Deutschland und der Islam

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Deutschland und der Islam

Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, wird kontrovers diskutiert.

Ja, sagte unter anderem der frühere Bundespräsident Christian Wulff. Nach mehr als fünf Jahrzehnten Arbeitsmigration vor allem aus der Türkei leben heute mehr als vier Millionen Muslime in Deutschland, davon sind knapp zwei Millionen (eingebürgerte) Deutsche.

Die extreme Rechte möchte diese Entwicklung rückgängig machen.

Wem dies zu weit geht, sucht nach Kriterien, wie ein Islam auszusehen hat, der grundgesetzkonform sein muss:

  • Ohne Burka und mit Freitagspredigten auf Deutsch;
  • stets in deutlicher Abgrenzung von islamistischem Radikalismus;
  • ausgerichtet an einer "deutschen Leitkultur".


Leitkultur
Über diese Leitkultur besteht nur vage Einigkeit: Recht auf Abtreibung oder Lebensschutz, Auto waschen oder Fahrrad reparieren, Taufe oder Jugendweihe, Ehe für alle oder Keimzelle des Staates, Gewaltenteilung oder Sonderrechte für Geheimdienste, Schweinefleisch oder Tofu?


Die Ambivalenz der Diskussion zeigt sich darin, dass der 3. Oktober als deutscher Nationalfeiertag seit 1997 auch "Tag der Offenen Moschee" ist: Eine Einladung an Muslime und Nichtmuslime, sich zu öffnen und füreinander zu interessieren. Man sucht nach einem gemeinsamen Weg. 
 

Einwanderungsland
Viele gesellschaftliche Aufgaben, die sich aus der Existenz des Islam in Deutschland ergeben, sind die Folge von hausgemachten Versäumnissen. Insbesondere die jahrzehntelang wiederholte Behauptung, Deutschland sei kein Einwanderungsland (1), obwohl längst Muslime der dritten Generation hier lebten, hat strukturelle Defizite geschaffen, die sich innerhalb eines oder zweier Jahrzehnte nicht einfach ausbessern lassen.

Man kann in Deutschland zwar Islamische Theologie studieren, aber die Ausbildung der Imame ist Sache der Gemeinden (2). Imam bedeutet im Kontext der Gemeindearbeit soviel wie Vorbeter, kann aber auch allgemein eine Person bezeichnen, die (religiöse) Autorität besitzt. Eine deutsche/deutschsprachige Ausbildungsstätte für die Gemeindearbeit gibt es hierzulande noch nicht.

Eine sich säkularisierende Gesellschaft

Eine sich säkularisierende Gesellschaft

Die Diskussion in Deutschland über den Islam wird geführt von einer Gesellschaft, die sich im letzten halben Jahrhundert immer weiter säkularisiert hat.

Öffentlichte Sichtbarkeit von Religiösität hat mittlerweile etwas Sperriges.

Pragmatismus der 21. Jahrhunderts

Religion passt in den flexibeln Pragmatismus des 21. Jahrhunderts nicht mehr hinein, in dem es scheinbar nur noch um Probleme lösen (troubleshooting) und individuelle Selbstverwicklichung (life style) geht.

Gut und Böse

Plötzlich geht es wieder um Gut und Böse, Falsch und Richtig, Ehtik und Moral, um Feiertagsruhe und Texte, die seit mehr als tausend Jahren bindend sind oder sein wollen.

Die Sichtbarkeit des Islam durch Kopftuch oder Minarett irritiert Säkulare wie Christinnen und Christen.

Säkulär

Als säkulär bezeichnet man Menschen, die keiner Glaubensgemeinschaft angehören.

Terror

Zugleich gibt es eine real existierende Bedrohung durch islamistischen Terror, der immer wieder europäische Großstädte trifft und mit dem Anschlag vom Breitscheidplatz in Berlin im Dezember 2016 seinen bisherigen Höhepunkt in Deutschland erreichte.

Die Bedrohung durch islamistischen Terrorismus ist kein Hirngespinst von Rassist_innen und zeigt einmal mehr, wie schnell sich religiöse Vorstellungen und Versatzstücke politisch instrumentalisieren lassen.

Feindbild

Drittens gibt es spätestens seit den Anschlägen in den USA 2001 ein mehrheitsfähiges Feindbild, das als eine Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (3) auf den Islam als solchen zielt und bewusst nicht unterscheidet zwischen

  • islamistischer Ideologie und
  • islamischer Religion.
     

Parallel dazu werden ständig Gewalttaten gegen Muslime verübt, die in der Mordserie der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) ihren Höhepunkt erreichten (4). Die staatliche Reaktion auf den NSU zeigt, wie tief strukturelle Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft verankert ist.

In diesem aufgeladenen Politikfeld tun sich einige wichtige Akteure in der Debatte schwer mit der Kritik des Islamismus oder sogar schon mit der Kritik islamischer Geistlicher, die mühsam erkämpfte Rechte in Frage stellen (5).

Dabei war der Kampf gegen religiöse Autoritäten immer ein Motiv der politischen Emanzipation.

Die Entkriminalisierung von Abtreibung und Homosexualität sowie die Aufklärung über das Paktieren der beiden großen christlichen Konfessionen mit dem Nationalsozialismus gehören zum Kernbestand der deutschen Demokratisierungsgeschichte nach 1945.


 Die Reaktionen der sich als säkular verstehenden Gesellschaft gegenüber islamistischen Positionen oder antimodernen Vorstellungen von einzelnen Muslimen sind oft widersprüchlich und halbherzig (6). Man tröstet sich mit dem Hinweis auf universelle Prinzipien und der Hoffnung, die Wohltaten der westlichen Lebensweise würden sich irgendwann als unwiderstehlich erweisen.

Das säkulare Modell der Trennung von Staat und Religion gilt als unbegrenzt aufnahmefähig. Die Bedeutung religiöser Vorstellungen bei Muslimen, so die Hoffnung, würden sich mit einem säkularen Wertegerüst sinnvoll und friedlich arrangieren, sobald sie an den Segnungen einer westlichen Wohlstandsgesellschaft, insbesondere dem Bildungssystem ausreichend partizipieren könnten.

Gerne wird das Selbstbild des Islam als "Friedensreligion" übernommen (7), auch wenn es Einwände gibt (8).

Die moralische Last des Kolonialismus macht es schwer, religiöse islamische Wertvorstellungen mit der gleichen Klarheit und Konsequenz zu kritisieren und zu bekämpfen wie die Hegemonieansprüche christlicher Reaktionäre.

Viele Gruppen, die die Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses seit 1789 für eine grundlegende Errungenschaft halten, zögern, mit der gleichen Verve gegen islamische Geistliche oder islamisch geprägte Rollenbilder zu Werke zu gehen. Niemand aus der Mitte der Gesellschaft möchte sich dem Vorwurf aussetzen, den Islam durch eine "eurozentistische" Brille zu betrachten und damit Ideologien der Kolonialzeit zu reproduzieren (9). 

Radikalisierung

Die Behauptung von Thilo Sarrazin, Muslime seien aufgrund ihrer genetischen Beschaffenheit zu wenig intelligent, um sich in eine Demokratie zu integrieren, sind nur ein Beispiel einer grassierenden Feinseligkeit dem Islam gegenüber, die sich immer wieder zum mörderischen Hass steigern kann.

Die Mordserie des NSU in Deutschland und zahlreiche Gewalttaten mit rassistischer oder fremdenfeindlicher Motivation gegen Muslime zeigen, dass ständig öffentlich wiederholte Vorurteile das Risiko einer Entgrenzung von Gewalt gegen Muslime und anderen "schwachen Gruppen" im Sinne der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit drastisch erhöhen können.

Sarrazins Thesen sind von der an der Humboldt-Universität lehrenden Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan ausführlich widerlegt worden (10), aber die populistische Wirkung läßt sich nicht ohne weiteres ungeschehen machen.

Im Extremfall wird der Umgang mit dem Islam hin zur kompletten Abgrenzung radikalisiert.

  • Die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS, Prawo i Sprawiedliwosc) in Polen und der rechtskonservative Premierminister Viktor Orbán in Ungarn wollen überhaupt keine Muslime in ihren Ländern.
     
  • In Polen bildet die Erinnerung an den litauisch-polnischen König Jan III. Sobieski eine wirksame Erinnerungsfolie. Dieser besiegte 1683 die Türken bei Wien und gilt wie "Türkenschreck" Prinz Eugen 1716 in gleicher Funktion als Retter des Abendlandes (11).
     
  • Im aktuellen Nationalismus Ungarns wird die osmanische Zeit als Fremdherrschaft erinnert.

 

Die Auseinandersetzung mit dem Islam funktioniert oftmals nach den Prinzipien von Halbwissen, Verallgemeinerung und Herabwürdigung (12).

Allerdings trug (trägt) auch der Umgang mit katholischen Iren und Irinnen im anglikanischen England oft Elemente von Rassismus in sich. Trotzdem wären Menschen, die in den 1960er Jahren in Westdeutschland gegen die katholische Sexualmoral demonstrierten, nicht eingefallen, dies zu unterlassen, weil Katholik_innen in Nordirland und England unterdrückt wurden.

Man kann eine Religion durchaus kritisieren, ohne die Diskriminierung ihrer Angehörigen durch die Mehrheitsgesellschaft zu bagatellisieren oder zu unterstützen. Im Kontext einer zeitgenössischen Demokratisierungspolitik ist es wünschenswert, jede Religion an den Errungenschaften der Aufklärung zu messen.

Ein anderes Beispiel liefert der Versuch, sogenannte bildungsferne Schichten in den 1960er und 1970er Jahren stärker an die Universitäten heranzuführen. Die "katholische Arbeitertochter vom Land" bildete den idealtypischen Fall der Bildungsdiskriminierung. Das Engagement für sie hinderte nicht daran, die katholische Kirche und ihre Repräsentanten zu kritisieren.

 

Die Unentschlossenheit, den Islam an den Traditionen der Aufklärung zu messen, bedeutet einen schwerwiegenden Rückschritt säkularer Religionskritik von denjenigen politischen Akteur_innen, die aus der Arbeiterbewegung oder den Neuen Sozialen Bewegungen entstanden sind.

Von Fall zu Fall wird der Anspruch der allgemeinen Prinzipien der Aufklärung ohne Not eingeschränkt.

Das mag auch damit zu tun haben, dass die Kritik am Christentum für viele Linke auch Selbstkritik und Aufarbeitung der eigenen Geschichte bedeutet. Es ist die Abarbeitung an den Autoritäten aus Kindheit und Jugend. Der Islam gilt auch vielen von denen, die die Rede vom "Kampf der Kulturen" für falsch halten als "das Fremde" (13) oder als Teil davon.

Warum gibt es diese falsche Zurückhaltung, obwohl der Islam als Teil der Gesellschaft doch zu Deutschland gehört und als solcher kritisiert werden kann?

Abendländische Bedrohungsszenarien

"Abendländische Bedrohungsszenarien"

Zu den "abendländischen" Bedrohungsszenarien, die gegen den Islam immer wieder aktiviert werden gehört auch, dass er dem Christentum als jung, kraftvoll, wachsend (14) und leidenschaftlich (bis zum Fanatismus) gegenüberstellt wird.

Dieses wird beschrieben als "manchmal schwache" (15), überalterte (16), entkräftete Religion, die ihre Prinzipien längst aufgegeben und dem stetigen Mitgliederschwund und den leeren Gotteshäusern nichts mehr entgegenzusetzen habe.

Die Abkehr vieler Menschen in Deutschland vom Christentum wird in erster Linie als Mangel oder Niedergang wahrgenommen und im Nachhinein teilweise der DDR angelastet.

Die Konstruktion von Islam als jung, stark, unbedingt und Christentum als alt, schwach, beliebig greift Motive der kulturpessimistischen Thesen von Oswald Spengler auf, dessen Buch Der Untergang des Abendlandes (1918) auch von "kulturellen Alterungsprozessen" spricht.

Auch bei ihm wird das müde gewordene Abendland von einer Kultur aus dem Osten, der russischen nämlich, abgelöst.

Untergangsmotive tauchen auch wieder auf bei Samuel P. Huntington in seinem Kampf der Kulturen (1996) und Thilo Sarrazin in Deutschland schafft sich ab (2010).
 

 

Wenn der Islam angeblich "stark" ist und das Christentum "schwach", kann es nicht verwundern, dass die Forderung erhoben wird, die "abendländisch" geprägte Gesellschaft Deutschlands müsse sich wieder mehr auf ihre christlichen Wurzeln besinnen, wieder stärker ihre eigentliche Religion sichtbar in die Gesellschaft hineintragen und damit die fremden und bedrohlichen islamischen Einflüsse zurückdrängen (17).

In einem Vergleich des strikten französischen Laizismus mit dem kooperierenden säkularistischen deutschen Modell forderte der FAZ-Redakteur Rainer Hermann im Juli 2016: "Es braucht mehr Religion, um Extremismus zu bekämpfen" (18).

Tatsächlich braucht es mehr Säkularismus, einen neuen praktischen Säkularismus.

Sonst tritt an die Stelle der scheinbar neutralen Mitte der Gesellschaft der Wettstreit der Religionen, die versuchen, ihren Anspruch auf die eine Wahrheit durchzusetzen (19).

Bevor die Handlungsmöglichkeiten eines praktischen Säkularismus erörtert werden können, ist ein Blick auf die Entwicklung des Säkularismus als Teil der Aufklärung und Emanzipationsgeschichte sinnvoll, genauer gesagt auf die Religionsfreiheit.


mehr erfahren:

Literatur / Quellen

Literatur / Quellen:

Alle Links zuletzt eingesehen am 27. Jan. 2021

(1) Brech, Sarah Maria: "Als Helmut Kohl die Türken zurückschicken wollte", Die Welt (03.08.2013).
(2) Thiel, Thomas: "Missionare der türkischen Staatstheologie", FAZ (09.07.2016).
(3) Heitmeyer, Wilhelm: "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und empirische Ergebnisse aus 2002, 2003 und 2004", in: Berliner Forum Gewaltprävention (Nr. 20, S. 5-20, 2005).
(4) NSU-Watch
(5) Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.): "Islamverherrlichung. Wenn die Kritik zum Tabu wird", Wiesbaden 2010.
(6) Weidner, Stefan: "Vom Nutzen und Nachteil der Islamkritik für das Leben", in: APUZ 13-14/2011, S. 9-15.
(7) Mazyek, Aiman: "Friedensreligion oder Kultur der Gewalt?", TV-Diskussion am 24.10.2010 mit EKD-Ratsvorsitzenden Präses Nikolaus Schneider, Christian Pfeiffer und Wolfgang Bosbach.
(8) Abdel-Samad, Hamed: "Der Islam ist keine Religion des Friedens", Interview in: Die Zeit (07.12.2015).
(9) Said, Edward W.: Orientalismus, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2009 (1978)
(10) Foroutan, Naika u.a. (Hrsg.): "Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand", Berlin 2011.
(11) von Flocken, Jan: ""Türkenschreck" Prinz Eugen rettet das Abendland", Die Welt (08.11.2010).
(12) Sokolowsky, Kay: "Feinbild Moslem", Berlin 2009.
(13) Bielefeld, Uli (Hrsg.): "Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt?", Hamburg 1992.
(14) Pew Research Center, Die Welt (05.04.2017).
(15) Benedikt XVI.: Botschaft des Heiligen Vaters an die Leser der Münchner Kirchenzeitung, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 174, S. 13-14. (2006).
(16) Alexander, Dietrich: "Muslime - Gewinner des demografischen Wandels", Die Welt (23.06.2015).
(17) Girard, René: "Das Christentum ist allen anderen Religionen überlegen", Interview in: Die Welt  (14.05.2005)
(18) Hermann, Rainer: "Es braucht mehr Religion, um Extremismus zu bekämpfen", FAZ (22.07.2016).
(19) Rhonheimer, Martin: "Christentum und säkularer Staat. Geschichte - Gegenwart - Zukunft", 2. Aufl., Freiburg/Basel/Wien u.a., 2012. 


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