Wie viel darf´s sein?

Deutschland driftet auseinander. Die wachstumsstarken Regionen laufen den schwächeren davon, die Schwachen bekommen von Wachstum und Beschäftigung immer weniger ab. Was sind uns gleichwertige Lebensverhältnisse wert? Durch welche politischen Maßnahmen kann man sie fördern? Über diese Fragen wurde am 9. Dezember 2015 in der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin diskutiert.

Bild: Bild: FES/Jens Schicke

Der Begriff der Gleichheit ist zunehmend negativ besetzt. Das zumindest ist der Eindruck von Claudia Neu, Professorin von der Hochschule Niederrhein. Die Angst vor Gleichmacherei führe dazu, dass Fragen nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt von der Suche nach dem individuellen guten Leben verdrängt würden, erklärte sie in ihrem Vortrag bei der Friedrich-Ebert-Stiftung weiter, in dem sie ihr Positionspapier „Der Wert gleicher Lebensverhältnisse“ vorstellte. Anders als es nötig wäre, werde in der Politik bei der öffentlichen Infrastruktur in Regionen öfter über das Minimum statt über das mögliche Maximum debattiert. Nicht nur ländliche Regionen sind der Professorin zufolge zunehmend abgehängt, auch Städte zerfallen zunehmend in wohlhabende Viertel auf der einen und soziale Brennpunkte auf der anderen Seite.

Die Fachveranstaltung hatte den Titel: „Wie viel darf‘s sein? Zum Wert gleichwertiger Lebensverhältnisse“. Laut der ehemaligen Vorsitzenden der KFW, Ingrid Matthäus-Maier, ist die Frage schnell beantwortet. In ihrer Begrüßungsrede betonte sie, dass die Gesetzgebungskompetenz eigentlich bei den Ländern liegt. Beim Thema Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse liege diese Kompetenz allerdings beim Bund. Das zeige die herausragende Stellung dieses Wertes.

Was kann Europa tun?

Rudolf Niessler, Direktor für politische Koordination in der Generaldirektion Regionalpolitik der Europäischen Kommission, erweiterte den Blick auf die europäische Ebene. Die Europäische Union sei einst international als „Konvergenzmaschine“ gefeiert worden, der es durch Strukturpolitik und entsprechende Fonds gelang, ganze Regionen in kurzer Zeit zu einer wirtschaftlichen Entwicklung zu verhelfen und die Lebensstandards aller Länder in Europa aneinander anzugleichen. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt ist nach wie vor ein Vertragsziel der EU. Doch seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 verschärften sich die Disparitäten in Europa wieder: Die höchste Arbeitslosenzahl seit 20 Jahren, eine Zunahme der Armut und nationale Regierungen, die durch die Schuldenkrise nicht mehr in der Lage sind, Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu tätigen, um diese Entwicklung zu stoppen. Hier möchte die europäische Kommission durch ihre regionale Strukturpolitik eingreifen und den Prozess der wirtschaftlichen und sozialen Angleichung wieder neu beleben. Der Zusammenhalt Europas stünde sonst auf dem Spiel.

Die Zukunft des Länderfinanzausgleichs

Auch um den Zusammenhalt der Länder innerhalb Deutschlands sei es nicht immer gut bestellt. In der Podiumsdiskussion kritisierte Iris Gleicke, Beauftragte für die neuen Bundesländer, den aktuellen Kompromiss der Länder für den Länderfinanzausgleich. Es brauche ihrer Meinung nach eine differenzierte Lösung, da jedes Bundesland in einer anderen Situation sei: Während Kommunen in Westdeutschland mit zunehmenden Schulden zu kämpfen hätten, bedeute für die ostdeutschen Länder vor allem der noch nicht abgeschlossene Strukturwandel eine Herausforderung. Hans Eichel, der mit der Friedrich-Ebert-Stiftung bereits Vorschläge zur Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen vorgelegt hat, plädierte daher für die Beibehaltung des Solidaritätszuschlags auch nach dessen Auslaufen 2020. Allerdings müsse dieser neu begründet werden, damit er allgemein für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ost- und in Westdeutschland wirken könne. Zudem müsse der Bund die Kommunen bei den von ihm übertragenen Aufgaben finanziell unterstützen. Nicht die Finanzkraft, sondern der Bedarf der Kommunen bei der öffentlichen Infrastruktur sollten daher Gradmesser für die Mittelzuweisung sein. Carsten Sieling, neuer Bürgermeister von Bremen, verwies auf den Vorsatz des Koalitionsvertrages, die Kommunen ab 2018 um fünf Milliarden Euro zu entlasten. Dies könne etwa über die Kosten der Unterkunft geschehen, um Kommunen mit hohen Sozialausgaben wie dem Wohngeld zu erreichen.

Werden die Karten durch die Zuwanderung neu gemischt?

Auch tagesaktuelle Themen kamen in der Diskussion zur Sprache: Die Integration der Flüchtlinge stelle eine große Herausforderung für die gleichwertigen Lebensverhältnisse innerhalb Deutschlands dar, weil sie Disparitäten zwischen Stadt und Land weiter verschärfen könnten, so Sieling. Denn bisher nähmen die Ballungszentren deutlich mehr Menschen auf als die ländlichen Regionen. Dort gebe es zwar eventuell mehr Arbeit, aber weniger Wohnungen. Den Wohnungsbau jedoch nur für Flüchtlinge auszuweiten, bedeute eine große Sprengkraft für den sozialen Zusammenhalt. Nichtsdestotrotz sah Hans Eichel in der Zuwanderung eine Chance für den ländlichen Raum: 1,7 Millionen leerstehende Wohnungen wären als Unterbringung geeignet, wenn der öffentliche Nahverkehr zwischen weiter abgelegenen Gebieten und städtischen Zentren deshalb aus- statt wie bisher abgebaut werde. So könnten ganze Regionen neu belebt werden. Auch Rudolf Niessler betonte: Die Einwanderung kann zu Europas Wachstum beitragen, wenn dieses Wachstum durch Investitionen in soziale Infrastruktur befördert wird.

Die gesamte Veranstaltung können Sie hier nachverfolgen.

Ansprechpartner in der FES: Dr. Philipp Fink, Franziska Richter


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