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Arbeit | 21. August 2025 | Bericht von Hanna Fath | Lesezeit: 6 Minuten
Auf der Hamburger Elbinsel Veddel weideten früher einmal Kühe, vor gut 100 Jahren warteten viele Auswanderer in großen Hallen auf die Überfahrt nach Amerika. Heute leben hier 4700 Menschen aus 50 Nationen. Umrandet von Bahngleisen und Autobahnen, geprägt von der Industrie, die hier angesiedelt ist, zählt die Veddel zu den ärmsten Stadtteilen Hamburgs – und ist strukturell unterversorgt. „Als Erstversorgung gibt es eigentlich nur uns, die Poliklinik. Es gibt nur einen Einkaufsmarkt, sonst nichts. Die Menschen hier haben eine geringere Lebenserwartung, unter anderem weil die Luftqualität wegen der ganzen Industrie um uns herum so schlecht ist“, beschreibt Laura Pietrowski den Stadtteil. Sie ist eine der drei Sozialarbeiter:innen in der Poliklinik Veddel.
Das soziale Stadtteil-Gesundheitszentrum verteilt sich auf drei Standorte. Hier gibt es eine allgemeinärztliche Versorgung, eine Sozial- und Gesundheitsberatung, eine Psychologische Beratung und Hebammenversorgung. Betrieben wird die Poliklinik von einem multiprofessionellen Team aus circa 35 Personen aus den Berufsfeldern Soziale Arbeit, Pflege, Medizin, Gesundheitswissenschaften, Jura, Sozialpädagogik und Psychologie. Das Team ist davon überzeugt: Politische und soziale Faktoren wie Mietsteigerungen, geringes Einkommen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Rassismus oder Altersarmut beeinflussen die Gesundheit nachweislich stärker als die Qualität der medizinischen Versorgung allein – deshalb setzen sie an beiden Bereichen an.
Ärzt:innen und Sozialarbeiter:innen arbeiten Tür an Tür
Laura Pietrowski und ihre Kolleg:innen erfassen den sozialen Kontext der Menschen und achten auf belastende Faktoren, wie Konflikte mit einer Wohnungsgesellschaft, schlechte Arbeitsbedingungen in lokalen Firmen, drohenden Arbeitsplatzverlust, Hitzezonen, Barrieren, fehlende Infrastruktur, Lärm oder Luftverschmutzung. Tür an Tür arbeiten Ärzt:innen und Sozialarbeiter:innen hier zusammen. „Das läuft alles sehr verzahnt“, beschreibt Pietrowski ihre Arbeit, wenn sie beispielsweise mit einer Patientin zusammen einen Reha-Antrag ausfüllt, nachdem die Hausärztin die Reha empfohlen hat. Die Termine in Sozialberatung und Praxis werden so vereinbart, dass sich die Menschen doppelte Anfahrtswege sparen. „Die Menschen auf der Veddel kennen uns. Wenn man sich auf der Straße begegnet, grüßt man sich. Durch die verschiedenen Standorte haben wir einen hohen Bekanntheitsgrad. Die Leute vertrauen uns und sind dankbar, uns zu haben“, weiß Laura Pietrowski, die mit ihrer Arbeit auch nachbarschaftliche Solidarität stärken und erfahrbar machen will.
Verband der solidarischen Gesundheitszentren
In einer Dachstruktur, dem Poliklinik Syndikat – Verband der solidarischen Gesundheitszentren, schließen sich die Projektgruppen auf Bundesebene zusammen. In Berlin, Dresden, Köln, Jena, Freiburg und einigen anderen Städten gibt es Gruppen, die sich den Aufbau und den Betrieb solidarischer Gesundheitszentren zur Aufgabe gemacht haben. Das Syndikat versteht sich als Organisation, die neue Gruppen beim Aufbau neuer Gesundheitskollektive unterstützt. Im Kern geht es allen Gesundheitskollektiven um den Fokus auf Prävention, um Empowerment – sie verstehen sich als Verbündete in sozialen Kämpfen gegen die Marginalisierung von Communities – und um Multiprofessionalität. Im VORAN-Interview berichtet die Gesundheitswissenschaftlerin Claudia Czernik über kluge Patient:innensteuerung, alternative Finanzierungsmodelle und ganzheitliche Prävention.
Lotsen durch das Gesundheitssystem
Ein konkreter Baustein dieses multiprofessionellen Ansatzes sind die Community Health Nurses. Ein Berufsbild, das sich in Kanada oder Finnland bereits bewährt hat. Community Health Nurses (CHN) sind akademisch qualifizierte pflegerische Ansprechpartner:innen, die beraten, Patient:innen bei chronischen Erkrankungen begleiten, Routineuntersuchungen übernehmen, Gesundheitskompetenz vermitteln und die einzelnen Therapieschritte gemeinsam mit den Patient:innen managen. In der Poliklinik Veddel arbeiten drei CHN. „Sie versuchen, die Lücke aufzufangen, die zwischen der Diagnose der Ärztin und der Behandlung und medikamentösen Versorgung entsteht. Die Community Health Nurses erläutern das Krankheitsbild, machen viele Hausbesuche, bieten Diabetes-Sprechstunden an und beraten, was gemacht werden kann und muss“, beschreibt Pietrowski die Tätigkeit ihrer Kolleg:innen.
Diese neue Lotsenrolle ist ein Konzept, der Fragmentierung des Gesundheitssystems zu begegnen. Matthias Gruhl, Mediziner und ehemaliger Staatsrat der Hamburger Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz, würde sie noch lieber ganz überwinden und plädiert für eine sektorübergreifende Medizin. Historisch gewachsen, ist das Gesundheitssystem in Deutschland in verschiedene Versorgungsstufen unterteilt: Von der Hausarztpraxis bis zur Universitätsmedizin, im Nebeneinander unterschiedlichster ambulanter und stationärer Angebote. „Zwischen diesen Ebenen herrscht ein großer Wettbewerb, es gibt wenige Schnittstellen“, so Gruhl. Dabei würden Ressourcen teils nicht optimal genutzt und Patient:innen sehen sich mit einem Labyrinth an Ansprechpartner:innen konfrontiert. Gruhls Diagnose des Problems: Die Angst der einzelnen Akteure im Gesundheitssystem, im Kampf um Autorität, Macht und finanzielle Ressourcen etwas zu verlieren, sei systemprägend und reformverhindernd.
Der Mediziner erläutert den Bedarf einer sektorübergreifenden Versorgung am Beispiel von Krebspatienten, die im Laufe ihrer Krankheitsgeschichte auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Fachpersonen angewiesen sind – von der hausärztlichen Versorgung über Physiotherapie, Psychoonkologie, Pflegedienst, Chirurgie, in manchen Fällen Palliativversorgung. Dieses Management könne ein Hausarzt nicht übernehmen. Im Centrum für Integrierte Onkologie in Bonn fungieren Patientenlots:innen als eine solche Schnittstelle. Diese Konzepte werden in Modellprojekten getestet, aber häufig fehle die Anschlussfinanzierung und die Perspektive, in die Regelversorgung aufgenommen zu werden.
Konzept mit Zukunft?
Ob das Konzept des Stadtteilgesundheitszentrums, wie es in der Hamburger Veddel gelebt wird, in Zukunft Schule machen könnte, wird aktuell in einer Studie der Charité evaluiert. Das interprofessionelle, wohnartnahe Versorgungsmodell, das dabei getestet wird, basiert auf den Praxiserfahrungen der beiden Primärversorgungszentren Poliklinik Veddel in Hamburg und des Stadtteil-Gesundheits-Zentrums Neukölln in Berlin. Von April 2025 bis März 2027 werden insgesamt 580 Patient:innen diesen Versorgungspfad durchlaufen. In der Interventions- und Evaluationsphase wird untersucht, ob das Modell die Versorgungsqualität in Deutschland verbessert und wie sich die Kosten im Vergleich zur Regelversorgung entwickeln. Die wissenschaftliche Evaluation übernimmt die Universitätsmedizin Berlin. Ergebnisse werden im Oktober 2027 erwartet. Sie sollen darüber entscheiden, ob das Modell in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wird.
Aktuell stellt die Finanzierung solcher multiprofessionellen Zentren immer noch eine Herausforderung dar. Die Poliklinik Veddel rechnet die Versorgungsleistungen über die übernommenen Hausarztpraxen ab, die Löhne der Sozialarbeiter:innen werden durch Gelder der Hamburger Sozialbehörde bezahlt. Dazu kommen private Spenden und Gelder für die Realisierung der Charité-Studie, erklärt Laura Pietrowski. Dieses Finanzierungskonzept bedarf eines langen Atems und viel Engagements – bedeutet aber auch Unabhängigkeit. Die Gesundheitszentren des Poliklinik-Syndikats wollen transparent und gemeinnützig wirtschaften und nicht von Gewinninteressen gelenkt oder wie kommunale Versorgungszentren von politischen Konjunkturen abhängig sein.
Bislang bilden die solidarischen Gesundheitszentren kleine Inseln im Gesundheitssystem, Inseln „die das Leben der Menschen in den jeweiligen Stadtteilen besser machen“, aber in den Augen von Laura Pietrowski handelt es sich letztlich um Symptombekämpfung. Deshalb auch die Vernetzung in der bundesweiten Struktur – das Team der Poliklinik Veddel arbeitet auf eine Verbreitung der Idee hin, die der Ökonomisierung des ambulanten Bereichs entgegenwirken kann und die sozialen Determinanten von Gesundheit anerkennt.
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