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„Die Anfänge sind gemacht“

Marode Schulgebäude, Lehrkräftemangel, Frontalunterricht, unzureichende Digitalisierung: Das deutsche Schulsystem hat viele Baustellen zu bewältigen. Dennoch gebe es Grund zu Optimismus, sagt Bildungsforscherin Prof. Dr. Anne Sliwka.

Mitbestimmung | 9. Juli 2025 | Interview von Simone Schnase | Lesezeit: 7 Minuten

Frau Sliwka, wie ist aus Ihrer Sicht der derzeitige Zustand der schulischen Bildungslandschaft in Deutschland?

Anne Sliwka: Das ist schwer zu beantworten, denn wir haben ja 16 Bundesländer und große regionale Unterschiede. Aber im internationalen Vergleich spielen wir ungefähr am oberen Ende des Mittelfeldes. Es gibt etliche internationale Player, die besser sind als wir. In Europa sind das zum Beispiel Estland oder Polen, und dann gibt es Player wie Singapur oder Kanada, die noch besser sind.

Was wird dort besser gemacht als in Deutschland?

Es gibt dort Schulsysteme, die eine individuelle Förderung viel systematischer angehen. Schon in der Vorschule, die zum Bildungssystem dazugehört, findet ein sogenanntes Screening statt. Das heißt, man schaut sich genau die sprachliche Entwicklung der Kinder an sowie andere Bereiche wie mathematische Vorläuferfähigkeiten. Das wird dann über die Schulzeit fortgesetzt: Man setzt zu Beginn des Schuljahres und auch zu Beginn des zweiten Halbjahres eine Screening-Diagnostik-Software ein, um den Lernstand der einzelnen Kinder genau zu ermitteln. So können die Kinder in den zentralen Bildungsbereichen immer sofort passgenau gefördert werden, sodass alle die Mindeststandards erreichen, möglichst viele die Regelstandards und so viele wie möglich die Optimal-Standards. In Deutschland hingegen erreichen momentan viele Kinder die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch nicht. Wir haben in der Fläche noch nicht wirklich tragfähige Förderstrukturen, um das zu verändern.

Liegt das auch daran, dass in Deutschland erst im Nachhinein reagiert wird, also notenbasiert?

Ja, es wird häufig erst nach dem ersten Halbjahr reagiert, wenn das Zeugnis kommt mit der schlechten Note. Über die Screenings läuft das ganz anders, hier wird die sogenannte Ausgangslage erhoben. Man sieht so früh, was die Kinder schon können und was sie noch nicht können. Die Betonung liegt auf noch, also „not yet“. Und dann wird eine entsprechende Förderung organisiert. Das erfolgt zum Beispiel an Grundschulen typischerweise über sogenannte Lern- oder Förderbänder für Deutsch und Mathematik. In diesen Förderbändern werden Kinder gezielt gefördert, teilweise sogar in Kleingruppen. Sie bekommen so genau die Unterstützung, die sie brauchen, um den nächsten Schritt in ihrem Lernen zu gehen und nicht abgehängt zu werden. Man verliert so keine Zeit und muss nicht erst warten, bis die schlechte Note gekommen ist.

Abgesehen davon, dass in Deutschland die Länder für Bildung verantwortlich sind, haben wir überdies sehr viele unterschiedliche Schulformen. Erschwert das die Entwicklung der Strukturen?

Das System ist sehr, sehr komplex, was die äußere Differenzierung angeht und unterkomplex, was die Binnendifferenzierung an der Schule angeht. Andere Systeme haben nicht so viele Schulformen. Dort gehen die Kinder an eine Schule und diese eine Schule organisiert differenziell passgenaue Diagnostik und Förderung über arbeitsteilige Strukturen im Kollegium. In Kanada und Japan arbeiten die Lehrkräfte im Team zusammen, sie schauen sich die Screening-Daten an und planen dann gezielt, wie sie im Unterricht fördern oder wie sie eben in Lernbändern Förderinterventionen organisieren können. Bei uns hapert es noch an der Teamarbeitszeit. Wir sehen aber, dass die Schulen in Deutschland, die das eingeführt haben, sehr große Fortschritte machen.

Dr. Anne Sliwka ist Professorin für Bildungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik am Institut für Bildungswissenschaft (IBW) der Universität Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Schul- und Schulsystementwicklung sowie Lehrerprofessionalität in international vergleichender Perspektive. Sie ist Gründerin der „Deeper Learning Initiative“ und gehört dem wissenschaftlichen Beirat des Kultusministeriums von Baden-Württemberg an.

 

Welche Schulen sind das?

Viele der Schulen, die den deutschen Schulpreis gewonnen haben, haben bereits solche Strukturen. Die Lehrkräfte arbeiten in Teams zusammen, machen gemeinsam Unterrichts- und Schulentwicklungen und auch die Förderplanung für Kinder, die besondere Unterstützungsbedarfe haben. Dazu kommen Personen aus anderen Professionen. Aus dem „Startchancenprogramm“ haben die Schulen ja Budgets bekommen, mit denen sie zum Beispiel Lerntherapeut:innen aus der Logopädie oder aus der Ergotherapie an die Schule holen und auch die Schulpsychologie anders aufstellen können. Wenn diese Multiprofessionalität gemeinsam mit Schulsozialarbeit und Sonderpädagogik vertreten und gute Teamstrukturen vorhanden sind, dann hat man die Möglichkeit, auch in Deutschland solche optimalen Förderbedingungen zu entwickeln.

Warum nutzen bislang nur einzelne Schulen diese Chancen?

Wir sehen, dass es bestimmte Erfolgsfaktoren gibt und einer davon ist eine starke und charismatische Schulleitung. Ein anderer Erfolgsfaktor ist, dass in der Schule grundsätzlich im Team gearbeitet wird. Das sieht man zum Beispiel der Alemannenschule in Wutöschingen, das kann man aber auch an der Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm sehen oder an der Rothenburg-Grundschule in Berlin und an weiteren Schulen. Aber in der Fläche funktioniert das noch nicht und das deutet darauf hin, dass wir zwei Baustellen haben: Wir müssen zum einen deutlich mehr in die Führungskräfteentwicklung stecken und zum anderen brauchen wir eine verbindliche Regelung für die Arbeitszeit von Lehrkräften, die vorsieht, dass diese sich wöchentlich in Teams treffen, um gemeinsam Schul- und Unterrichtsentwicklung und Förderplanung zu machen. Diese Themen brauchen noch mehr Aufmerksamkeit und müssen stärker in Verbindung zueinander gesehen werden, wenn wir das in der Fläche haben wollen. Aber an beide Themen traut sich die Politik noch zu wenig ran. Wir müssen auch die Schulaufsicht in ihrer Führungskompetenz stärken, sodass sie wirklich auch ganz klar Prozesse führen kann in der gesamten Region, damit sich nicht nur die Einzelschule entwickelt.

Eine Schule geht also voran und die anderen Schulen in der Region gehen dann, koordiniert durch die Schulaufsicht, den gleichen Weg?

Ja. So ist das auch in Kanada und in Singapur. Dort nennt sich das „Families of Schools“ oder „Cluster of Schools“. Da treffen sich die Schulleitungen alle vier bis sechs Wochen mit der Schulaufsicht, arbeiten gemeinsam an den Zielen und schauen sich auch gemeinsam die Daten an, denn Ziele, Daten und kooperatives Arbeiten bilden einen Dreiklang von Dingen, die unbedingt zusammengehören. Das Schulsystem als solches muss sich Ziele setzen und die einzelne Schule muss diese Ziele runterbrechen auf ihre individuelle Ebene. Und dann braucht man Daten, um zu überprüfen und zu erkennen, wo man noch nachsteuern muss. Bisher hatten wir in Deutschland keine Zielklarheit im System, deswegen haben wir, basierend auf dem kanadischen Modell, folgenden Dreiklang an Zielen vorgeschlagen: Die Kompetenzentwicklung, was bedeutet, dass alle die Mindeststandards erreichen, möglichst viele die Regelstandards und so viele wie möglich die Optimal-Standards in Deutsch und Mathematik. Dann die Bildungsgerechtigkeit, also die stärkere Entkopplung des sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilie und dem Schulerfolg. Und zum Dritten die Persönlichkeitsentwicklung und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen. Gerade für diesen dritten Bereich braucht man auch Daten, aber das ist bisher noch nicht der Fall.

Wie sollen diese Daten erhoben werden?

Schülerinnen und Schüler, die Eltern und auch die Lehrkräfte müssen einmal im Jahr über Online-Surveys zu dieser Thematik befragt werden. So könnte man diese ganzen Daten – auch sozioökonomische Daten, die das Startchancenprogramm ja auch fordert – von den Schulen beziehungsweise von den Kommunen in digitalen Dashboards zusammenführen und für die Steuerung der Einzelschulen, aber auch des Schulsystems nutzen.

Das setzt eine gewisse digitale Infrastruktur voraus – ist die denn vorhanden?

Sie wird gerade in verschiedenen Bundesländern entwickelt. Hamburg ist da der Vorreiter. Dort gibt es schon lange ein Dateninstitut, in dem jetzt auch ein digitales Dashboard entwickelt wird. Auch Baden-Württemberg hat mit dem Institut für Bildungsanalysen (IBBW) den Grundstein gelegt und arbeitet an einem digitalen Datensatz, der den Schulen seit letztem Jahr zur Verfügung gestellt wird. In Sachsen-Anhalt, Bremen, Berlin und Bayern ist das Ganze in der Entwicklung und ich habe gehört, dass NRW auch daran arbeitet. Das heißt, die Anfänge sind gemacht, aber wir sind natürlich nicht so weit wie das kanadische Schulsystem oder auch ein Teil der asiatischen Schulsysteme.

Es gibt aber noch weitere Baustellen in Deutschland, zum Beispiel das Thema Lehrkräftemangel. Wie kann man dem entgegenwirken?

Der Arbeitsplatz Schule hat sich in den letzten Jahren zu wenig und nur zeitverzögert modernisiert. Lehrkräfte mussten sich ganz, ganz lange ihre Laptops selbst beschaffen und am schulischen Arbeitsplatz gab es gar keine Laptops. Da hätte man gar nicht mit Daten arbeiten können. Es gibt an vielen Schulen keine Teamarbeitsräume und keine Teamarbeitsstrukturen. Wenn wir das System Schule vergleichen mit dem System Wirtschaft oder Unternehmen, dann sieht man das ganz deutlich: Stellen Sie sich mal eine x-beliebige Firma vor, die keinen Zugang zu digitaler Technik und keine Teamarbeit hat – so etwas gibt es heute ja gar nicht mehr. Aber die Schule hat sich viel zu spät modernisiert und jede Lehrkraft hat im Grunde nach dem Prinzip „Ich muss alleine sehen, wie ich hier überlebe“ gearbeitet. So ein System führt dazu, dass man erschöpft ist und Burnout-gefährdet. Ich glaube, das ist ein Grund, warum der Beruf nicht mehr als so attraktiv empfunden wurde. Ich habe aber die Hoffnung, dass sich das jetzt wieder legt durch die Modernisierung der Schulen, durch das Startchancenprogramm und vielleicht auch durch das große Sondervermögen, das der Bund ausgeben wird. Dadurch wird Geld in die bauliche und infrastrukturelle Modernisierung von Schulen fließen, sodass die Schule als Arbeitsort wieder sehr attraktiv werden kann.

Der Arbeitsplatz für Lehrkräfte ist ja auch Lernumgebung für Schüler – wie sollte die idealerweise aussehen?

Die Alemannenschule Wutöschingen ist ein tolles Beispiel, dort ist einfach eine große Wertschätzung für das Lernen zu spüren. Die Räume erinnern mehr an das häusliche Wohnen als an die Institution Schule, wie wir sie kennen. Und genau dahingehend muss sich Schule verändern, mit Räumen für projektorientiertes Arbeiten für Schülerinnen und Schülern, Räume für Planungstreffen von Lehrkräfte-Teams und „Learning Commons“, also große Schulbibliotheken, in denen es sogenannte „Makerspaces“ gibt und in denen man sich in Lese- und Arbeitsecken zurückziehen kann. All das mit freundlichen Möbeln, die Schule zu einem Ort machen, an dem man sich gerne aufhält, auch wenn der eigentliche Unterricht schon zu Ende ist. Hier haben wir noch sehr, sehr viel zu tun in Deutschland, aber das betrifft ja auch andere öffentliche Orte.

 

Also spiegelt sich an den Schulen ein gesellschaftliches Problem wider?

International sehen wir, dass sich zum Beispiel öffentliche Bibliotheken zu Zentren des Gemeinwesens entwickeln, in denen man sich auch Musikinstrumente ausleihen oder Filme anschauen kann und die auch am Wochenende geöffnet haben. Dänemark hat fantastische Bibliotheken, auch in kleinen Städten, wo sich alle Generationen treffen. Das ist für mich auch die Neuerfindung des öffentlichen Raumes im Zeitalter der Polarisierung und der Fragmentierung von Gesellschaften und genauso muss sich auch die Schule aufstellen: Sie muss Zentrum des Gemeinwesens sein. Die Räume in der Schule, die morgens und nachmittags für die Kinder und Jugendlichen verwendet werden, müssen abends zum Beispiel Vereinen zur Verfügung stehen – das ist ja alles mit Steuerzahlergeld finanziert und warum nutzen wir die Räume nicht, um sie zu öffnen und auch das Gemeinwesen neu zu erfinden?

 

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