Die Metropolregion Ruhr ist der Inbegriff eines wirtschaftlich starken und robusten Industriegebietes, mit innovativen und in ihrem Feld führenden Unternehmen, jahrzehntelanger Tradition und einer eigenen Identität. Viele energieintensive Unternehmen, beispielsweise aus der Stahl- und Zementindustrie, sind im Ruhrgebiet ansässig. Umso größer ist die Herausforderung, die Wirtschaft im Ruhrgebiet klimaneutral zu gestalten. Eine mögliche Lösung lautet „Wasserstoff“ – ein Begriff, der im Zuge der Debatte um die Bekämpfung des Klimawandels – neben dem der Erneuerbaren Energien – inzwischen in aller Munde ist.
Aber was hat es mit diesem „starken Stoff“ auf sich? Was ist gemeint, wenn von grauem, blauem, rotem oder grünem Wasserstoff die Rede ist und welche Versprechen kann Wasserstoff als Energieträger tatsächlich einlösen? In welchen Branchen ist er ökonomisch darstellbar und wie steht es um die Infrastruktur? Kann Wasserstoff die Transformationsprozesse im Ruhrgebiet vorantreiben und gleichzeitig das Ziel einer klimaneutralen Industrie fördern? Welche Rahmenbedingungen müssen dafür von der Politik geschaffen werden? Um diese Fragen ging es in der Online-Diskussion des Landesbüros Nordrhein-Westfalen der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Die Potentiale von Wasserstoff im Industriestandort Ruhrgebiet
Bereits in der Begrüßung betonte Dr.Annika Arnold, dass mit der Wasserstofftechnologie die große Chance für das Ruhrgebiet verbunden ist, „dass sowohl Wirtschaftskraft als auch Arbeitsplätze in der Region erhalten werden und trotzdem ein gewaltiger Beitrag zu den bundesweiten Klimazielen geleistet werden können.“ Moderator Tom Hegermann unterstrich diesen Gedanken und verwies einleitend darauf, dass „nicht wenige Expert_innen sagen, dass sich für Deutschland genau hier im Ruhrgebiet entscheidet, ob die Energiewende gelingt oder nicht.“
Die Veranstaltung wurde eröffnet durch Dr.-Ing. Anna Grevé, Abteilungsleiterin Elektrochemische Energiespeicher beim Fraunhofer Institut UMSICHT, die von der ingenieurswissenschaftlichen Perspektive den aktuellen Stand und die Möglichkeiten von Wasserstoff als Energieträger darstellte. Sie verdeutlichte, „dass Wasserstoff in vielen Industrien eine zentrale Rolle spielen wird.“ So ließe sich zum Beispiel die Stahlindustrie mit Wasserstoff dekarbonisieren. Des Weiteren hob Grevé hervor, dass die Metropole Ruhr an Platz 1 der Wasserstoffregionen liegt. Mit Blick auf Förderprogramme, Initiativen, Road Maps und die nationale Wasserstoffstrategie konstatierte sie: „Wasserstoff ist in der Politik angekommen.“
Die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen als Aufgabe der Politik
Diesen Ball nahm André Stinka MdL auf, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD im Landtag NRW und Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft, Energie und Landesplanung. In seiner politischen Einordnung machte er deutlich, dass „ohne Wasserstoff keine Klimaneutralität für ein Industrieland wie NRW zu erreichen ist“. Er betonte jedoch auch, dass erneuerbare Energien und Wasserstoff immer zusammen betrachtet werden müssen. Mit Blick auf die Industrie stellte er klar, dass „wir die energieintensiven Unternehmen nicht allein lassen“ dürfen. In dem Zusammenhang schlug er vor, einen Stabilitätsfonds einzurichten, damit Unternehmen den klimafreundlichen Umbau gestalten können. Als Beispiel für eine weitere Maßnahme nannte er eine Vorrangstellung bei Ausschreibungen der öffentlichen Hand für solche Unternehmen, die C02-freien Stahl produzieren. Auf diese Weise sollen Märkte für grünen Wasserstoff geschaffen und angekurbelt werden.
Die Perspektiven aus Forschung und Politik wurden ergänzt durch Lars Baumgürtel, CEO der ZINQ GmbH und Co. KG. Er betonte: „Die Industrie ist in vielen Bereichen schon so weit, dass sie dekarbonisieren würde – auch mittels Wasserstoff.“ Das Problem sei lediglich, dass an einigen Stellen noch die Wasserstoff-Quelle fehle. Demnach solle Druck ausgeübt werden, um die Bereitstellung von Infrastruktur zu beschleunigen, bspw. durch den „Klimahafen Gelsenkirchen“, der ein Anwendungscluster zur Dekarbonisierung industrieller Prozesswärme darstellt. Lars Baumgürtel nannte den Mittelstand als zentralen Akteur in der Wasserstoffbranche und präsentierte folgendes Ziel für die Industrie: „Wir brauchen eine H2-Infrastruktur und wir brauchen diese so bis 2035, dass 50 Prozent der energieintensiven Unternehmen auch wirklich angeschlossen sind.“
„Um die Infrastruktur zu schaffen, brauchen wir diesen Übergang.“
In der darauffolgenden Diskussion kristallisierte sich die Frage heraus, wie der Übergang zu grünem, also klimaneutralem Wasserstoff gestaltet werden soll. Hintergrund ist, dass in der Wirtschaft momentan noch nicht ausschließlich grüner Wasserstoff verwendet wird. Anna Grevé erläuterte, dass Wasserstoff in Deutschland im Moment so klimafreundlich sei wie unser Strommix und demnach mehr erneuerbare Energien notwendig seien. André Stinka ergänzte: „Um die Infrastruktur zu schaffen, brauchen wir diesen Übergang.“ Denn: „Wenn wir erst warten würden mit neuen Investitionen bis wir genügend grünen Wasserstoff haben, dann hätten wir Jahre verschenkt“. Auch Lars Baumgürtel stimmte zu und unterstrich, dass jeder Schritt – auch über zunächst nicht ausschließlich grünen Wasserstoff – als Fortschritt betrachtet werden müsse. Das übergeordnete Ziel könne aber nur sein, „dass es in den industriellen Anwendungen nur noch kohlenstofffreie Energieträger gibt.“
Industrie und Mobilitätswende in Konkurrenz um Wasserstoff
Solange grüner Wasserstoff begrenzt ist, müsse man schauen, wo er am effektivsten eingesetzt werden kann, betonte Anna Grevé und beleuchtete somit die Fragen nach Verfügbarkeit und Priorisierung. Lars Baumgürtel hob in dem Zusammenhang deutlich hervor, dass man der Industrie den Vorrang in der Nutzung des vorhandenen Wasserstoffs geben sollte, anstatt ihn bspw. im Güterverkehr als alternativen Antrieb flächendeckend einzusetzen. Darüber hinaus forderte er, „dass im Ausland genügend Anreize geschaffen werden, damit dort, wo die Bedingungen ideal sind, aus erneuerbaren Energien hinreichende Mengen Wasserstoff für uns erzeugt werden.“ Bezüglich der Produktion im Ausland und damit verbundenem Import von Wasserstoff warf André Stinka ein, dass es aber auch einen fairen Ausgleich und Vorteile für die Länder geben müsse, in denen man produzieren würde.
„Menschen müssen qualifiziert und umgeschult werden.“
Im weiteren Verlauf der Diskussion griff Tom Hegermann die Frage auf, was der zuvor skizzierte Weg eines Umbaus der Industrie für die Beschäftigten bedeutet. „Wenn wir nichts unternehmen, dann gehen viele Arbeitsplätze verloren“, warnte André Stinka und wagte einen Blick in die zukünftige Arbeitswelt: „Menschen müssen qualifiziert und umgeschult werden.“ Er sehe es als wichtige Aufgabe an, die erwähnten Transformationsprozesse auf Ebene der Beschäftigten – beispielsweise über Betriebsräte – zu begleiten und forderte eine „Qualifizierungsoffensive“. Lars Baumgürtel teilte die Ansicht, dass Fortbildungen und Qualifizierungen sinnvoll seien und fügte hinzu, dass durch die Transformation neue Berufsbilder entstehen werden. Des Weiteren betonte er die Notwendigkeit umfassender Innovationen und sieht es als wichtig an, „dass wir die Mitarbeiter_innen in den Betrieben auch gerade im Mittelstand mit auf diese Reise nehmen.“
Das Henne-Ei-Problem von Infrastruktur und Investition in neue Energieträger
Abschließend stellte Tom Hegermann, angelehnt an eine Anmerkung aus der Reihe der Teilnehmenden, die Frage, ob es nicht erst eine Wasserstoff-Infrastruktur geben müsse, bevor Unternehmen umfassend in die neue Technologie investieren. Daraufhin erklärte Anna Grevé, dass dieses Dilemma, das sie als „Henne-Ei-Problem“ beschrieb, natürlich bei jeder neuen Technologie auftrete und nahm die Politik in die Verantwortung: „Da ist der Gesetzgeber gefragt, die regulatorischen Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Industrien in solche Technologien investieren.“ Die ZINQ GmbH ist bereits intensiv in die Wasserstofftechnologie eingestiegen und ihr CEO riet anderen Unternehmen, „das gleiche zu tun, anzufangen, die Möglichkeiten zu nutzen, die man hat.“ Dabei sieht er nicht nur Großunternehmen in der Pflicht, sondern forderte auch: „Es muss einen Weckruf durch den Mittelstand geben.“
Mit Blick auf die zum Abschluss der Veranstaltung thematisierten Kosten des Umbaus der Industrie verwiesen sowohl Anna Grevé als auch André Stinka darauf, dass man diese Investitionskosten immer in Relation zu den – auch zukünftigen – Kosten für die Folgen des Klimawandels sehen müsse. Darüber hinaus untermauerte André Stinka erneut, dass der Wasserstoffausbau mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien zusammenhänge. Zusammenfassend bilanzierte er: „Die Politik hat den Auftrag, das in die Öffentlichkeit zu tragen.“
Die Veranstaltung hat auch gezeigt, dass noch viele Fragen rund um den Themenkomplex Wasserstoff offen sind. Von der Frage, ob nur auf grünen Wasserstoff gesetzt werden soll, über die Frage der Konkurrenz um den Energieträger zwischen den verschiedenen Bereichen wie Mobilität und Industrie bis hin zu Fragen einer globalen Gerechtigkeit bei der Produktion von Wasserstoff im Ausland.
Wir möchten in weiteren Veranstaltungen diese Fragen aufgreifen und weiterverfolgen, bspw. auf der Konferenz „RuhrzeitZukunft“ am 29.11.2021 in Essen – Anmeldungen sind hier möglich.