Zwischen Ungewissheit und Zuversicht: Jugend im Nahen Osten und Nordafrika

In acht Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas führte die Friedrich-Ebert-Stiftung 2016/2017 eine große repräsentative Umfrage unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch. Die Ergebnisse bieten spannende Einblicke in Lebensgefühl, Selbstverständnis und Zukunftsvorstellungen von rund 9.000 jungen Menschen zwischen 16 und 30 Jahren aus Ägypten, Bahrein, Jemen, Jordanien, Libanon, Marokko, Palästina, Syrien und Tunesien.

Die Umfrageergebnisse zeigen die Unsicherheiten, mit denen junge Menschen aus der Region in vielen Bereichen konfrontiert sind. Angesichts dieser Zwänge finden die jungen Menschen jedoch Wege, mit den schwierigen Umständen umzugehen und eigene Lösungen zu finden, um voranzukommen. Viele von ihnen blicken zuversichtlich in die Zukunft, trotz großer wirtschaftlicher Umwälzungen und geringer politischer Partizipationsmöglichkeiten sowie Gewalt, Krieg, Armut und Hunger in einigen Ländern.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung sieht in der Jugend einen entscheidenden Faktor für die demokratische Entwicklung der Region und möchte deren Potenziale stärken, Veränderungen in Politik und Gesellschaft anzustoßen. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Jugendstudie will sie eine Auseinandersetzung mit der Situation von Jugendlichen in der MENA-Region anregen.

Vertiefende Analysen der Umfrageergebnisse sind in einem von Jörg Gertel und Ralf Hexel herausgegebenen Sammelwerk auf Deutsch, Englisch und Arabisch erschienen. Mit Beiträgen von: Mathias Albert, Ines Braune, Helmut Dietrich, Jörg Gertel, Sonja Hegasy, Ralf Hexel, David Kreuer, Rachid Ouaissa, Carola Richter, Christoph H. Schwarz, Nadine Sika, Thorsten Spengler, Friederike Stolleis, Ann-Christin Wagner, Isabelle Werenfels und Tamara Wyrtki.

Zwischen Ungewissheit und Zuversicht

Jugend im Nahen Osten und in Nordafrika
Berlin, 2021

Publikation herunterladen (7 MB, PDF-File)


Coping with uncertainty

Youth in the Middle East and North Africa
Berlin, 2021

Publikation herunterladen (4 MB, PDF-File)


[The predicament of youth in the Middle East and North Africa]

Berlin, 2021

Publikation herunterladen (7 MB, PDF-File)


Hauptergebnisse der Studie 2016

1. Junge Menschen in der MENA-Region sind verwundbar

Selbst bei deutlich verbesserter Bildung ist der soziale Aufstieg für viele unerreichbar geworden. Nur ein Drittel der jungen Menschen in der MENA-Region (ohne Schüler und Studenten) verfügt über ein regelmäßiges Einkommen, alle anderen sind zeitweise oder dauerhaft ohne Arbeit. Ungewissheit und Verwundbarkeit werden so zu chronischen Zuständen, Prekarität ist allgegenwärtig. Selbst junge Familien, die als gut ausgebildete Doppelverdiener starten, werden durch massive wirtschaftliche Probleme eingeschränkt.

2. Die Familie ist der wichtigste Bezugspunkt

Die Familie spielt für junge Menschen in der MENA-Region weiterhin eine zentrale Rolle. Ein Ausbruch aus der Familie ist für diese Generation kaum vorstellbar, da kaum eine andere Institution ein Sicherheitsnetz bei wirtschaftlicher Unsicherheit bietet. Junge Männer und Frauen sind an starken familiären Bindungen interessiert, halten es für wichtig, eigene Kinder zu haben und würden in deren Erziehung wenig anders machen als ihre Eltern. Gleichzeitig verfolgen sie aber eigene Ziele, wie z.B. den Wunsch, sich den Ehepartner selbst auszusuchen.

3. Die Geschlechterrollen junger Menschen spiegeln intersektionale Ungleichheiten wider

Gesellschaftliche Ungleichheiten werden in der MENA-Region oft als geschlechtsspezifisch verstanden, ein Ansatz, der andere entscheidende Faktoren nicht berücksichtigt oder sogar verschleiert. In Bezug auf sexuelle Belästigung zum Beispiel haben junge Männer und Frauen gleichermaßen frauenfeindliche Einstellungen, unabhängig von ihrem Bildungsstand. Geschlechterfragen sind also immer in die Gesellschaft eingebettet und müssen innerhalb sozialer Konfigurationen behandelt werden.

4. Religiosität nimmt zu, wird aber auf individueller Ebene praktiziert

Während die empirischen Daten zunächst das Bild von eher frommen Jugendlichen in der MENA-Region liefern, betrachten junge Menschen Religion zunächst als private Angelegenheit, als Hoffnungsgeber und Quelle von Optimismus. Religion dient nicht mehr politischen oder ideologischen Zwecken, sondern dem individuellen Wohlfühlen und der Selbstdisziplinierung. Sie wird zum Kanal der Spiritualität und weniger Ausdruck von Ideologie oder Politik. Der Grad der Frömmigkeit steigt, jedoch vor allem auf individueller Ebene und nicht mehr als eine kollektive Sozialutopie.

5. Junge Menschen distanzieren sich von Politik

Die Aufstände von 2010/11 verdeutlichen das Potential der Politisierung der jungen Bevölkerung in den MENA-Länder, die vielfach nur eine eingeschränkte politische Öffnung zulassen. Eine große Mehrheit der jungen Menschen distanziert sich nach der Erfahrung der zurückliegenden Jahre von der Politik und betont, sie sei nicht an ihr interessiert. Dies bezieht sich jedoch häufig auf Parteipolitik, denn gleichzeitig existiert Interesse und Engagement in den Felden der Alltagspolitik.

6. Demokratie ist das bevorzugte politische System

Bei der Frage nach politischen Systemen ist Demokratie eindeutig die Top-Präferenz der jungen Menschen in der MENA-Region. Gleichzeitig wünscht sich ein Großteil der Jugendlichen eine größere Präsenz des Staates. Hierbei geht es in erster Linie um eine verbesserte soziale Sicherheit, die der Staat bei wachsenden Unsicherheiten bereitstellen solle. Junge Menschen verkörpern somit ein erhebliches Potenzial für einen konstruktiven Wandel politischer Ordnungen in der Zukunft.

7. Politische Mobilisierung konzentriert sich auf sozioökonomische Ziele

Die Ereignisse von 2010/11 markieren den bisherigen Höhepunkt der politischen Mobilisierung der Jugend, die auf eine Veränderung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft abzielt. Trotz der Desillusionierung, die für viele in den letzten Jahren mit den formalen politischen Prozessen einhergingen, sind junge Menschen weiterhin bereit, politisch aktiv zu werden. Allerdings haben sich ihre Aktionsfelder verschoben: Sie treten nun vor allem für sozioökonomische Ziele und nicht mehr für politischen Wandel ein.

8. Bürgerschaftliches Engagement findet außerhalb von Institutionen statt

Junge Männer und Frauen in der MENA-Region sind grundsätzlich bereit, sich für die Interessen anderer und für soziale Ziele einzusetzen. Selten engagieren sie sich jedoch in formalen zivilgesellschaftlichen Organisationen; nur ein Drittel der politisch aktiven Jugendlichen agiert innerhalb eines institutionellen Rahmens. Mit dem Wandel der Werte und Ziele junger Menschen und dem festen Griff, mit dem autoritären Staaten der Region bürgerschaftliches Engagement kontrollieren und kooptieren, haben zivilgesellschaftliche Organisationen für die junge Generation offensichtlich an Attraktivität verloren.

9. Die meisten jungen Menschen wollen nicht auswandern

Trotz der Unsicherheit, die in der Region herrscht, ist nur eine kleine Gruppe junger Menschen fest zur Migration entschlossen. Die Arbeitsmigration konzentriert sich auf andere MENA-Länder ausgerichtet. Die Abicht, im Ausland Arbeit zu suchen, ist begrenzt. Aufgrund ihrer vielfach prekären Situationen sind Betroffene zwischen vorübergehenden Abwanderungsüberlegungen und der tiefen Verbundenheit mit ihren Heimatländern und ihren Familien hin- und hergerissen. Emigration wird dabei keineswegs als „einfacher Ausweg“ verstanden.

10. Die MENA-Jugend blickt optimistisch in die Zukunft

Während die politische und wirtschaftliche Situation in den Ländern der MENA-Region derzeit wenig Anlass zu Optimismus bietet, zeichnen die Studienergebnisse ein Bild von jungen Menschen, die besser ausgebildet sind als je zuvor, eine starke emotionale Bindung zu ihren Heimatländern und eine positive Lebenseinstellung haben und bereit sind,Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv in die Lösung gesellschaftlicher Probleme einzubringen.

Die Ergebnisse können Sie auch hier als PDF-Datei herungerladen.

Umfragedaten

Die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung und in Zusammenarbeit mit Kantar Public (vormals TNS Infratest Politikforschung) und der Universität Leipzig erhobenen Umfragedaten sind in einzelnen PDF-Dateien (englisch) zusammengeführt:

Fragebogen,MENA Regional gesamt, Ägypten,  BahrainJemen, Jordanien, Libanon, Marokko, Palästina, Syrische Flüchtlinge, Tunesien

 

Zusätzlich zu der regionalen Jugendstudie wurden Länderanalysen erstellt:

Jemen

Transfeld, Mareike

Warten auf den Staat, Rückhalt in der Familie

Die jemenitische Jugend in Not : FES MENA-Jugendstudie: Länderanalyse Jemen
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (130 KB, PDF-File)


Transfeld, Mareike

Waiting for the state, relying on the family

Yemen's youth in peril : FES MENA youth study: country analysis Yemen
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (120 KB, PDF-File)


Jordanien

Kreitmeyr, Nadine

Optimistisch in unsicheren Zeiten

Ein Bericht über die Jugend in Jordanien : FES MENA-Jugendstudie: Länderanalyse Jordanien
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (300 KB, PDF-File)


Kreitmeyr, Nadine

Optimism during uncertain times

A report on Jordanian youth : FES MENA youth study: country analysis Jordan
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (220 KB, PDF-File)


Libanon

Rosiny, Stephan

Der Libanon: Vorläufer des Arabischen Frühlings?

Die Jugend ist skeptisch, aber nicht hoffnungslos : FES MENA-Jugendstudie: Länderanalyse Libanon
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (160 KB, PDF-File)


Rosiny, Stephan

Lebanon: The predecessor of the Arab Spring?

The youth is sceptical but not desperate : FES MENA youth study: country analysis Lebanon
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (180 KB, PDF-File)


Marokko

Hegasy, Sonja

Das Soziale ist politisch

Eine Umfrage unter jungen Menschen in Marokko : FES MENA-Jugendstudie: Länderanalyse Marokko
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (280 KB, PDF-File)


Palästinensische Gebiete

Khatib, Ghassan

Abkehr von der Politik

Eine Umfrage unter jungen Menschen in Palästina : FES MENA-Jugendstudie: Länderanalyse Palästina
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (210 KB, PDF-File)


Khatib, Ghassan

Turning away from politics

A survey among Palestinian youth ; FES MENA youth study: country analysis Palestine
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (200 KB, PDF-File)


Tunesien

Dihstelhoff, Julius

Umgang mit Frustration

Eine Selbsteinschätzung der tunesischen Jugend : FES MENA-Jugendstudie: Länderanalyse Tunesien
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (600 KB, PDF-File)


Dihstelhoff, Julius

Coping with frustration

A self-assessment of Tunisian youth ; FES MENA youth study: country analysis Tunisia
Berlin, 2018

Publikation herunterladen (250 KB, PDF-File)


Pressestimmen

fowid, 20.09.2019: Jugend, Religion und Staat in der MENA-Region | fowid - Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland

SN-Online, 18.01.2018: Jugend im Nahen Osten - Zwischen Ungewissheit und Zuversicht – www.SN-Online.de (sn-online.de)

Die Tagespost, 17.01.2018: Spiritualität als Zufluchtsort

qantara.de, 16.01.2018: Arabische Jugend – Zuversicht trotz Krise

idw, 15.1.2018: Geringe Migrationsbereitschaft junger Menschen aus der arabischen Welt

Die Welt, 13.1.2018: Für die Jugend ist nichts besser geworden

qantara.de, 9.1.2018: Religion als Zufluchtsort

IslamiQ, 7.1.2018: Zunahme der Religiosität unter Jugendlichen

Deutsche Welle, 4.1.2018: Arabische Jugend: Zuversicht trotz Krise

Tiroler Tageszeitung, 3.01.2018: Jugend im Nahen Osten: Zwischen Ungewissheit, Zuversicht und Religion | Tiroler Tageszeitung Online – Nachrichten von jetzt! (tt.com)

Mainpost, 3.01.2018: Jugend im Nahen Osten: Ungewissheit, Zuversicht und Religion (mainpost.de)

swissinfo.ch, 3.01.2018: Jugend in Nahost laut Studie trotz großer Probleme optimistisch

religion.ORF.at, 3.1.2018: Nahost-Studie: Religion für Jugendliche wichtig

Handelsblatt, 3.1.2018: Jugend im Nahen Osten: Besser gebildet als je zuvor und der Heimat verbunden

Süddeutsche.de, 3.1.2018: Arabische Jugend optimistisch

FAZ, 3.1.2018: Arabische Jugend, das unbekannte Wesen

Spiegel online, 3.1.2018: Jugend in arabischer Welt blickt optimistisch in die Zukunft