UN-Zukunftsgipfel: Die richtige Idee zum falschen Zeitpunkt?

Anhaltende Krisen erschüttern den Multilateralismus, gleichzeitig stehen ehrgeizige Reformen an. Was ist vom UN-Zukunftsgipfel 2024 zu erwarten? Ein Gastbeitrag von Richard Gowan, UN-Direktor, International Crisis Group.


Deutschland steht vor der schwierigen Aufgabe, die Mitglieder der Vereinten Nationen im kommenden Jahr zu einem Konsens über die Stärkung des Multilateralismus zu bewegen. Die deutsche Vertretung in New York leitet derzeit gemeinsam mit Namibia die Vorbereitungen für den UN-Zukunftsgipfel, der während der jährlichen hochrangigen Sitzungswoche der Vereinten Nationen im September 2024 stattfinden soll. Erstmals angeregt hatte UN-Generalsekretär António Guterres den Gipfel 2021 als eine Gelegenheit für Staats- und Regierungschefs, sich über mögliche Verbesserungen der globalen Ordnung nach der Corona-Pandemie auszutauschen. Doch angesichts der schwelenden Konflikte in der UNO über die Ukraine und Gaza befürchten Diplomat_innen, dass es in diesem Jahr schwierig werden könnte, neue Vereinbarungen über die internationale Zusammenarbeit zu erzielen.


Kein guter Zeitpunkt für große Themen?

Guterres und seine Berater_innen halten es aus drei Gründen für geboten, den Multilateralismus auf den Prüfstand zu stellen. Erstens ist offensichtlich, dass die bestehenden internationalen Institutionen nicht über die notwendigen Instrumentarien und Befugnisse verfügen, um Herausforderungen wie Pandemien und Klimawandel wirksam zu begegnen. Zweitens gebe es noch kein tragfähiges globales Regelwerk zur Regulierung neuer Technologien wie der Künstlichen Intelligenz (KI), die nach den Prognosen des Generalsekretärs Gesellschaften, Volkswirtschaften und internationale Beziehungen tiefgreifend verändern werden. Drittens empfinden viele nicht-westliche Länder ihren Einfluss in den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen als zu gering, da die USA und europäische Länder die Entscheidungsprozesse noch immer dominieren.

Im besten Fall wäre der Zukunftsgipfel eine Gelegenheit für die UN-Mitglieder, diese Herausforderungen alle gleichzeitig anzugehen, indem sie bestehende Institutionen reformieren, damit sie integrativer und effektiver werden, und neue Gremien schaffen, um die Lücken im System zu schließen. Guterres brachte zum Beispiel die Idee ins Spiel, eine neue internationale Agentur zu gründen, die die Nutzung der KI in ähnlicher Weise regulieren soll wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) die Nutzung der Kernenergie.

In diplomatischen Kreisen wird die Weitsicht des Generalsekretärs gewürdigt, aber viele fragen sich, ob dies der richtige Zeitpunkt ist, um solche großen Themen anzupacken. In der UNO ist die Stimmung derzeit sehr angespannt. Immer schärfer kritisieren Entwicklungsländer, dass die reicheren Staaten ihre Versprechen nicht einlösen, mehr in Entwicklungszusammenarbeit und Klimaanpassung zu investieren. Der Krieg zwischen der Hamas und Israel reißt in der UN-Generalversammlung alte Wunden auf. Die meisten Staaten des sogenannten „Globalen Südens“ verurteilen die USA und viele europäische Länder für deren mangelnde Solidarität mit den Palästinensern. Arabische Diplomaten werfen die Frage auf, wie die UN überhaupt über „die Zukunft“ diskutieren könne vor dem Hintergrund, dass es für die Jugend in Gaza gar keine Zukunft gebe.


Ein ‚Zukunftspakt‘: Deutschland und Namibia übernehmen die Federführung

In dieser düsteren Gesamtsituation haben Deutschland und Namibia sich bereit erklärt, die Vorbereitungen für den Zukunftsgipfel zu leiten – eine wenig beneidenswerte Aufgabe. Derzeit arbeitet das Länderduo am ersten Entwurf für einen Zukunftspakt, den die Staats- und Regierungschefs im September verabschieden sollen. Sobald sie den Text – der bis Ende Januar fertig sein soll – in Umlauf gebracht haben, werden konkrete Verhandlungen aufgenommen. Dies dürfte ein mühsamer und langwieriger Prozess werden. Denn die Generalversammlung hat beschlossen, dass für den endgültigen Pakt ein Konsensbeschluss der UN-Mitglieder erforderlich ist.

Für die Diplomat_innen in New York sind das keine sonderlich erfreulichen Aussichten. Viele sehen den Gipfel eher als Problem an, das gelöst werden muss, und nicht als Chance, die es zu nutzen gilt. Das könnte jedoch ein Irrtum sein. Solange die Kämpfe in Gaza andauern, wird es schwierig sein, sich konzentriert auf den Zukunftspakt zu besinnen. Sobald aber der Krieg abebbt, könnte die Diskussion über mögliche Verbesserungen der internationalen Ordnung – auch wenn es sich um eher technische Verbesserungen handelt – eine Möglichkeit eröffnen, wieder ein gewisses Gemeinschaftsgefühl unter den UN-Mitgliedern herzustellen, wobei es unwahrscheinlich ist, dass dies die Erinnerungen an die Konflikte der jüngsten Zeit vergessen macht. Zudem ist der Gipfel für zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich für eine stärkere multilaterale Ordnung einsetzen, eine Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf globale Fragen zu lenken, auch wenn sie keine großen weitreichenden Reformen durchsetzen können.


Mind the Gaps: Klimawandel und Menschenrechte kommen nicht vor

Während Deutschland und Namibia im vergangenen Jahr die Vorbereitungsgespräche über den Inhalt des Paktes leiteten, konnten die UN-Mitglieder sich nur auf ein Grundgerüst einigen. Demnach wird der Pakt Kapitel zu folgenden Themen beinhalten: Frieden und Sicherheit, Entwicklung, Wissenschaft und Technologie, zukünftige Generationen und Global Governance. UN-Beamte und Diplomat_innen gehen davon aus, dass das Positionspapier nicht länger als 20 bis 30 Seiten sein wird und auf strategischer Ebene ansetzt. Selbst wenn sich die Unterhändler also grundsätzlich auf einige große Reformen einigen, wird der Zukunftspakt nicht allzu sehr ins Detail gehen.

Einige Beobachter haben auf zwei Leerstellen in diesem Entwurf hingewiesen, die für Beunruhigung sorgen könnten. Eine davon ist der Klimawandel, der für die Vereinten Nationen nach Guterres‘ Vorstellungen ein Querschnittsthema sein sollte. UN-Beamte äußerten die Hoffnung, der Pakt werde sich zu bestehenden Abkommen und Prozessen zur Bewältigung der globalen Erwärmung bekennen, auch wenn er keine neuen Vereinbarungen vorsieht. Die zweite auffällige Leerstelle sind die Menschenrechte. Viele westliche Diplomat_innen äußern die Sorge, das UN-System insgesamt schenke Menschenrechtsfragen weniger Beachtung als in der ersten Zeit nach dem Kalten Krieg, und werden wahrscheinlich darauf pochen, dass in dem Zukunftspakt gemeinsame Werte und Freiheiten verankert werden.

Über den genauen Inhalt des Paktes wird noch diskutiert werden müssen. An Material mangelt es den Unterhändlern nicht: Um die Verhandlungen voranzubringen, hat Guterres im Laufe des Jahres 2023 elf Grundsatzpapiere zu Themen veröffentlicht, die von Bildung bis zur Regulierung des Weltraums reichen. Außerdem berief er einen hochrangigen Beirat für effektiven Multilateralismus ein, der im vergangenen Sommer einen Bericht vorlegte über mögliche Reformen der internationalen Institutionen. Alle Beteiligten sind sich jedoch darüber im Klaren, dass die UN-Mitglieder die Themen selbst bestimmen werden.


Reform der internationalen Finanzarchitektur

Die Entwicklungsländer werden bei den bevorstehenden Diskussionen über den Pakt sicher die Aufsichtsfunktion und die Aktivitäten internationaler Finanzinstitutionen wie der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) in den Fokus rücken wollen. Viele Vertreter nicht-westlicher Regierungen fordern mehr Entscheidungsbefugnisse in diesen Institutionen, die bislang von den USA, der EU und anderen großen westlichen Staaten dominiert werden. Sie würden es auch begrüßen, wenn diese globalen Kreditgeber armen Ländern den Zugang zu Finanzmitteln erleichtern würden. Während die Biden-Administration und europäische Regierungen sich einig sein, dass gefährdeteLänder finanziell unterstützt werden müssen, dürfte die Verständigung auf Governance-Reformen ein schwierigeres Unterfangen sein.


Reform des UN-Sicherheitsrates

Ein weiteres heikles Thema im Zusammenhang mit der Global Governance ist die noch immer ausstehende Reform des UN-Sicherheitsrats. Seitdem Russland sein Veto eingelegt hat, um Kritik an seinem Großangriff gegen die Ukraine im Jahr 2022 zu verhindern, halten viele UN-Mitglieder die Zeit für gekommen, die Mitgliederzusammensetzung und die Regeln des Sicherheitsrats zu überarbeiten. Die Biden-Administration hat zwar ebenfalls ihr Vetorecht genutzt hat, um dafür zu sorgen, dass Israel nicht wegen seines Gaza-Feldzugs unter Druck gesetzt wird, aber die USA beteuern, dass sie nach wie vor Reformen wollen. Auch Deutschland, das seit langem einen ständigen Sitz im Rat anstrebt, würde gerne Fortschritte sehen. Dass die UN-Mitglieder sich in den nächsten neun Monaten auf ein weitgehend akzeptables Reformkonzept einigen werden, ist allerdings definitiv nicht zu erwarten. Das bestmögliche Ergebnis wäre, dass die Mitgliedstaaten sich darauf verständigen, 2025 im Rahmen des 80. Jahrestages der Charta der Vereinten Nationen zu diesem Thema eine Reihe von hochrangigen Gesprächen zu führen.


Regulierung der KI und anderer neuer Technologien

Während die Reform des Sicherheitsrats zu den altbekannten Themen der UN-Diplomatie zählt, könnte das im Rahmen des Paktes geplante Kapitel über „Wissenschaft und Technologie“ neue Diskussionsfelder eröffnen. Ergänzend zu seinem Vorschlag, als Aufsichtsgremium für die künstliche Intelligenz ein mit der IAEO vergleichbares Gremium zu gründen, hat Guterres angeregt, dass die UN-Mitglieder bis 2026 einen Vertrag über das Verbot tödlicher autonomer Waffensysteme (LAWS) unterzeichnen und neue Mechanismen für den Umgang mit Biotechnologie schaffen. Einige einflussreiche UN-Akteure sind sich einig, dass es an der Zeit ist, in diesem Bereich mehr internationale Regelungen zu entwickeln. Die USA haben eine nicht bindende Resolution der UN-Generalversammlung zur Nutzung von KI für eine nachhaltige Entwicklung eingebracht. Parallel zum eigentlichen Verhandlungsprozess für den Zukunftspakt führen Schweden und Sambia Gespräche über einen Global Digital Compact, der ebenfalls im September verabschiedet werden könnte; dieses Abkommen soll Leitprinzipien für die Regulierung von Internet, künstlicher Intelligenz und Daten festlegen.

Dies mag ein guter Zeitpunkt für Debatten über neue Technologien sein, aber weniger überzeugt sind Diplomat_innen und Wissenschaftler_innen offenbar, dass dieser Zeitpunkt günstig ist, um neue Institutionen und verbindliche Vereinbarungen über die Regelung neuer Technologien zu schließen. Marietje Schaake, die früher dem Europäischen Parlament und im vergangenen Jahr einem Gremium angehörte, das Guterres in KI-Fragen beriet, erklärte kürzlich, es sei verfrüht, neue Agenturen zu konzipieren, die diesen sich entwickelnden Bereich regulieren sollen. Sie plädierte dafür, dass Regierungen und KI-Entwickler zuerst die künstliche Intelligenz regelnde Grundprinzipien und Gesetze ausarbeiten sollten, bevor ein internationaler Rahmen für deren Kontrolle geschaffen wird. Der Zukunftsgipfel könne solche Sondierungsgespräche anstoßen, aber die Debatten in den Vereinten Nationen über die Regulierung dieser neuen Technologien werden noch lange andauern.

In Anbetracht der vielen Hindernisse, die einer Einigung auf weitreichende Reformen im Rahmen des Zukunftspakts im Wege stehen, prognostizieren einige UN-Mitglieder schon jetzt, das Dokument werde sich als wenig substanziell erweisen. Das heißt aber nicht, dass der Zukunftsgipfel zwangsläufig ein Misserfolg wird. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, könnten Koalitionen von Mitgliedstaaten ambitioniertere Nebenabkommen vorlegen, denen nicht alle UN-Mitglieder zustimmen müssten und die dazu dienen, prioritäre Ziele wie Frauenrechte zu verfolgen. Diese könnten dann im September ratifiziert werden. Deutschland zum Beispiel gehört zu den maßgeblichen Stimmen, die sich dafür aussprechen, das Augenmerk gezielt auf die sicherheitspolitischen Auswirkungen des Klimawandels zu richten, und könnte durchaus Teil einer Koalition sein, die auf ein stärkeres Engagement der UN für Klima und Frieden drängt, auch wenn Russland – das 2021 im Sicherheitsrat ein Veto gegen eine entsprechende Resolution eingelegt hat – dafür wird sorgen wollen, dass dieser Aspekt nicht in den Pakt aufgenommen wird.


Die Rolle der Zivilgesellschaft

Die UN-Mitgliedsstaaten werden bei solchen Initiativen zwar formell die Federführung übernehmen, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen können dem Gipfel im Vorfeld mehr Schwung verleihen. Viele Diplomat_innen gerade aus kleineren Vertretungen in New York geben zu, dass sie wenig Zeit hatten, sich eingehend Gedanken über mögliche Ergebnisse des Gipfels zu machen. Der Generalsekretär hat eine Vielzahl komplexer Themen zur Diskussion gestellt, doch viel Zeit wurde auf andere dringende Fragen wie den Krieg im Nahen Osten verwendet. In den kommenden Monaten können nichtstaatliche Akteure den UN-Mitgliedern beratend zur Seite stehen, wenn es um die Frage geht, was der Gipfel bei Themen wie den neuen Technologien erreichen kann.

Die Akteure der Zivilgesellschaft könnten auch ihre globalen Netzwerke nutzen, um den Zukunftsgipfel stärker in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit zu rücken. UN-Beamte räumen ein, dass sie angesichts der vielen schlechten Nachrichten, die in letzter Zeit aus der UNO kamen, Mühe hatten, die internationalen Medien für den Gipfel zu interessieren. Guterres möchte zwar die politischen Entscheidungsträger in die Diskussion über globale Fragen einbinden und übergab zu diesem Zweck den Staats- und Regierungschefs bei der UN-Generalversammlung im September vergangenen Jahres Stapel von Positionspapieren, aber nur wenige Hauptstädte räumen der UN-Reform Priorität ein. Es wäre zu begrüßen, wenn die internationalen Netzwerke der Zivilgesellschaft in den kommenden Monaten verstärkt auf den Gipfel aufmerksam machen könnten.


Weitere Schritte

Trotz alledem müssen Deutschland und Namibia ihre Rolle als Vorbereiter des Zukunftspaktes optimal ausüben. Mit Sicherheit wird es in diesem Prozess zu Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedsstaaten kommen. Aber das Duo der Paktvorbereiter könnte sich zumindest als Ziel vornehmen, diesen Prozess als eine Gelegenheit zu präsentieren, um nach einer Zeit der vermehrten Spaltung den diplomatischen Dialog zwischen den UN-Mitgliedern über die Zukunft des Multilateralismus wieder anzustoßen. Man könnte sich auf gemeinsame Ausgangsprinzipien einigen und einen dauerhaften Dialog über Themen wie neue Technologien und internationale Finanzierung einleiten, der den Weg für künftige substanziellere Abkommen ebnen könnte, auch wenn dieser Dialog 2024 nicht zu aufsehenerregenden Resultaten führen sollte. 



Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen des Gastautoren spiegelt nicht die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.

 

Richard Gowan ist UN-Direktor der International Crisis Group (ICG) und leitet die Advocacy-Arbeit der Organisation bei den Vereinten Nationen in New York. Zuvor war er 2016 und 2017 als Consulting Analyst bei ICG tätig. Er ist für das European Council on Foreign Relations, das New York University Center on International Cooperation und das Foreign Policy Centre (London) tätig und lehrt an der School of International and Public Affairs der Columbia University und der Stanford University in New York. Gowan berät Organisationen wie die UN-Abteilung für politische Angelegenheiten, das UN-Büro des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für internationale Migration, das United States Holocaust Memorial Museum, Rasmussen Global, das britische und das finnische Außenministerium und Global Affairs Canada. Von 2013 bis 2019 schrieb er eine wöchentliche Kolumne („Diplomatic Fallout“) für den World Politics Review.

 

Aus dem Englischen von Christine Hardung.

Der Originalartikel erschien in englischer Sprache auf ny.fes.de


Ansprechpartner

 

Peer Teschendorf

 

+49 30 26935-7729

peer.teschendorf(at)fes.de

nach oben