EU-Misstrauen im Baltikum: Mehr Schall als Rauch

Seit 2004 sind die baltischen Staaten Teil der Europäischen Union. Doch wie steht es eigentlich um das europäische Zugehörigkeitsgefühl der Esten, Litauer und Letten?

Die Frage nach der Zukunft des europäischen Projekts ist zu einem Dauerbrenner geworden. Befürchtungen, oder in manchen Fällen die Hoffnung, dass der Zerfall der EU voranschreitet, nehmen in vielen Ländern weiter an Fahrt auf. Anti-Europäischen Bewegungen setzen dabei auf die Einfachheit ihrer Botschaften. Dies gibt der euroskeptischen Einstellung vieler Bürger_innen nicht nur in den großen EU-Ländern, sondern auch in den kleinen EU-Mitgliedsstaaten genügend Raum. Zumal der Fokus der Debatte um die europäische Integration zumeist auf den großen Mächten liegt, während tendenziell die kleineren Staaten auf der Strecke bleiben, obwohl sie die Mehrheit der EU-Mitglieder bilden.

Unbeachtete nordöstliche Staaten

Da wären zum Beispiel die baltischen Staaten, welchen wenig Beachtung in der medialen Berichterstattung zu europapolitischen Themen geschenkt wird. Dabei tut sich dort gerade so einiges: Estland gab zum Jahreswechsel den EU-Ratsvorsitz an Bulgarien ab und gilt als der Pionier schlechthin in der Digitalisierung, in Lettland wird 2018 ein neues Parlament gewählt und Litauen wird, wie die anderen beiden Länder auch, dieses Jahr das 100. Staatsjubiläum begehen. So weit, so gut. Doch wie steht es nach dem Eintritt in die europäische Gemeinschaft 2004 um die Haltung der Bürger_innen der baltischen Staaten? Ist ähnlich wie in vielen anderen Teilen Europas die EU-Skepsis unaufhaltsam auf dem Vormarsch?

Dieser Frage auf den Grund geht die im September 2017 veröffentlichte Studie „EU-Skepsis in den baltischen Staaten: Viel Lärm um nichts?“ von Aldis Austers im Auftrag des der Friedrich-Ebert-Stiftung in Riga. Tatsächlich sind die Ergebnisse ernüchternd: Weder in Estland, Lettland noch Litauen gibt es sonderlich viel Zuspruch hinsichtlich der EU-Mitgliedschaft, jedoch auch keine ungezügelte EU-Skepsis, in keinem der drei Länder sind europakritische Parteien im Parlament vertreten. Besonders aufschlussreich hierbei: Die drei Staaten mögen zwar Ähnlichkeiten in Bezug auf ihre Geographie, Größe, Wirtschaftsstruktur, Entwicklung und Demografie aufweisen, dennoch zeigen sich klare Unterschiede in ihrer Wahrnehmung der europäischen Gemeinschaft auf.

Die EU als Sinnbild des Westens

Die Esten stechen am konsequentesten proeuropäisch hervor, während Litauen mehr von einem EU-Pragmatismus geprägt ist, auch wenn kurz vor der Einführung des Euro sich laut einer Eurobarometer Umfrage im September 2014 die Mehrheit der Litauer skeptisch zeigte und dagegen war. In Estland und Lettland hingehen „richtet die Bevölkerung ihr Augenmerk verstärkt auf den konjunkturellen Wechsel sowie die Entwicklungen auf EU-Ebene.“ Lettland weist die höchste Zahl radikaler EU-Skeptiker auf, die eine aversive Haltung gegenüber der EU-Mitgliedschaft haben. Allerdings ist auch festzustellen, wie das tendenziell negative Bild der Letten durch die wachsenden geopolitischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen beeinflusst wird: je prekärer die Beziehungen zu Russland, desto proeuropäischer die Einstellung der lettischen Bevölkerung.

Bemerkenswerterweise zeigt die Analyse, dass das öffentliche Bild von Europa in den baltischen Staaten ein deutlich breiteres Themenfeld als hierzulande abdeckt und die EU mit dem Sinnbild des „Westens“ gleichgesetzt wird. Auch in Bezug auf die vorherrschende EU-Skepsis handele es sich weniger um eine radikale Ablehnung der EU, sondern eher um eine kritische Bewertung ihrer negativen Begleiterscheinungen. Viel mehr noch manifestiere sich die Ablehnung eher sporadisch, basiere in der Regel auf spezifischen Problemen und sei charakteristisch für bestimmte Persönlichkeiten. Insgesamt gibt es laut Austers im Moment derzeit noch keinen Grund zur Beunruhigung: Dennoch, so lautet sein Fazit, müsse die EU insbesondere die Sicherheitsbedenken der Menschen vor Ort noch ernster nehmen. Damit deren Wahrnehmung von Europa nicht bald auch nur noch von Abneigung geprägt ist.

Ansprechpartner in der Stiftung:

Tobias Mörschel

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