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Arbeit | 21. August 2025 | Interview von Hanna Fath | Lesezeit: 7 Minuten
Sie forschen am Zentrum für evidenzbasierte Gesundheitsversorgung der Technischen Universität in Dresden an der Professur für Öffentliche Gesundheit. Womit befassen Sie sich genau?
Claudia Czernik: Wenn man von Medizin und Forschung spricht, denken viele an die Entwicklung neuer Therapiemethoden oder Medikamente. Wichtig ist aber auch, wer sie wann, wo und mit welcher Qualität erbringt. Darauf schauen wir am Zentrum für evidenzbasierte Gesundheitsversorgung. Wir fragen uns: Bekommen Patient:innen die Versorgung, die sie brauchen und in welcher Qualität wird sie erbracht? Um das herauszufinden arbeiten wir mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen oder genieren selbst welche in Form von Studien.
Und wie steht es um die medizinische Versorgung in Deutschland?
Wir haben – jetzt noch – relativ viele Pfleger:innen, Heilmittelerbringende und Ärzt:innen pro Kopf in Deutschland. Dem entgegen steht in der Bevölkerung ein Gefühl, zu lange auf einen Termin zu warten. Das betrifft hauptsächlich den ambulanten Bereich. Tatsächlich ist eines der Primärziele des aktuellen Koalitionsvertrags, diese Wartezeiten zu minimieren. Für mich liegt eines der größten Potentiale in der Frage: Was machen Ärzt:innen den ganzen Tag? Und sind das denn Aufgaben, die unbedingt ärztliche Expertise benötigen? Wie viel Zeit pro Tag geht mit Tätigkeiten verloren – Bürokratie, Dokumentation? Oder auch Screenings oder Vorsorgeuntersuchungen, die in anderen Ländern durch z.B. Pflegefachpersonen durchgeführt werden?
Eine andere Baustelle der Versorgung sind die Notaufnahmen.
Ja, wir sehen, dass viele Menschen in Notaufnahmen landen, die dort aus medizinischer Perspektive nicht hingehören – dadurch gehen Ressourcen verloren. Das passiert häufig, weil Ärzt:innen nicht ansprechbar sind, weil man eine Servicementalität gewohnt ist oder weil die Notaufnahme sowieso gleich nebenan ist. Das läuft aktuell relativ ungesteuert und viele landen an der falschen Stelle. Dadurch gehen wertvolle Zeit und Ressourcen verloren.
Ideal wäre es, wenn die Patient:innen mit einer intelligenteren Patient:innensteuerung in die richtige Versorgungsstruktur geleitet würden – da kommen auch digitale Lösungen und KI infrage. Ein erster Schritt wurde mit der elektronischen Patientenakte gemacht. Hier erhofft man sich, dass damit Doppeluntersuchungen vermieden werden können. Ebenso wird gerade stark das Primärärzte-System diskutiert. Mit den Hausärzt:innen als erste Ansprechperson und als Gatekeeper, die die Patient:innen dann den richtigen Fachärzt:innen zuweisen. Zum Teil ist das als hausarztzentrierte Versorgung in Deutschland schon etabliert.
Claudia Czernik ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Öffentliche Gesundheit, Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (ZEGV), Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, TU Dresden. Sie forscht zu den Themen Gesundheit in allen Politikfeldern, Gesundheitsförderung und Verhältnisprävention sowie soziale Determinanten von Gesundheit. Claudia Czernik nennt sich Public Health Enthusiastin, ist Podcast-Host und gelernte Physiotherapeutin. Zudem lehrt sie im Bachelorstudiengang „Interprofessionelle Gesundheitsversorgung online“ an der Alice Salomon Hochschule Berlin.
Auch die gegenwärtige und zukünftige Finanzierung des Gesundheitssystems ist eine Herausforderung.
Ja, hier stellt sich die Frage - welche Anreizsysteme haben die Leistungserbringenden? Das ist etwas paradox im Gesundheitssystem: Es funktioniert quasi in einer Marktlogik, aber in Wirklichkeit ist es ein verzerrter Markt. Eigentlich müsste mein Anspruch als Physiotherapeutin oder Ärztin sein, so wenige Patient:innen wie möglich zu haben. Aber dadurch, dass im ambulanten Bereich die Praxisinhabenden alle auch kleine Wirtschaftsunternehmen sind, geht es auch um die Frage: Wie ist mein Kalender möglichst voll? Das schafft wieder andere Anreize, weil dann zum Beispiel Patient:innen immer wieder einbestellt werden. Auch deshalb befassen wir uns in der Versorgungsforschung mit der Frage nach alternativen Vergütungssystemen.
Welche Systeme wären da denkbar?
Da gibt es beispielweise „Value Based Health Care“ (VBHC): Hier wird der messbare Patient:innen-Nutzen in den Vordergrund gestellt und Vergütungsmodelle werden dahingehend konzipiert. Ein Ansatz daraus sind „Gesundheitsbudgets“: Man stellt einer Region oder einer Anzahl von Ärzt:innen ein bestimmtes Budget zur Verfügung und mit diesem Budget müssen sie dann auskommen. Salopp gesagt: Wenn sie heute alle Patient:innen gesund machen, dann können sie das Budget für sich nutzen und die restlichen 29 Tage des Monats Urlaub machen. Dieser Ansatz hinterfragt unser aktuelles finanzielles Anreizsystem: Stellt dieses System wirklich die Patientin in den Vordergrund oder welche anderen Logiken spielen dabei noch eine Rolle?
Wurde ein solch alternatives Finanzierungssystem schon einmal erprobt?
Im Modellprojekt „Gesundes Kinzigtal“ wurde ein Konzept getestet, das der Idee der „Value Based Health Care“ ähnelt. Außerdem bietet die TU Berlin jedes Jahr im Herbst einen Intensivkurs zum Thema VBHC an, aus dem schon viele Projektideen entstanden sind. Aber weil das ganze Gesundheitssystem auf dem aktuellen Finanzierungsmodell fußt, ist es schwierig, alles umzustoßen. Es gibt Ansätze – bei der Krankenhausreform wurde versucht, mit den Vorhaltepauschalen den wirtschaftlichen Druck etwas herauszunehmen. Aber auch das wird kontrovers diskutiert. Solange Krankenhäuser und Arztpraxen wirtschaftlich agierende Unternehmen sind, bleibt dieser Druck grundsätzlich erhalten. Auf der anderen Seite muss aber auch sichergestellt werden, dass die Leistungen effizient erbracht werden, um die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlbar zu halten. Keine einfache Aufgabe.
Ein anderer Ansatzpunkt ist die Krankheitsprävention.
Ja, dazu gibt es unterschiedliche Untersuchungen, circa 80 Prozent der Gesundheit, der Gesunderhaltung passieren außerhalb des Gesundheitswesens. Manche Schätzungen gehen sogar noch höher. Man denkt, für die eigene Gesundheit ist das Gesundheitssystem verantwortlich, aber mit Blick auf das alltägliche Leben: Ob eine große Straße vor meiner Tür gebaut wird, wie die Luftschadstoffbelastungsgrenzwerte dort sind, ob die Wandfarbe geprüft ist - das sind viele politische Entscheidungen, die Einfluss auf die individuelle Gesundheit haben. Dazu kommen die Verhältnisse, in denen ich groß werde und lebe: Gibt es finanzielle Stressoren, gibt es Gewalt, gibt es Sprachbarrieren, gibt es kulturelle Unterschiede, das beeinflusst das eigene Verhalten und die eigene Gesundheit. Bei chronischen Erkrankungen, die man im Laufe des Lebens entwickelt sind viele präventabel, wie Adipositas, verschiedene Krebserkrankungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen - wenn man sich viel bewegt, gesund ernährt und nicht raucht, kann man sie ein Stück weit verhindern.
Wie könnte man diesem ganzheitlichen Blick auf Gesundheit in der medizinischen Versorgung Rechnung tragen?
Eine aus meiner Sicht sehr gute Idee ist das Social Prescribing, sozusagen soziales Miteinander auf Rezept. Die Idee kommt ursprünglich aus England, es geht darum, soziale Kontakte oder soziales Engagement zu verschreiben. Der Fokus liegt auf einer gesundheitsförderlichen Perspektive: Was macht die Menschen krank, was macht sie unzufrieden und was lässt sie die Schmerzen spüren? Denn wir wissen, dass Schmerz viele Ursachen im psychosozialen Bereich haben kann. Auch für das Social Prescribing gibt es Modellprojekte, fraglich ist aber, wie die Finanzierung umzusetzen ist. Die Krankenkassen werden ja zu Recht sagen – warum soll ich für das Nachbarschaftscafé bezahlen? Hier kommen wir wieder zur Frage der Finanzierungslogiken.
Wie sieht dann aus Ihrer Sicht das Gesundheitssystem der Zukunft aus?
Mit Blick auf den demografischen Wandel wird die Pflege das zentrale Thema sein und bleiben. Wie lässt sich das personell und finanziell stemmen? Ich plädiere dafür, dass man den Pflegenden gemäß ihrer Kompetenz mehr Tätigkeitsbereiche zugesteht und dass man die Kontaktzeiten zwischen Patient:in und medizinischem Personal optimal nutzt. In finanzieller Hinsicht müssen wir uns überlegen, welche Leistungen ein Standard sind, den wir in den nächsten Jahren noch halten können. Außerdem wird es auch darum gehen, welchen Einfluss KI und personalisierte Medizin haben könnten.
Ich bin allerdings pessimistisch, dass das Gesundheitssystem das allein stemmen kann. Wir brauchen Versorgungszentren und Nachbarschaftshilfen und müssen Netzwerke aufbauen, im urbanen und im ländlichen Raum. Wir haben heute andere Familienstrukturen – das ist an sich nicht schlecht, aber es braucht kluge Lösungen, um die neuen Sozialstrukturen gut zu nutzen. (Weitere Informationen dazu finden sich im Bericht „Lokale Gesundheitsversorgung neu denken“)
Prinzipiell möchte ich aber sagen – Deutschland ist gar nicht so schlecht aufgestellt. Und es gibt viele gute Konzepte für sinnvolle Reformen des Gesundheitssystems. Die größte Hürde ist allerdings hier, dass es im Gesundheitswesen so viele unterschiedliche Akteure gibt, die gegeneinander kämpfen und ihren Besitzstand wahren wollen. Ich würde mir wünschen, dass wir uns da gemeinsam mehr auf das Wohl der Patient:innen konzentrieren.
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