könnte.

Eine weitere Forderung politischer, zivilgesellschaftlicher und gewerkschaftlicher Organisationen beinhaltet eine umfassende Reform der geltenden Steuergesetzgebung mit den folgenden Zielen:

  • Abschaffung der Steuerbefreiung für Großkonzerne, Bergbauunternehmen und Forstunternehmen in Höhe von etwa sieben Milliarden Dollar jährlich
  • Trennung von Unternehmens- und Personenbesteuerung, um deren Beitrag zur Binnenentwicklung zu erhöhen
  • Unabhängigkeit und Kompetenzerweiterung der Steuerverwaltung, um Steuervermeidung und Steuerhinterziehung unabhängig von der jeweiligen Regierung wirksamer bekämpfen zu können

Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Steuer- und Abgabengerechtigkeit in Chile nachhaltig zu verbessern, damit diejenigen Sektoren, die am stärksten von der Deregulierung der Märkte und dem Abbau des Sozialstaats profitiert haben, endlich einen Beitrag zur Bekämpfung der Krise leisten. So könnten unsere öffentlichen Einrichtungen bessere und menschenwürdigere staatliche Leistungen für alle erbringen.

Marcos González Álvarez ist Präsident der Gewerkschaft der Steuerfachangestellten Asociación Nacional de Funcionarios del SII – ANEIICH (marcos.gonzalez(at)aneiich.cl) und Direktor des Bundes der Finanzbeamten in Chile Federación Frente de Trabajadores del Ministerio de Hacienda – FTH

 

[1] Dieser Begriff ist abgeleitet von der University of Chicago, an der in den 1950-70er Jahren chilenische Studierende der Wirtschaftswissenschaften von der Idee freier, deregulierter Märkte geprägt wurden. Sie hatten unter der Herrschaft Pinochets weitreichenden Einfluss auf die chilenische Wirtschafts- und Sozialpolitik.


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