100 Jahre FES! Mehr erfahren

Eine Schule, die Schule gemacht hat

Die Alemannenschule Wutöschingen hat das Prinzip Schule, wie wir es kennen, auf den Kopf gestellt. Inzwischen gilt sie bundesweit und darüber hinaus als Vorbild.

Mitbestimmung | 9. Juli 2025 | Bericht von Simone Schnase | Lesezeit: 6 Minuten

Eine Schule ohne Stundenplan, Klassenarbeiten, Noten und Frontalunterricht: Das ist der Traum vieler Schüler:innen, die sich morgens aus dem Bett quälen und Bauchschmerzen vorm kommenden Mathe-Test haben. In der kleinen Gemeinde Wutöschingen im Landkreis Waldshut in Baden-Württemberg ist dieser Traum Wirklichkeit: An der dortigen Alemannenschule (ASW) gibt es weder feste Klassen noch Klassenzimmer, es gibt keine Noten, keine Schulbücher und keine festen Stundenpläne. Nicht einmal Lehrer:innen gibt es dort – oder zumindest nennen sie sich nicht so.

Lernen in Eigenverantwortung

Stattdessen arbeiten die Lehrkräfte als „Coaches“ oder „Lernbegleiter“ an der Gemeinschaftsschule. Dort können die rund 800 Schüler:innen den Haupt- und Realschulabschluss sowie das Abitur absolvieren, und das weitestgehend in Eigenverantwortung. Denn die ASW verfolgt ein inklusives, selbstverantwortliches Lernmodell, bei dem die Kinder und Jugendlichen selbst entscheiden, was sie wann und wie schnell lernen wollen.

Die Lernbegleiter unterstützen sie lediglich dabei, etwa durch individuelle Lernberatungen und die Erstellung persönlicher Lernpläne. Anstelle von Noten gibt es für die ASW-Schüler:innen „Gelingensnachweise“, die ihren Lernfortschritt dokumentieren. Das Konzept ist dabei auf vier Lernstufen aufgebaut: Die Schüler:innen beginnen als „Neustarter“, entwickeln sich zu „Startern“, weiter zu „Lernprofis“ und schließlich zu „Durchstartern“. Jede Stufe spiegelt den individuellen Lernfortschritt wider und bringt mehr Freiheit, aber auch mehr Verantwortungmit sich. „Je nachdem, wie viel Struktur sie benötigen, erhalten die Kinder unterschiedliche Rechte“, sagt Patricia Schmidt, Konrektorin der ASW. 

Lerninseln statt Klassenzimmer

Radikal anders sind auch die Räumlichkeiten an der Alemannenschule. Klassenzimmer für feste Lerngruppen sucht man hier vergeblich, stattdessen gibt es offene, gemütlich eingerichtete Räume, Lerninseln und Lernlandschaften. In Lernateliers haben jede:r Schüler:in und jede Lehrkraft eigene, feste Arbeitsplätze.

Die Schule orientiert sich an der sogenannten „Schmetterlingspädagogik“: Ein Flügel des Schmetterlings stellt das selbstorganisierte Lernen dar, der andere Flügel geht auf das Lernen durch Erleben ein, zum Beispiel durch das Arbeiten im Team, durch Exkursionen und durch die vielfältigen, teils auch außerschulischen Lernorte. „Der Raum ist eine der wichtigsten Säulen“, sagt Schmidt. Denn das Ziel sei, dass Kinder gerne in die Schule kämen. Das sei nicht bei allen so: „Es gibt Kinder, die aufgrund vorheriger Erfahrungen erst einmal nichts Gutes mit Schule verbinden.“ Und dazu gehörten nicht nur Dinge wie Notendruck oder Frontalunterricht, sondern auch beengte Klassenräume und marode, lieblos gestaltete Schulen.

Schulbücher gibt es nicht mehr

Nach und nach hat die ASW auch die Schulbücher abgeschafft. „Heute haben wir nur noch eigene Materialien, mit denen die Kinder selbstorganisiert arbeiten können“, sagt Schmidt. Via Tablets und einer digitalen Lernplattform haben die Schüler:innen Zugriff auf die Lernmaterialien. Die basieren auf an der ASW entwickelten Kompetenzrastern, die es den Kindern und Jugendlichen ermöglicht, ihr Lernen selbstständig zu organisieren und individuelle Lernziele zu setzen. Die Materialien sind in drei Niveaustufen unterteilt: Mindeststandard (M), Regelstandard (R) und Expertenstandard (E), wodurch sie für alle Schularten geeignet sind.

Gemeinsam mit mittlerweile mehr als 40 weiteren Schulen, die sich 2019 zu einer gemeinnützigen Genossenschaft namens „Materialnetzwerk eg“ (MNWeg) zusammengeschlossen haben, wurden die Lernmaterialien stetig weiterentwickelt und ausgetauscht. Ziel der Genossenschaft ist es, qualitativ hochwertige, offene Bildungsressourcen (Open Educational Resources) bereitzustellen und den Austausch zwischen Lehrkräften zu fördern. Die im Schulalltag der ASW entstandene und im „Materialnetzwerk“ entwickelte digitale Lernumgebung „DiLer“ ist mittlerweile nicht nur in Deutschland, sondern europaweit verbreitet.

Schulleitung und Kollegium brauchen Mut und Visionen

All das ist das Resultat einer jahrelangen Entwicklung, die der mittlerweile pensionierte ASW-Schulleiter Stefan Ruppaner angestoßen hat: „Dafür gab es nicht von Anfang an Unterstützung“, sagt Patricia Schmidt. „Aber das, was hier verändert wurde, fand auf Basis dessen statt, was ja auch das Land möchte: nämlich eigenverantwortliches und selbständiges Lernen.“ Die Freiheiten, eine Schule auch radikal umzustrukturieren, seien durchaus vorhanden. „Bloß wissen viele Schulen das nicht oder sie trauen sich vielleicht auch nicht, einen neuen Weg einzuschlagen. Es braucht Mut, eine Schulleitung, die Visionen hat und Kollegen, die das unterstützen und gern mitmachen.“ Letzteres sei keineswegs eine Selbstverständlichkeit: „Lehrer sind aufgrund ihrer Ausbildung ja nicht unbedingt für den Kontrollverlust gemacht – sie müssen auch erst einmal lernen, ihre Rolle zu ändern.“ Und dann waren da auch noch die Eltern, die natürlich misstrauisch auf das radikal andere Schulkonzept äugten.

Überdurchschnittlich gute Abiturnoten

Spätestens aber mit der ersten Abiturklasse – die ASW bekam erst 2019 eine gymnasiale Oberstufe – waren auch die letzten Zweifel ausgeräumt: Die ersten ASW-Abiturienten hatten einen Notendurchschnitt von 1,7 und diese überdurchschnittlich guten Abiturnoten werden seither Jahr für Jahr erreicht. Betriebe, in denen ASW-Schüler:innen Praktika absolvieren oder in denen ASW-Absolvent:innen Ausbildungen machen, geben laut Patricia Schmidt regelmäßig das Feedback, dass die Jugendlichen in besonderem Maße aufgeschlossen und selbstständig seien. 2019 und 2021 erhielt die ASW für ihre Arbeit den Deutschen Schulpreis, denn: „In Wutöschingen ist ein öffentlich wahrnehmbarer Lernraum entstanden, in dem sich ausgezeichnet beobachten lässt, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihrem gemeinsamen Lernen auf die Spur kommen und sich dabei ohne Angst auf eine ungewisse Zukunft einlassen“, lobte die Jury das pädagogische Konzept der Schule.

Anfragen aus ganz Deutschland

Stefan Ruppaner, der ehemalige ASW-Schulleiter und „Vater“ der heutigen Alemannenschule, ist zwar 2024 in Pension gegangen, aber dennoch wird er nicht müde, „sein“ Schulkonzept in die Welt zu tragen: In diesem Jahr ist sein Buch „Das könnte Schule machen“ erschienen, in dem er erzählt, wie er sich in Wutöschingen aufgemacht hat, die Schulwelt zu revolutionieren.

Das hat er geschafft: Die ASW gilt heute als Vorbild vieler Schulpreis-Träger und als Inspiration für Schulen, die ebenfalls neue Ufer beschreiten wollen. Einmal im Monat gibt es einen Besuchstag an der ASW, an dem sich interessierte Lehrer:innen aus ganz Deutschland, aber auch aus Österreich und der Schweiz Inspirationen und konkrete Hilfestellungen holen. „Teilweise sind auch Architekten mit dabei, die sich für unser Raumkonzept interessieren“, sagt Schmidt. Die Schule kann sich inzwischen vor Anmeldungen kaum retten: „Mittlerweile ziehen die Eltern extra hierher, damit ihre Kinder an die ASW gehen können.“ Ihr Rat an alle, die sich ebenfalls aufmachen wollen zu neuen schulischen Ufern: „Mutig sein, einfach machen und immer das Kind in den Mittelpunkt stellen!“

 

Weitere Transformationsthemen


Weitere Beiträge zu diesem Thema

Auftaktveranstaltung Bürgerforum Krisenfeste Gesellschaft am 8. 10.2022

Viele Perspektiven an einem Tisch

Demokratie | Mitbestimmung

Das Modellprojekt LOSLAND hat Bürgerräte in bundesweit zehn Kommunen initiiert. Auch Ludwigsfelde in Brandenburg setzt auf die Mitsprache seiner Bürger_innen.


weitere Informationen
 
Baustelle Hauptbahnhof, Stuttgart 21, Bonatzbau mit Bahnhofsturm, Baukran, Luftbild, Stuttgart

Wie das „Ländle“ Bürgerbeteiligung stärkt

Demokratie | Mitbestimmung

Kein Bundesland hat beim Thema „Direkte Demokratie“ eine längere Tradition als Baden-Württemberg. Seit mehr als 70 Jahren ist sie hier sogar in der Verfassung verankert.


weitere Informationen
 
2. OB Cohn begrüßt Teilnehmer der Perspektivenwerkstatt „Stadt für Morgen“ in der Stadthalle Leonberg.

Wie Bürger_innen die mobile Zukunft mitbestimmen

Demokratie | Mitbestimmung

Die Verkehrswende kann nur gelingen, wenn die Verwaltung die Menschen beteiligt. Leonberg setzt auf Transparenz.


weitere Informationen
 
Leonberg - Sommergespräch 2022 mit Oberbürgermeister Martin Cohn, gegenüber dem Leocenter.

"Man muss erst einmal für die Akzeptanz von Ideen arbeiten"

Demokratie | Mitbestimmung

Martin Cohn will die baden-württembergische Autostadt Leonberg klima- und sozialverträglich umgestalten. Er erklärt, warum die Kommune dabei auf massive Bürgerbeteiligung setzt.


weitere Informationen
 
nach oben