Kritik an der Naturzerstörung als Gesellschaftskritik
„Seit etwa zwei Jahrzehnten wird halb Europa: Deutschland, Österreich, die Schweiz, Frankreich und Norditalien, mit fürchterlicher Regelmäßigkeit jeden Frühling und Sommer von den verheerenden Überschwemmungen heimgesucht: Hunderte von Menschenleben gehen zu Grunde, Werthe aller Art werden beschädigt oder vernichtet, Grund und Boden wird verwüstet und auf Jahre oder für immer der Kultur entzogen, in den betroffenen Gegenden Jammer, Elend, Armuth und Krankheiten hervorgerufen.“
Nein, dies ist keine apokalyptische Rückschau mit Tippfehlern aus dem Jahr 2040 auf unsere Gegenwart. Vielmehr stammt der Text aus der Feder von Georg von Vollmar, dem hoch verehrten und zutiefst abgelehnten Sozialdemokraten, aus dem Jahr 1875. Vollmar war 25 Jahre alt, als er diesen Text veröffentlichte und offenbar hatte er sich zu diesem Zeitpunkt mit Wetterphänomenen und klimatischen Veränderungen als Folge der großflächigen Abholzung von Baumbeständen beschäftigt:
„Was uns der Wald ist, zeigt sich am besten, wenn er nicht mehr vorhanden. Dadurch, daß die atmosphärische Feuchtigkeit nicht mehr durch den Wald angezogen wird, häuft sie sich übermäßig an und entladet sich in selteneren , aber desto heftigeren Niederschlägen, die nun nicht mehr als erquickende Thaue und befruchtende Regen, sondern als gefährliche Gewitter, als vernichtende Wolkenbrüche, Froste und Hagelschläge auftreten.“
Aber dem jungen Vollmar ging es nicht nur um die plastische Darstellung der bedrohlichen Folgen des Raubbaus an der Natur, sondern auch um die Kritik an einer Gesellschaftsordnung, die es ermöglicht, dass der Wald, „dieser große Beschützer und Wohlthäter der Menschheit“, von wenigen zum Schaden aller ausgebeutet wird.
„Ja, wenn unsere Staaten, Regierungen, Parlamente nicht die Geschöpfe und Repräsentanten unserer heutigen Gesellschaft wären, jener Gesellschaft, die nicht auf der Gleichberechtigung aller, sondern auf der Bevorrechtung Einzelner, auf der Ausbeutung der Gesammtheit durch einige Wenige basirt, kurz, wenn unsere Staaten, Regierungen, Parlamente eben nicht unsere heutigen Staaten, Regierungen, Parlamente wären, denen das Gemeinwohl erst dann in Frage kommt, wenn es den Zwecken und dem Wohl jener Wenigen, der herrschenden Klasse, nicht hindernd in den Weg tritt!“
Vollmar forderte ein Forstwirtschaftsgesetz, das Dispositionsbeschränkungen für Privatwaldbesitzer auferlegt, eine strenge Staatsaufsicht über sämtliche Privatwälder.
Doch letzten Endes sah er die Lösung aller Probleme nur in der „Aufhebung des Privateigenthums an den Arbeitsmitteln, vor allem an Grund und Boden!“, im Sozialismus. Immer noch aktuell ist die von Vollmar dargestellte Auswirkung von schnellem Gewinn durch Ausbeutung für zukünftige Generationen:
„Der Wald wird also nach Herzenslust ausgebeutet, verwüstet, vernichtet; das Kapital hat nur seinen Vortheil und das Heute im Auge – Après nous le déluge! (nach uns die Sintfluth!) – um das Gemeinwohl und die Zukunft kümmert es sich nicht.“
Beeindruckend ist in dieser Schrift zum einen die sprachliche Wucht – man kann sich den Versammlungsredner Georg von Vollmar sehr gut vorstellen. Zum anderen ist diese frühe journalistisch-agitatorische Arbeit mit ihrer Argumentationslinie, die vom Umweltschutz zur Gesellschaftskritik führt, Ausdruck für Georg von Vollmars Weg zur Sozialdemokratie.
Ein Adliger in der Sozialdemokratie
Denn der familiäre Hintergrund sprach nicht dafür, dass Georg von Vollmar den Weg zur Sozialdemokratie finden sollte. Er stammte aus einer katholisch-adligen bayerischen Beamtenfamilie. Früh hatte er die Militärlaufbahn eingeschlagen bzw. hatte sie aus familiären Gründen einschlagen müssen. Dabei durchlief er eine äußerst wechselhafte Laufbahn. Einerseits schon mit knapp 16 Jahren Unteroffizier im Krieg von 1866 gegen Preußen, andererseits desertierte er von den bayrischen Truppen und bewarb sich in Rom bei der päpstlichen Armee. Im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zog er sich unter ungeklärten Umständen eine Schussverletzung am Fuß zu, wurde beim Abtransport erneut verletzt und litt zeitlebens an einer Rückenmarksverletzung.
In der Rekonvaleszenz, die ihn auch in den schweizerischen Kanton Waadt führte, beschäftigte sich Vollmar nicht nur mit dem Naturschutz sondern näherte sich auch sozialdemokratischen Ideen an. Seine journalistischen Fähigkeiten und Kenntnisse verhalfen ihm 1877 zu einer Anstellung als Redakteur in Dresden bei dem „Volksboten“. Nach einer Gefängnisstrafe wegen seiner Artikel ging Vollmar in die Schweiz und arbeitete in der Exil-Zeitung „Der Sozialdemokrat“.
Zu dieser Zeit hatte Vollmar in August Bebel einen Förderer. Während seiner Haftstrafe 1878 schrieb Bebel an Vollmar: „Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise dienen, so wollen Sie mir nur ungeniert schreiben, was zu tun möglich ist, soll geschehen.“ Auch in London war Friedrich Engels von Vollmars Entwicklung angetan: Vollmars Artikel im „Sozialdemokrat“ würden zeigen, dass er „sich sehr herausgemacht“ habe. „Es sollte mich freuen, wenn dies sich auch sonst bestätigte, wir können tüchtige Leute verdammt gut brauchen“, schrieb Engels an August Bebel.