Chancengerechtigkeit in Deutschland

Die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen wird immer größer. Besonders fatal ist die fehlende Chancengleichheit. Ein Beitrag von Sonja Steffen, Mitglied des Deutschen Bundestages

Chancengerechtigkeit in Deutschland

Die Ungleichheit in Deutschland hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Die reichsten zehn Prozent besitzen inzwischen zwei Drittel des Nettovermögens, die ärmere Hälfte hat dagegen praktisch nichts. In keinem anderen Land der Euro-Zone ist die Vermögensungleichheit höher. Dies gilt sowohl für das Vermögen als auch für das Einkommen. Junge und alte Menschen sind besonders armutsgefährdet. Die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen wird immer größer. Besonders fatal ist die fehlende Chancengleichheit. Und damit auch die geringe soziale Mobilität. In kaum einem anderen OECD-Land beeinflusst die soziale Herkunft die Aufstiegschancen so sehr wie in Deutschland. Während etwa 70 Prozent der Akademikerkinder studieren, sind es in Nicht-Akademiker-Haushalten nur rund 20 Prozent. Soziale Ungleichheit ist ein Problem, das von verschiedenen Seiten angegangen werden muss. Zwei Aspekte sind mir besonders wichtig: die bereits erwähnte Chancengerechtigkeit im Bildungssystem und die Bekämpfung von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt.

Ein gerechteres Bildungssystem

Interessen, Talente und Fleiß sollten nach meinem Verständnis die ausschlaggebenden Faktoren in der Bildungskarriere sein. Allerdings zeigen die Ergebnisse von IGLU, PISA und vielen weiteren Bildungsstudien, wie groß der Einfluss sozialer Faktoren auf Bildungserfolge, Erwerbsbiografien und Lebenseinkommen sind. Bereits durch den Wohnort und die damit erreichbaren Angebote sowie das soziale Netzwerk der Eltern entstehen oft nur schwer aufzuholende Benachteiligungen. Kinder aus sozial schwachen Familien starten daher häufig mit einem großen Rückstand in ihre Bildungskarriere. Durch das Bildungssystem werden diese Effekte nicht verkleinert, sondern eher noch verstärkt. Defizite, z. B. im Lesevermögen, die aufgeholt werden müssten, sorgen für eine zunehmende Ungleichheit. Sozioökonomisch besser aufgestellte Elternhäuser können nicht nur aufgrund ihres akademischen Hintergrundes ihre Kinder besser bei Schularbeiten unterstützen, sondern ihren Kindern auch außerschulische Nachhilfe finanzieren. So betragen die privaten Aufwendungen einkommensschwacher Eltern für die Bildung ihrer Kinder unter 30 Euro im Monat, während einkommensstarke Eltern bis zu über 200 Euro pro Monat in die Bildung ihrer Kinder investieren.

Ziel der Bildungspolitik muss es sein, Ungleichheiten früh zu bekämpfen. Und zwar nicht, indem die starken Schüler geschwächt werden, sondern durch eine gezielte Förderung der Schwächeren. Gute Ansätze wären dabei ein verpflichtendes Vorschuljahr, längeres gemeinsames Lernen und bessere Betreuungsangebote.

Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt

Aber auch wenn die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem erhöht werden kann und wir es schaffen, dass alle Menschen, ungeachtet ihres sozioökonomischen Hintergrundes, ihre Potentiale entfalten können, darf es nicht sein, dass sie auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert werden. Es kann nicht sein, dass viele Frauen trotz ähnlicher oder sogar besserer Qualifikation schlechter entlohnt werden als ihre männlichen Kollegen. Lücken in der Erwerbsbiografie, wie sie z. B. durch Schwangerschaften, aber auch durch die Pflege von Familienangehörigen oder ein "Gap Year" entstehen, sollten kein Karrierehindernis darstellen. Dabei muss über alternative Arbeitszeitmodelle nachgedacht werden. Meiner Meinung nach gehört das klassische Arbeiten von "nine to five" der Vergangenheit an. Arbeitgeber müssen es verkraften, dass Menschen ihre Arbeitszeit flexibel einteilen und ggf. nur bereit sind, 30 Stunden oder weniger in der Woche zu arbeiten. Da sehe ich Gesetzgeber, Unternehmen und Gesellschaft in der gemeinsamen Verantwortung.

Notwendige Reformen

Schnelles Handeln erwarte ich bei einer Reform der Erbschaftssteuer. Eine Studie italienischer Wissenschaftler hat kürzlich gezeigt, dass die Familien, die 1427 der Geldadel in Florenz waren, heute immer noch die vermögendsten Familien der Stadt sind. Eine soziale Mobilität hat in den letzten knapp 600 Jahren nicht stattgefunden. Erbschaften verstärken die Effekte, die bereits oben erläutert wurden weiter, und sorgen dafür, dass die bereits in ihrer Jugend bessergestellten Kinder durch das Kapital ihrer Eltern ihre sozioökonomische Position stärken können.

Dabei ist es mir wichtig zu betonen, dass wir dazu auch über eine Vermögenssteuer reden müssen. Das Kapital ist in Deutschland in höchstem Maße ungerecht verteilt. Thomas Piketty hat deutlich gezeigt, dass inzwischen der Kapitalertrag größer ist als der Arbeitsertrag. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt und gute Arbeit immer weniger Wohlstand ermöglichen kann, schaden wir nicht nur denjenigen, die hart arbeiten, sondern wir schaden der gesamten Wirtschaft.

 


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