Kleinwächter: Die neue Komplexität der Internet Governance spiegelt den politischen Mainstream Ende der 2010er Jahre wider: Der digitale Neo-Nationalismus wächst. The Freedom House hat seinen Jahresbericht 2018 mit dem Titel „The Rise of Digital Authoritarianism“ versehen. Immer mehr Regierungen betrachten globale internetbezogene politische Fragen hauptsächlich aus nationaler Sicht. Sie wollen den grenzüberschreitenden Datenfluss kontrollieren, da sie befürchten, dass die grenzenlose Kommunikation die nationale Sicherheit, die heimische digitale Wirtschaft oder die lokale Kultur untergräbt. Stichworte sind „Cyber-Souveränität“, „Nationale Internet-Segmente“ oder „Mein Land zuerst“. Ziel ist es, die Grenzen wieder einzuführen, die die Informationsrevolution beseitigt hatte, als TCP / IP- und DNS-basierte Netzwerke den gesamten Globus umfassten.
Viele Regierungen glauben nicht mehr an globale Lösungen zur Bekämpfung von Cyberterrorismus, grenzüberschreitender Cyberkriminalität oder digitaler Dominanz. Sie bevorzugen einseitige Aktionen innerhalb ihrer eigenen Gerichtsbarkeit. Russland hat ein staatlich kontrolliertes DNS aufgebaut, China filtert schädliche Inhalte. Iran, Saudi-Arabien und Indien führen strenge Gesetze zur Datenlokalisierung ein. Die USA schließen Huawei vom Aufbau von 5G-Netzwerken aus. Frankreich strebt eine digitale Digitalsteuer an. Deutschland drängt Facebook, gefälschte Nachrichten und Hassreden zu blockieren. Und Regierungen in vielen Entwicklungsländern setzen das gesamte Internet außer Betrieb, sobald etwas passiert, was ihnen nicht gefällt. 22 von 51 afrikanischen Staaten haben in den letzten fünf Jahren die Konnektivität unterbrochen.
Bedeutet das, dass wir Rückwärtsschritte machen und Barrieren wieder einführen, die durch die digitale Revolution eigentlich beseitigt wurden?
Ein fragmentiertes Internet würde den Wert des globalen Netzwerks verringern, zu Instabilität im Cyberspace führen, Innovation und Wirtschaftswachstum verringern, nationalen Protektionismus fördern, lokale Zensur und Überwachung anregen. Es würde Türen für neue Formen der Konfrontation zwischen nationalen Internet-Segmenten öffnen, einschließlich Netzwerkkriegen mit einer neuen Generation von Cyberwaffen. Heutzutage sehen einige Regierungen das globale Internet weniger als Chance für eine Win-Win-Situation, sondern eher als Nullsummenspiel mit Gewinner_innen und Verlierer_innen. Sie glauben, dass sie die nationale politische Stabilität gewinnen (und die lokale Macht stärken) können, wenn sie das Internet regulieren, indem sie die damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten in ihrem Hoheitsgebiet einschränken. Aber dieser Ansatz hat eine Kehrseite. Die Wiedereinführung nationaler Grenzen in den globalen Cyberspace schafft nicht wirklich mehr Sicherheit. Sie führt zu einer Illusion von Kontrolle, entspricht jedoch nicht den Realitäten des Informationszeitalters. Wie bei der Umwelt löst isoliertes Handeln die globalen Probleme der Menschheit nicht.
Der französische Präsident Macron hat beim IGF 2018 in Paris einen “innovativen Multilateralismus” in Fragen der Internetregulation ausgerufen. Würde das nicht zwingend bedeuten, eine noch stärkere Einbeziehung von nicht-staatlichen Akteuren in den wichtigsten Foren der internationalen Politik – UN, WTO, G20 – zu sichern?
Das UN High Level Panel on Digital Cooperation spricht über das Zeitalter der digitalen Interdependenz. Interdependenz meint, dass kein Land mehr isoliert leben kann. Dies bedeutet auch, dass Lösungen nur durch eine verstärkte Zusammenarbeit aller Beteiligten, d.h. Regierungen, Unternehmen, Zivilgesellschaft und der technischen Community, gefunden werden können. Dies wiederum heißt, dass Lösungen nur gefunden werden können, wenn die Sektoren Cybersicherheit, digitaler Handel, Menschenrechte und Technologie – die vier Bereiche der digitalen Welt – miteinander verknüpft sind. Es gibt keine Alternative zu einem ganzheitlichen und kollektiven Ansatz. Innovativer Multilateralismus braucht Weisheit und Mut, aber vor allem politisch guten Willen, der in unserer Zeit selten geworden ist. Digitaler Unilateralismus bietet niedrig hängende Früchte. Aber diese Früchte sind vergiftet. Digitaler Unilateralismus kann die Aufrüstung des Cyberspace, digitale Handelskriege und massive Menschenrechtsverletzungen im Internet auslösen. Er kann die Stabilität im Cyberspace untergraben - ein Raum, der heute von mehr als der Hälfte der Menschheit genutzt wird. Der Cyberspace wurde vom Menschen gemacht. Für zukünftige Generationen ist der Cyberspace jedoch Teil des gemeinsamen Erbes der Menschheit, ihres Ökosystems als natürliche Umwelt. Und man sollte keinen Zweifel daran haben, dass Instabilität im Cyberspace genauso gefährlich ist wie der Klimawandel.
Wolfgang Kleinwächter ist emeritierter Professor für Internet Policy an der Universität Aarhus. Er ist Mitglied der Global Commission on Stability in Cyberspace, war Mitglied des ICANN Board (2013 bis 2015) und Sonderbotschafter der Net Mundial Initiative (2014 bis 2016). Außerdem berät er zahlreiche Gremien und Institutionen zum Thema Internet Governance und Sicherheit – darunter die Vereinten Nationen, das Internet Governance Forum und die EU.
Die Fragen stellte Jan Engelmann vom irights.Lab, Co-Autor der aktualisierten und ergänzten Neuauflage von "Wer regiert das Internet?".