„Willkommenskultur und Willkommensstruktur“

Ein Interview über Flüchtlingspolitik im deutschen Föderalismus mit Prof. Dr. Dietrich Thränhardt und Prof. Dr. Karin Weiss.

Am 26.9.2016 präsentierte die Friedrich-Ebert-Stiftung zwei Gutachten zur Aufgaben- und Lastenverteilung in der Flüchtlingspolitik zwischen Bund, Ländern und Kommunen (Programm). Wir haben mit den Autoren gesprochen.

Das FES-Gutachten thematisiert die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Besteht denn dabei größerer Veränderungsbedarf?

Wichtiger als Veränderungen in den Zuständigkeiten wäre eine deutlich stärkere Beteiligung des Bundes an den hohen Kosten, die nach wie vor Länder und Kommunen zu stark belasten, und eine gute Aufgabenerfüllung, insbesondere beim BAMF. Nachdem das Bundesinnenministerium über Jahre dort zu wenig Personal bereitgestellt hat und die Abläufe unbefriedigend waren, befindet sich das BAMF nun in einem Aufholprozess. Die Bearbeitung der Anträge ist aber nach wie vor  quantitativ und qualitativ unbefriedigend. Das belastet die Flüchtlinge, behindert alle weiteren Integrationsbemühungen und bereitet den Ländern und Kommunen große Probleme.


Sie schreiben, dass es neben einer Willkommenskultur auch einer Willkommensstruktur bedarf. Was meinen Sie damit?

Jeder Flüchtling braucht einen klaren Fahrplan mit zügigen Abläufen und einer zügigen Entscheidung über den Asylantrag sowie klare Vorstellungen darüber, wie es dann weiter gehen könnte. Von Anfang an muss es möglich sein, Deutsch zu lernen. Die Zugänge zu Bildung und Arbeit sollten deutlich erweitert und verbessert werden. Sprachkurse müssen mit einem Berufseinstieg verbunden, die Systeme durchlässiger werden.

In der medialen Berichterstattung zu Ihrem Gutachten wurde vor allem vermittelt, Sie fordern „Hartz IV für alle Flüchtlinge“. Ist das ein wichtiger Vorschlag Ihres Gutachtens?

Es geht uns darum, dass Flüchtlinge möglichst schnell arbeiten und sich in die Gesellschaft einfügen können. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz werden in etwa die gleichen Leistungen vergeben wie bei Hartz IV. Es entsteht jedoch ein völlig unnötiger Übergang vom einen in das andere System, der erhebliche Verwaltungskosten bei den Kommunen verursacht. Es geht also nicht um mehr Sozialhilfe für Flüchtlinge, sondern um einen anderen Verwaltungsvollzug. Wir wollen das System effizienter und schneller machen. Das würde viel Geld sparen.


Viele Leserkommentare zu den Berichten über ihr Gutachten in Online-Foren sind negativ und haben den Tenor „Jetzt soll noch mehr Geld für Flüchtlinge ausgegeben werden.“ Was sagt das über die Grundstimmung zum Thema Flüchtlingspolitik in der Bevölkerung aus?

Wenn wir jetzt Integrationshilfen verweigern, kostet das langfristig wesentlich mehr Geld. Das hat die Vergangenheit der Integrationsarbeit deutlich gezeigt. Man kann nicht einerseits fordern, die Flüchtlinge sollen sich integrieren, und gleichzeitig Hilfestellung verweigern. Ob solche Aussagen, wie sie sich in den Kommentaren zeigen, die Grundstimmung in der Bevölkerung widerspiegeln ist jedoch fraglich. Vor Ort gibt es nach wie vor sehr viel Unterstützung für diejenigen Geflüchteten, die hier sind. Und negative Meinungen stellt man leider mal eben schneller ins Netz als positive. Es gibt nach wie vor viel Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge in Not, aber Misstrauen gegenüber der Umsetzung der Asylpolitik. Wir wollen sie daher zielgerichteter organisieren.

Anfang September haben Medien an den Jahrestag der deutschen Grenzöffnung und die Aussage „Wir schaffen das!“ erinnert. Wie fällt Ihre Bilanz ein Jahr später aus?

Es hat einen großen gesellschaftlichen Aufbruch gegeben, eine nie gekannte Welle der Hilfsbereitschaft. Länder und Kommunen haben die Erstversorgung geregelt. Vor Ort gibt es nach wie vor hohes Engagement. Aber weiterhin besteht eine Diskrepanz zwischen der offenen Haltung der Bundeskanzlerin und der Ambivalenz vor allem im Innenministerium, wo überkomplexe Vorschriften ersonnen werden, die wenig praktikabel sind. Nach wie vor werden sehr viele Asylbewerber_innen nicht zu Integrationskursen zugelassen, viele andere finden keine Plätze. Politische Ansätze schwanken zwischen der Eröffnung von Möglichkeiten und einer wachsenden Abwehrhaltung.

Was sind heute die wichtigsten Schritte, die politisch gegangen werden müssen, damit Deutschland in einigen Jahren sagen kann „Wir haben das geschafft.“?

Unterstützungsstrukturen müssen deutlich ausgeweitet werden. Es fehlt z.B. an Pädagog_innen, Lehrer_innen, Sozialarbeiter_innen, Dolmetscher_innen, Sachbearbeiter_innen in den Verwaltungen. Qualifizierte Flüchtlinge müssen mitarbeiten können. Hauptamt und Ehrenamt müssen verzahnt und das Ehrenamt viel besser unterstützt werden. Die Aufgabe der Integration betrifft alle Ebenen und alle Zuständigkeiten, z.B. alle Bundesministerien. Vor allem muss in Bildung von Anfang an investiert werden, damit kreative Wege zur Verzahnung von Sprache, Ausbildung und Arbeit entstehen. Wohnungsbau und Städteplanung müssen dem Bedarf angepasst werden. Dabei ist auch zu bedenken, dass nicht nur fast eine Million Flüchtlinge gekommen sind, sondern auch viele andere Zuwanderer aus EU-Ländern und aus Drittstaaten, die ebenfalls in einen gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozess einzubeziehen sind.

 

Prof. Dr. Dietrich Thränhardt ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Universität Münster mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politik und Migrationsforschung. Er ist aktuell u.a. als Herausgeber der „Studien zu Migration und Minderheiten“ sowie als Koordinator der Steuerungsgruppe des Mediendienstes Integration tätig.

Prof. Dr. Karin Weiss war von 2012-2016 Leiterin der Abteilung Integration und Migration im Ministerium für Integration, Frauen, Kinder, Jugend und Familie Rheinland Pfalz. Zuvor war sie als Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg (2007-2011) sowie als Professorin für Sozialpädagogik an der Fachhochschule Potsdam tätig.

Die Fragen stellte Dietmar Molthagen, FES.

Schammann, Hannes; Kühn, Boris

Kommunale Flüchtlingspolitik in Deutschland

Bonn, 2016

Publikation herunterladen (3,2 MB PDF-File)


Thränhardt, Dietrich; Weiss, Karin

Flüchtlingspolitik im deutschen Föderalismus

Bonn, 2016

Publikation herunterladen (1,2 MB PDF-File)



Audiobeitrag


Hören Sie hier den Audiobeitrag zur Veranstaltung am 26. September 2016 zur Präsentation zweier Gutachten zum Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen in der Flüchtlingspolitik. Programm


Kontakt

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Molthadg(at)fes.de

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